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Wettrennen um KI: Chinas Volksbefreiungsarmee und die NATO

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Die vorliegende Analyse befasst sich mit den transformativen Strategien der chinesischen Volksbefreiungsarmee (VBA) bei der Integration von Künstlicher Intelligenz (KI) in ihre See- und Luftverteidigung und reflektiert den Wandel hin zu einer "intelligenten Kriegsführung", wie er in Chinas Verteidigungsweißbuch 2019 umrissen wird. Insbesondere geht es um die Priorisierung der VBA auf KI-gesteuerte Waffen und Technologien zur Verbesserung der Luftverteidigung und Küstensicherheit, die traditionelle militärische Ansätze durch erhöhte Effizienz, Anpassungsfähigkeit und Entscheidungsfindung in Echtzeit neu definieren. Darüber hinaus werden die KI-Anwendungen der VBA in der Cyberkriegsführung untersucht, wobei der Schwerpunkt auf dem Wechsel von reaktiver Verteidigung zu proaktiver Bedrohungserkennung und Gegenmaßnahmen liegt. Der Artikel unterstreicht die strategische Ausrichtung der VBA auf die Nutzung von KI für Cybersicherheit und Informationskriegsführung sowie den Aufbau eines Innovationsökosystems zivil-militärischer Zusammenarbeit zugunsten technologischen Fortschritts. Im Gegensatz zu Chinas Fortschritten wird in dem Papier auch die 2021 verabschiedete KI-Strategie der NATO analysiert, die den Schwerpunkt auf eine verantwortungsvolle KI-Entwicklung, verbesserte Interoperabilität, einen wachsamen Schutz von KI-Technologien und den Schutz vor böswilliger KI-Nutzung legt.

In der Studie wird hervorgehoben, dass die NATO diese KI-gesteuerten Strategien dringend erkennen und sich mit ihnen auseinandersetzen muss, um ihre Interessen zu schützen und einen strategischen Vorteil in der indopazifischen Region aufrechtzuerhalten, insbesondere angesichts der selbstbewussten militärischen Expansion Chinas und der Bedeutung des Südchinesischen Meeres für den globalen Handel. Das Papier schließt mit der Feststellung, dass das Verständnis und die Bekämpfung dieser technologischen Fortschritte für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts und die Sicherung von Frieden und Stabilität in der Region entscheidend sind.

Hintergrund: Die NATO und die wachsende Rolle Chinas und des indopazifischen Raums

In der dynamischen Landschaft globaler Geopolitik ist die indopazifische Region aufgrund des aufstrebenden Chinas zunehmend zu einem zentralen Anliegen der NATO geworden. Die maritime Landschaft des indopazifischen Raums, die durch zahlreiche territoriale Streitigkeiten und den wachsenden Einfluss Pekings gekennzeichnet ist, stellt kein isoliertes asiatisches Dilemma dar. Von den geschäftigen Häfen Taipehs zur geopolitisch aufgeladenen Taiwanstraße und strategischen Knotenpunkten wie der Straße von Malakka und dem Südchinesischen Meer spielt dieses Gewässer eine entscheidende Rolle im globalen Handel. Jede Störung seiner Stabilität hat potenzielle Auswirkungen auf die ganze Welt. Abgesehen von den offensichtlichen wirtschaftlichen Erwägungen sind diese Seewege anfällig für Chinas aggressive Gebietsansprüche, maritime Militäraktivitäten und Grauzonenoperationen und bieten ein wachsendes Potenzial für militärische Konflikte.

Das Tempo, mit dem sich die Sichtweise der NATO auf China verändert hat, ist sowohl schnell als auch bedeutend. Das Bündnis, das sich in der Vergangenheit auf nordatlantische Angelegenheiten konzentrierte, hat seinen strategischen Fokus grundlegend geändert. Ende 2019 begannen die führenden Vertreter der NATO, öffentlich ihre Besorgnis über China zum Ausdruck zu bringen. Dieser Eindruck wurde in den folgenden Jahren noch verstärkt, und im Strategischen Konzept der NATO 2022 wird China besonders hervorgehoben. Die zunehmende Besorgnis der NATO beruht auf den offenkundigen Ambitionen Pekings, seiner aggressiven Politik, seiner militärischen Aufrüstung und seinem Geschick bei wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen. Infolgedessen haben die vier asiatisch-pazifischen Staaten -- Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan -- im Juli 2023 zum zweiten Mal in Folge ihre Teilnahme am NATO-Gipfel angekündigt. Solche Engagements unterstreichen eine Tatsache: Die Probleme des indopazifischen Raums gehen über seine geografischen Grenzen hinaus und haben globale Auswirkungen.

Darüber hinaus sind viele Europäische Staaten angesichts des verstärkten Engagements Chinas in Russland, das Putins ungerechtfertigte Invasion in der Ukraine im Jahr 2022 unterstützte, in höchster Alarmbereitschaft wegen potentieller Auswirkungen auf sie selbst. In seiner jüngsten China-Strategie erkennt Berlin an, dass "Chinas Entscheidung, das Verhältnis zu Russland auszubauen, [ist] für Deutschland von unmittelbarer sicherheitspolitischer Bedeutung" ist. Als Reaktion wird Deutschland laut eigener Ankündigung seine militärische Zusammenarbeit mit Partnern im indopazifischen Raum ausbauen und zum ersten Mal Truppen zur Teilnahme an einer gemeinsamen Militärübung in Australien entsenden. Deutschlands Fokus auf den indopazifischen Raum und seine klare Aufforderung zum Handeln zeigen, dass Berlin die von China verursachten Herausforderungen in der Region erkannt hat.

Nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine kam es zu einem dramatischen Anstieg der Cyberangriffe auf NATO-Mitgliedstaaten um 116 %, die auf chinesische IP-Adressen zurückgeführt werden konnten.

Unterdessen äußerte sich die NATO auch besorgt über die wachsende strategische Partnerschaft zwischen China und Russland sowie über neue Bedrohungen aus dem Cyberbereich. Nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine kam es zu einem dramatischen Anstieg der Cyberangriffe auf NATO-Mitgliedstaaten um 116 %, die auf chinesische IP-Adressen zurückgeführt werden konnten. Zwar haben NATO-Beamte potenzielle Angreifer gewarnt, dass ein Cyberangriff auf einen NATO-Mitgliedstaat Artikel 5 des Nordatlantikvertrags auslösen könnte, die Klausel zur kollektiven Verteidigung.  Die genauen Hintergründe dieser Cyberangriffe sind nach wie vor umstritten und bedürfen weiterer Untersuchungen. Es ist jedoch offensichtlich, dass die NATO die besorgniserregenden chinesischen Cyberkapazitäten erkannt hat und sich den USA anschließt, die China in den letzten Jahren wegen staatlich geförderter Cyberangriffe anprangern.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die NATO und ihre wichtigsten Mitgliedstaaten angesichts der anhaltenden Verschiebung der globalen Machtdynamik ihr strategisches Augenmerk zunehmend auf China und den indopazifischen Raum im weiteren Sinne gerichtet haben. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Artikel erörtert, wie die Volksbefreiungsarmee (VBA) künstliche Intelligenz (KI) einsetzt, um ihre Cyberfähigkeiten und ihre C4ISR-Strategie (Führung, Information, Kommunikation, Computersysteme, Nachrichtenwesen, Überwachung und Aufklärung) im maritimen und im Luftbereich zu verbessern. In dem Artikel werden auch die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die Reaktion der NATO auf neue Bedrohungen untersucht.

KI-Strategien Chinas und KI-Fortschritte in der See- und Luftverteidigung der VBA

Chinas Verteidigungsweißbuch für 2019 skizziert einen grundlegenden Wandel in der modernen Kriegsführung. Das Weißbuch erklärt, dass die Kriegsführung nicht mehr nur "informatisiert" ist, sondern sich vielmehr im Bereich der "intelligenten Kriegsführung" weiterentwickelt. Dieser Gedanke bezüglich der "Form des Krieges" (战争形态) unterstreicht, dass sich tatsächlich die Art des Krieges selbst verändert: sie geht von der für das Informationszeitalter charakteristischen Kriegsführung -- der informatisierten Kriegsführung -- zur nächsten Phase über, die von intelligenten Systemen und künstlicher Intelligenz angetrieben wird. Die Vision von Präsident Xi Jinping ist klar: Die VBA soll rasch zu einer weltweit wettbewerbsfähigen Streitmacht werden, nicht nur in Bezug auf die traditionelle militärische Ausrüstung, sondern auch in Bezug auf die technologische Raffinesse. Die Intelligentisierung" (智能化) stellt KI-gesteuerte Waffen in den Mittelpunkt von Chinas Verteidigungsambitionen. Die Konvergenz der "drei Organisationen" (三化) -- Mechanisierung, Informatisierung und Intelligenzisierung -- bedeutet eine entscheidende Entwicklung in der Militärdoktrin der VBA, in deren Mittelpunkt die KI steht.

Darüber hinaus ist die Nutzung der transformativen Fähigkeiten der KI sowohl im Luft- als auch im Seebereich ein Schwerpunkt für die VBA. Nach den Erkenntnissen von VBA-Experten und Analysten hat dieser Übergang das Potenzial, die militärische Dynamik erheblich zu verändern. Traditionell stützte sich die Luftverteidigung auf menschliche Entscheidungen und Radarsysteme, um Bedrohungen zu erkennen und abzuwehren. Experten der VBA und ihre Beobachtungen deuten jedoch darauf hin, dass die Integration von KI in die Luftverteidigung die Effizienz und Genauigkeit dieser Operationen erheblich verbessern kann. Im Gegensatz zu manuellen Eingriffen, die anfällig für menschliche Fehler sind, bietet KI unmittelbare Anpassungsfähigkeit. Es wird angenommen, dass die hochentwickelten Algorithmen der VBA besonders gut in der Lage sind, die Satellitenkoordination zu optimieren, eine effiziente Kommunikation sicherzustellen und weltraumgestützte Mittel zu verwalten (天基资产). [1]  Darüber hinaus argumentieren chinesische Experten, dass die Fähigkeit der KI zur Analyse von Kommunikationsmustern potenzielle Störungen vorhersehen und die Zuverlässigkeit der Kommunikation für die Überwachung, die Koordinierung von Waffensystemen und für plattformübergreifende Echtzeitoperationen verbessern könnte. [2]

Darüber hinaus bezeichneten die VBA-Experten Daten als das "Blut" der KI und als das Herzstück dieser transformativen Phase. Angehörige der VBA betonen außerdem, dass authentische Daten über die Gegner die Grundlage für die Verfeinerung von Kampfprinzipien bilden sollen. Die USA haben bereits Erfahrungen darin gesammelt, Daten aus verschiedenen Quellen zusammen zu führen um natürliche Interferenzen heraus zu filtern. Die Lehren aus den Erfahrungen der USA stoßen innerhalb der Experten-Community der VBA auf großes Interesse. Das ultimative Ziel, wie es sich viele in der VBA vorstellen, ist eine nahtlose Verschmelzung der Computerfähigkeiten der KI mit der menschlichen Kontrolle.

Andererseits erfordert Chinas ausgedehnte Küstenlinie mit ihren inhärenten Sicherheitsrisiken seit langem umfangreiche Investitionen in Personal und Ressourcen für die Überwachung. Die KI-Revolution könnte die Strategien für die Küstenverteidigung neu definieren, so die VBA-Experten. Der Einsatz von KI bietet das Potenzial für eine unbemannte Überwachung rund um die Uhr, intelligente Datenerfassung und für Bedrohungsanalysen in Echtzeit. Der Einsatz von unbemannten Radargeräten, Drohnen und autonomen Unterwasserfahrzeugen könnte der VBA den Weg zu den vollständig automatisierten Patrouillen ebnen. [3] Dieser KI-gestützte Ansatz, der sich an der Doktrin von Präsident Xi Jinping orientiert, die Kriegsführung „intelligenter“ zu gestalten, könnte den Austausch von Informationen in Echtzeit und eine verbesserte Entscheidungsfindung bei Küstenoperationen in mehreren Gebieten zwischen verschiedenen Streitkräften ermöglichen. Der Ansatz eröffnet auch die Möglichkeit, Ereignisse auf einem Schlachtfeld in Echtzeit zu analysieren, anstatt wie bisher erst im Nachhinein eine Bewertung durchführen zu können. Ihr Ziel ist es, nicht nur zu reagieren, sondern sich schnell durch extrem verfeinerte automatisierte Entscheidungen anzupassen, und zwar mit einer Geschwindigkeit und in einem Umfang, der weit über das hinausgeht, was Menschen an Befehlen ausführen können. [4] Das neue Konzept zur Kriegsführung ist nach der Ansicht von VBA-Analysten nicht nur reaktiv, sondern auch proaktiv und passt sich ständig an neue Gegebenheiten an.

Die VBA dehnt den eigenen Einfluss im Südchinesischen Meer selbstbewusst aus. Das zeigt sich unter anderem darin, dass China künstliche Inseln aufschüttet, die sogenannte „Neun-Striche-Linie“ im Südchinesischen Meer durchsetzt  und Fischereiaktivitäten ASEAN-Staaten behindert oder sogar vereitelt. Für alle diese Aktivitäten bietet der KI-gestützte Ansatz strategische Vorteile, die weiter genutzt werden könnten. Die geografische Präsenz Chinas erleichtert den nahtlosen Einsatz von unbemannten Unterwasser- und Luftfahrzeugen sowie die Installation von Sensoren auf diesen Inseln. Damit können die C4ISR-Fähigkeiten der VBA verbessert, das Situationsbewusstsein erhöht und der plattformübergreifende Informationsaustausch und die Entscheidungsfindung zu erleichtert werden. Noch bedenklicher ist die Tatsache, dass dieser Vorstoß der VBA die Möglichkeit bietet, ihr integriertes Luftverteidigungssystem (IADS) auszubauen. Dies könnte möglicherweise dazu führen, dass die VBA ihre Fähigkeiten im Bereich Anti-Access/Area-Denial  (A2/AD) und der U-Boot-Bekämpfung (ASW) ausweitet. Das wiederum würde ein erhebliches Risiko für die Freiheit der Schifffahrt und Nutzung der Seewege durch die mit den USA verbündeten Nationen darstellen.

Es ist außerdem erwähnenswert, dass sich die operative Dynamik der VBA-Küstenverteidigungsstrategie verändert. Strategen und Analysten der VBA heben den möglichen Wechsel des Modus Operandi von "Grenzaufklärung mit anschließender Kontrolle" (前侦后控) hin zu einem eher unmittelbaren "Aufspüren und Angreifen" (侦打一体). Diese Entwicklung impliziert den Einsatz von KI-gesteuerten Drohnen, die in der Lage sind, Angriffsformationen selbstständig zu optimieren.  KI hat die Reaktionszeiten bei militärischen Operationen verkürzt. Die Verteidigungstaktiken der VBA entwickeln sich beständig weiter. Diese Entwicklungen haben das Potenzial, sowohl die Interessen der NATO-Mitgliedstaaten als auch die Stabilität ihrer Lieferketten im Indo-Pazifik herauszufordern.

China ist zwar der größte Handelspartner der Europäischen Union, aber es ist wichtig zu erkennen, dass eine beträchtliche Anzahl dieser Handelstransaktionen sowohl über See- als auch über Luftwege abgewickelt wird, die für Chinas zunehmende Machtprojektion anfällig sein können. So führen durch das Südchinesische Meer beispielsweise verschiedene wichtige Handelsroute für mehrere EU-Mitgliedstaaten, die auch der NATO angehören. Die Sicherung dieser Handelsrouten liegt daher im Interesse der NATO-Mitgliedstaaten, da ein dortiger Konflikt sich auf das wirtschaftliche Wachstum des Bündnisses auswirken würde. Darüber hinaus sind diese See- und Luftrouten im Südchinesischen Meer auch anfällig für mögliche künftige militärische Operationen oder Grauzonenoperationen der VBA. Die NATO engagiert sich für eine regalbasierte Internationale Ordnung. Die Erhaltung von Frieden und Stabilität in dieser Region ist daher ein zentrales Interesse des Bündnisses um globale Normen zu wahren. Darüber hinaus haben die NATO-Mitgliedstaaten zunehmend starke Bündnisse mit Staaten des Indo-Pazifiks geschlossen, z.B. mit Australien, Japan, Neuseeland und der Republik Korea. Diese werden zusammen als die Indo-Pazifischen Vier (IP4) bezeichnet. Solche Partnerschaften, die im Laufe der Jahre aufgrund der strategischen Herausforderungen durch ein aggressiveres China und andere globale Fragen gestärkt wurden, machen deutlich, wie wichtig die strategische Positionierung der NATO für die Gewährleistung der Sicherheit dieser gleichgesinnten Verbündeten ist. Jede Störung im Indo-Pazifik kann sich indirekt auf die Interessen und Verpflichtungen der NATO auswirken. Daher ist es für die NATO von entscheidender Bedeutung, sich auf mögliche Eventualitäten vorzubereiten und ihren militärischen und technologischen Vorsprung gegenüber allen Gegnern zu wahren, die ihre Werte und Interessen direkt oder indirekt in Frage stellen könnten.

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KI-Anwendung in der Entwicklung der Cyberkriegsführung der VBA

Im digitalen Zeitalter ist das Sprichwort "Technologie formt Taktik" von großer Bedeutung, und die VBA erkennt die tiefgreifenden Auswirkungen der KI auf die Cyberkriegsführung an. Im komplexen Bereich des digitalen Konflikts erweist sich KI als transformative Kraft, die die Struktur von Cyberangriff und der -verteidigung neu definiert. Die Vorteile von autonomen und schnellen KI-gesteuerten Netzwerkwaffensystemen werden diesen Bereich prägen und das Tempo von Cyber-Angriffen auf unglaublich schnelle Zeitskalen beschleunigen.  Das ist eine revolutionäre Veränderung: Cyberangriffe, die früher durch menschliche Einschränkungen begrenzt waren, könnten sich nun in "Maschinengeschwindigkeit" (机器速度) entfalten.

Die Erkenntnis, dass das Potenzial der KI in der Cyber-Kriegsführung über die reaktive Verteidigung hinausgeht, ist zentral für die Vision der VBA. Die Fähigkeit von KI, Frühwarnsysteme in der Cyberkriegsführung zu unterstützen, ist ganz entscheidend. Wenn die rechnerischen Stärken der KI mit umfangreichen Datenströmen kombiniert werden, dann kann ein robustes System für "Cybersicherheits-Situationsbewusstsein und Frühwarnung" geschaffen werden. [5] Dieses geplante System würde nicht nur auf Bedrohungen reagieren, sondern sie auch vorhersehen. Die VBA plant, eine präemptive Verteidigung aufzubauen und Bedrohungen zu erkennen und abzuwehren, noch bevor sie sich voll entfalten. Dazu nutzt sie Maschine Learning für die "automatische Verarbeitung und Überwachung des Netzwerkverkehrs in Echtzeit" und den Einsatz "intelligenter Modelle zur Risikovorhersage". Mit Blick auf das Ziel der PLA, "Bedrohungen der Cybersicherheit schneller und umfassender zu erkennen", bedeuten solche Fortschritte einen seismischen Paradigmenwechsel in der Cyberverteidigung.

Auch das Tempo, in dem disruptive Technologien im Cyberraum modernisiert und iteriert werden, beschleunigt sich. Vor diesem Hintergrund argumentieren chinesische Experten, dass aufkommende technologische Faktoren wie Big Data und KI zunehmend eine Rolle bei der Verbreitung von Diskursen und der Steuerung der öffentlichen Meinung durch "Bot-Armeen" [6] spielen, was China offiziell als Informationskrieg bezeichnet. Peking braucht daher eine neue Generation von Netzwerk-Kommunikationstechnologie, um die Informationsübertragungs-Infrastruktur zu chinesisch zu machen und die Schwelle und Kosten von Angriffen auf soziale Netzwerke und für Cyberangriffe zu erhöhen. Durch KI-gesteuerte Cyberoperationen könnten der chinesische Geheimdienst und das United Front Department  die gegnerischen Methoden der Fernmeldeaufklärung und der politischen Kriegsführung schnell abfangen und kontern. Bereiche wie Kryptologie, Desinformationskampagnen und nachrichtendienstliche Analysen dürften für sie aus diesem Grund im Mittelpunkt stehen.

Chinesische Experten sind der Ansicht, dass der Westen gerade deshalb auf seine Cyber-Hegemonie bauen könne, um technologische und soziale Netzwerkangriffe durchzuführen, weil er über eine vollständige und ausgereifte Cyber-Infrastruktur verfüge. Diese Experten hoffen, dass sie dank künstlicher Intelligenz immersive externe Propaganda und interne Leitlinien realisieren oder sogar das Metaversum nutzen können, um das chinesische Narrativ zu unterstützen. Chinas Priorität ist es, das Terrain der internationalen Kommunikation zu erobern, das westliche Diskursmonopol zu brechen und die Cybertechnologie sowohl angriffs- als auch verteidigungsfähig zu machen. Der technologische Aspekt ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Das Fundament dieser Vision bildet ein Ansatz, der sowohl ziviles als auch militärisches Fachwissen nutzt. Selbstverständlich lässt sich dies ohne eine solide Forschungs- und Entwicklungsstrategie und ohne eine große Anzahl von Talenten nicht leicht bewerkstelligen. Daher bietet der Bereich der Cybersicherheit Möglichkeiten für Synergien:  Peking bezeichnet diesen Bereich als militärische und zivile Fusion (MCF), das bedeutet dass hier Ressourcen und Innovationen aus dem privaten Sektor in die militärische Entwicklung einfließen können. Die Nutzung der Talentpools lokaler Cybersicherheitsanbieter, Universitäten und Forschungsinstitute kann der VBA einen Vorteil verschaffen, indem sie die militärische Strategie mit ziviler Innovation verbindet. Indem sie sich auf den Aufbau eines "KI-Talentteams" und die Förderung eines "innovativen Cyber-Talent-Ökosystems" konzentriert, erkennt die VBA an, dass auch im Zeitalter der KI das menschliche Fachwissen an erster Stelle bleibt. Die VBA stützt sich sowohl auf einheimische Fachleute als auch auf internationale KI-Koryphäen und versucht so, ein Ökosystem zu schaffen, in dem Innovation gedeiht und  mit dem sie alle Mächte und Militärbündnisse, einschließlich der USA und der NATO, übertrumpfen kann.

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Die KI-Strategie der NATO

Was die KI-Strategie der NATO betrifft, so haben die Verteidigungsminister des Bündnisses im Jahr 2021 offiziell eine Strategie für künstliche Intelligenz für das Bündnis verabschiedet. KI wird jeden Aspekt der Kernaufgaben der NATO, darunter die kollektive Verteidigung, das Krisenmanagement und die kooperative Sicherheit, berühren. Daher stützt sich die Strategie des Bündnisses auf die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, um ein gemeinsames Vorgehen bei der Nutzung von und der Verteidigung gegen KI-Fähigkeiten zu gewährleisten. Die KI-Strategie der NATO hat eine vierfache Agenda: Sie soll die verantwortungsvolle Entwicklung von KI für den Verteidigungsbereich vorantreiben, die Einführung von KI im Hinblick auf eine verbesserte Interoperabilität beschleunigen, KI-Technologien wachsam schützen und die Grundsätze eines verantwortungsvollen Einsatzes aufrechterhalten sowie vor böswilligem KI-Einsatz schützen. Eines der wichtigsten Ziele ist es, den technologischen Vorsprung der NATO zu wahren, und zu gewährleisten, dass die Integration von KI die Kernaufgaben des Bündnisses verantwortungsvoll unterstützt. Der Defense Innovation Accelerator for the North Atlantic (DIANA), eine Einrichtung mit Dutzenden von Standorten und Testzentren zur Lösung kritischer Sicherheitsfragen, sowie die Zusammenarbeit mit dem Privatsektor und der Wissenschaft unterstützen gemeinsam die Umsetzung der Strategie und stellen sicher, dass die NATO das wichtigste transatlantische Forum für KI im Verteidigungsbereich bleibt. Im Jahr 2022 hat die NATO-Organisation für Wissenschaft und Technologie (STO) zusammen mit der NATO-Agentur für Kommunikation und Information (NCI Agency) ebenfalls ein strategisches Projekt ins Leben gerufen, das sich auf KI konzentriert und deren potenzielle Auswirkungen auf den militärischen Bereich untersucht.

In Anbetracht der potenziellen Risiken betont die NATO zum richtigen Zeitpunkt wie wichtig es ist, Angriffe und Einmischung in die KI-Systeme des Bündnisses zu minimieren, die Technologie vor Ausbeutung zu schützen und strategische Kommunikationsmittel zur Bekämpfung von Desinformationskampagnen einzusetzen. Letztlich geht es bei der KI-Strategie der NATO nicht nur um die Einführung von Technologien, sondern auch um die Verpflichtung, den technologischen Vorsprung des Bündnisses in einem sich rasch entwickelnden Kampfgebiet beizubehalten und die kollektive Sicherheit angesichts neuartiger Bedrohungen zu gewährleisten.

Mit Blick auf die Ambitionen der VBA, in eine Zukunft vorzustoßen, in der sie mit "Maschinengeschwindigkeit" operiert, muss die NATO ihre KI- und China-Strategien überdenken und entsprechend anpassen.

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Sunny Cheung

Schlussfolgerung

Chinas zunehmende Stärke, insbesondere im Bereich der KI-Anwendungen bei Cyber- und C4ISR-Fähigkeiten, bedeutet angesichts der Abhängigkeit von China eine vielschichtige Herausforderung für den technologischen Vorsprung, die Sicherheit der Lieferketten und die wirtschaftlichen Interessen der NATO. Der methodische und strategische Einsatz von KI durch die VBA, bei dem technologische Innovation, zivil-militärische Synergien und ein starker Fokus auf den Erwerb von Talenten nahtlos ineinandergreifen, ist ein Beispiel für Chinas ganzheitlichen Ansatz der digitalen Kriegsführung. Dies ist besonders besorgniserregend, wenn man die erheblichen Investitionen Chinas in die KI-Entwicklung bedenkt, die dreimal so hoch sind wie diejenigen der USA. Die Tatsache, dass die USA, eines der führenden NATO-Mitglieder, bei der grundlegenden KI-Forschung hinter China zurückbleiben könnten, wie der ehemalige Software-Chef des Pentagon im Jahr 2021 warnte, verleiht dem Mandat der NATO eine zusätzliche Dringlichkeitsebene.

Dass die NATO Initiativen wie DIANA und den NATO-Innovationsfonds (NIF) ins Leben gerufen hat, widerspiegelt ihr Engagement für die Nutzung von Innovationen. Diese Initiativen, die mit der Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) der USA vergleichbar sind, zielen darauf ab, die Kluft zwischen dem kommerziellen und dem militärischen Sektor bei der Entwicklung neuer Dual-Use-Technologien zu überbrücken. Die jüngste Edge-Konferenz war ein weiteres Beispiel für die Entschlossenheit der NATO, beide Sektoren zur Bewältigung künftiger Herausforderungen zu integrieren. Die NATO muss die Rechenschaftspflicht fördern, den kommerziellen Sektor zur aktiven Zusammenarbeit auffordern und die Mitgliedsländer müssen ihre rechtlichen Rahmenbedingungen für KI anpassen, um flexibler zu sein. Die Investitionen, sowohl in intellektueller als auch in finanzieller Hinsicht, sollten optimal ausgerichtet werden, um die Vorherrschaft der NATO in der sich entwickelnden KI-Landschaft zu gewährleisten.

Darüber hinaus könnten übermäßige Vorschriften die NATO in ihren eigenen KI-Fortschritten einschränken. So könnte die Gefahr bestehen, dass die Fähigkeiten der Allianz hinter den sich rasch entwickelnden technologischen Innovationen der VBA zurückfallen. Deshalb kann eine fundierte Betrachtung der chinesischen KI-Strategien der NATO dabei helfen, eine wirksamere Antwort auf die KI-Fähigkeiten der VBA zu finden, insbesondere im Hinblick auf die Kampffähigkeit und die C4ISR-Fähigkeiten: Das gilt besonders, wenn die VBA-Missionen im indo-pazifischen Raum durchgeführt werden. Es ist für die NATO von entscheidender Bedeutung, die Echtzeitunterstützung für ihre Verbündeten im indopazifischen Raum zu verbessern. In China hat im indo-pazifischen Raum strategische Vorteile bei der Logistik und der Stationierung von Streitkräften, und genießt eine größere räumlichen Nähe zu und  zunehmenden Kontrolle über die See- und Luftgebiete an potenziellen Krisenherden wie dem Südchinesischen Meer und der Taiwanstraße ist Im weitläufigen Bereich der Cyberkriegsführung verfügt China über umfangreiche staatlich finanzierte Cybereinheiten, die NATO hat hier einen potenziellen zahlenmäßigen Nachteil gegenüber der Volksrepublik. Um zu vermeiden, dass die NATO überwältigt wird, muss sie sich nicht nur darauf konzentrieren, zahlenmäßig mit China gleichzuziehen, sondern auch ihre eigene Cyberqualität, ihre Widerstandsfähigkeit und ihre Reaktionsfähigkeit mithilfe von KI verbessern. Dadurch wird sichergestellt, dass die NATO in Krisenzeiten auf physischen und digitalen Schlachtfeldern eine mächtige und kampfbereite Streitkraft bleibt.

Im digitalen Zeitalter ist eine Ära angebrochen, in der Ströme von 0en und 1en sehr wohl über geopolitische Ergebnisse entscheiden können. Für die NATO ist es nicht nur eine Notwendigkeit, sondern absolut unabdingbar, solche Fortschritte zu verstehen, sich ihnen anzupassen und innovativ zu sein. Mit Blick auf die Ambitionen der VBA, in eine Zukunft vorzustoßen, in der sie mit "Maschinengeschwindigkeit" operiert, muss die NATO ihre KI- und China-Strategien überdenken und entsprechend anpassen. Während Chinas Dynamik im Bereich der KI beeindruckend ist, ist die NATO mit ihrem Erbe, ihrer Infrastruktur und ihrem Kooperationspotenzial gut aufgestellt, um diese Herausforderung zu bewältigen. Eine Mischung aus Dringlichkeit, Strategie und Partnerschaft wird über die Stellung des Bündnisses in der KI-getriebenen globalen Arena inmitten dieser turbulenten geopolitischen Landschaft entscheiden.
 

[1] Li Qi, Qin Daguo, Wang Jun [李奇,秦大国,王军] “Analysis of the Application of Artificial Intelligence in Aerospace Defense”[ 人工智能在空天防御中的应用分析 ], National Defense Technology[国防科技], April, 2020

[2] Zhou Lai, Jin Xiaowei, Zheng Yikai [周来,靳晓伟,郑益凯]. “Research on Combat Assistance Decision-making Based on Deep Reinforcement Learning” [基于深度强化学习的作 战辅助决策研究]. Aerospace Defense [空天防御], 2018

[3] Huang Zicai, He Chunyao, Yang Yuan. [黄子才,和春耀,杨元] “Intelligent Coastal Defense Construction” [智能化边海防建设]. Defense Technology Review [国防科技], June 2018

[4] Tang Runze, Zhang Chenglong, Li Linlin [汤润泽, 张承龙, 李林林]. “Application of Artificial Intelligence on Situation Assessment and Game Countermeasure in Unmanned Battlefield” [人工智能在无人战场态势预判与博弈对抗中的应用]. Beijing Institute of Electronic System Engineering [北京电子工程总体研究所], October 2020

[5] Zheng, Changxing, Zhao, Hui, & Yan, Ming. [郑昌兴, 赵 辉, 严 明] (2020). “Preliminary Thoughts on the Application of Artificial Intelligence in Cyberspace Operations” [关于人工智能在网络 空间作战应用的初步思考] Dual Use Technologies & Products [军民两用技术与产品], (440), June 2020.

[6] Liu, Xiaofeng, & Liu, Yangyue. [刘箫锋,刘杨钺] (2023). “Cyber Weaponization in Modern Political Warfare: Application and Response” [现代政治战中的网络武器化:应用与应对]. National Defense Technology [国防科技], 44(2), April 2023.

Über den Autor

Sunny Cheung ist Gastwissenschaftler am SNR Agora Institute der Johns-Hopkins-Universität. Seine Fachgebiete sind die chinesische Politik, die Beziehungen zwischen Taiwan und China, neue Technologien und Sicherheitsstudien. Er wurde vom McCain Institute zum Global Leader 2023 ernannt. Er hat vor dem US-Kongress, dem britischen Parlament und dem Taiwan Legislative Yuan als Zeuge ausgesagt. Er erwarb seinen Master of Arts an der Johns Hopkins University SAIS mit einem Dean's Stipendium.