Model Youth Parliament im Libanon
Habemus Präsident: Jugendliche im Libanon üben beim Model Youth Parliament Demokratie
Seit mehr als 500 Tagen hat der Libanon kein Staatsoberhaupt. Ginge es nach dem Willen des Jugendparlaments, wäre dieses Problem gelöst. Auch wenn dadurch die zahlreichen Krisen des Landes nicht über Nacht einfach verschwinden würden, so wäre doch eine Einigung im extrem fragmentierten Parlament bereits ein Hoffnungsschimmer für die Menschen des Landes.
Ein neuer Präsident? – eine Frage der Wahl
Am 25. März um 18:22 Uhr Ortszeit war es soweit: Der „Parlamentspräsident des Jugendparlaments“ verkündet, dass der nur 22-jährige Karim Zgheib in der dritten Runde der Abstimmung zum 14. Staatspräsidenten des Libanon gewählt wurde. Bis zuletzt war es eine Hängepartie zwischen ihm und seinem wichtigsten Konkurrenten, Cesar Khreish, der am Ende nur mit wenigen Stimmen unterlag.
Somit wäre die knapp eineinhalb Jahre andauernde Vakanz im Baabda-Palast beendet und die politische Krise des Landes erstmal bewältigt. In seinem ersten Statement vor der Presse gab der frisch gewählte Zgheib, ein unbeschriebenes Blatt bislang in der Politik, bekannt, Präsident aller Libanesinnen und Libanesen sein zu wollen. Er versprach, die politischen wie wirtschaftlichen Probleme des Landes gleich nach Amtsantritt anzupacken – der Libanon habe keine Zeit zu verlieren.
Model Youth Parliament – eine Erfolgsgeschichte des FNF im Libanon
So oder so ähnlich hätten der Titel und die ersten Abschnitte eines Beitrags am Tag danach lauten können, wenn die libanesischen Politiker und Parteien es tatsächlich geschafft hätten, sich nach 17 Monaten Vakanz auf einen Präsidenten zu einigen. Doch dazu ist es nicht gekommen. Nicht die Abgeordneten im Parlament haben einen Präsidenten gewählt, sondern junge Studentinnen und Studenten, die vergangene Woche an der Parlamentssimulation “Model Youth Parliament“ (MYP) der FNF in Zusammenarbeit mit der renommierten Université Saint-Joseph de Beyrouth (USJ) teilgenommen haben.
Das MYP ist das Flaggschiffprojekt der FNF im Libanon. Seit nunmehr neun Jahren kommen Studentinnen und Studenten zahlreicher Universitäten in den Räumlichkeiten der USJ zusammen – sie debattieren in Ausschüssen die wichtigsten Themen des Landes, erarbeiten Lösungsvorschläge, gehen Kompromisse ein, bilden Allianzen mit anderen Fraktionen und versuchen, wenn auch in einer Simulation, die dringlichsten Probleme ihres Landes anzupacken. Damit sie aber dabei „über ihren Schatten springen“ und sehen, wie schwierig, aber nicht unmöglich es ist, Kompromisse zu finden, werden sie gleich zu Beginn einer Partei im Parlament zugeordnet, mit der sie in ihrem realen Leben wahrscheinlich nicht viel zu tun haben.
Und die jungen Leute machen ihre Arbeit gut: nach anfänglichen Startschwierigkeiten finden sie sich schnell zurecht in ihren Parteien, debattieren hitzig in ihren Fraktionen oder vor dem Plenum, erarbeiten in Ausschüssen Gesetzesentwürfe und schmieden Bündnisse über Parteigrenzen hinweg, um diese Entwürfe durchzubringen. Auch wenn es drei Runden extrem knapper Abstimmung bedurfte, gelingt am Ende sogar der ganz große Wurf mit der Wahl des Präsidenten.
Von der Simulation zurück in die Realität – die vielen Krisen des Libanon
Von der Leistung der jungen Leute können sich die Abgeordneten im Parlament eine große Scheibe abschneiden, denn der Libanon, ein Günstlingssystem par excellence, ist tatsächlich seit nunmehr 17 Monaten ohne einen Präsidenten und wird seither von einer geschäftsführenden Regierung eher verwaltet als regiert. Seit dem Ausscheiden von Michel Aoun am 30. Oktober 2022 vom Amt des Präsidenten und mit der fortschreitenden Realitätsverweigerung der politischen Akteure gab es bislang zwölf erfolglose Abstimmungsrunden im Parlament – eine politische Bankrotterklärung.
Dabei braucht das Land ganz dringend eine politische Klarheit und Richtung – der Libanon, seit jeher ein Selbstversorger-Paradies für Politiker-Dynastien, steckt als Folge der jahrzehntelangen Korruption und Misswirtschaft seit 2019 inmitten einer tiefen Wirtschaftskrise, wie sie das krisengeübte Land noch nicht erlebt hat. Diese Krise ist laut Weltbank „eine der weltweit schlimmsten seit Mitte des 19. Jahrhunderts“. Die Lebenssituation der Mehrheit der Libanesen hat sich seitdem dramatisch verschlechtert, der Staat hat sich von vielen Bereichen verabschiedet und ist kaum noch präsent. Bildung, Gesundheit, Strom, Wasser, Müllabfuhr - alles privatisiert und für die Mehrheit der Menschen schier unerreichbar. Laut einem Bericht der Europäischen Union leben 80 Prozent in Armut und 36 Prozent sogar in extremer Armut.
Die Hafenexplosion von August 2020, die damals die Menschen und die Zivilgesellschaft ein letztes Mal wachgerüttelt zu haben schien, sehen viele Experten mittlerweile als den letzten Nagel zum Sarg des Libanon. Die Ermittlungen bislang versandeten im Nichts, wohl, weil auch prominente Figuren darin verwickelt sein könnten. Mittlerweile wird der Zusammenbruch der gesamten Staatlichkeit befürchtet – der Libanon befindet sich im Fragile States Index des Think Tanks Fund For Peace auf Platz 25, knapp vor Ländern wir Burkina Faso, Mozambik oder Kamerun.
Der Libanesische Pfund ist im freien Fall und hat nur noch die Funktion des Rückgeldes, gezahlt wird fast ausschließlich mit US-Dollar. Der Wechselkurs der Landeswährung war seit 1997 auf 1500 Pfund zu einem Dollar festgesetzt, vor einigen Monaten bekam man schon 100.000 LBP für einen Dollar.
Diejenigen, die Devisen verdienen, können sich halbwegs noch über Wasser halten, für alle anderen heißt es schon lange Land unter. Weil dem Land die Devisen ausgehen, erlauben die Banken ihren Kunden nur noch begrenzte Abhebungen – für hunderttausende Libanesen bedeutet dies der Bankrott, obwohl sie Geld auf ihrem Konto haben.
Als Konsequenz all dessen stellen Devisenüberweisungen von im Ausland lebenden Libanesen mittlerweile die wichtigste Einnahmequelle für die Volkswirtschaft des Landes dar – laut einem UNDP-Bericht machten sie knapp 38 Prozent des BIP von 2022 aus. Tendenz steigend. Damit ist der Libanon hinter Tonga, einer kleinen Pazifik-Insel, das Land mit dem höchsten Anteil der Auslandsüberweisungen am nationalen BIP. 2019 machten diese Gelder noch weniger als 15 Prozent des BIP aus. Ebenso wenig überrascht es, dass immer mehr Libanesen ihr Land verlassen – einer Studie des in Beirut ansässigen Research Centers Information International haben im Zeitraum 2017 bis 2021 mehr als 200,000 Libanesen den Libanon verlassen - in einem Land mit nur wenigen Millionen Einwohnern ist diese Zahl gravierend.
Für den Fall, dass jemand auf die Idee kommen könnte, dass dies schon alles sei: seit dem 8. Oktober tobt im Süden des Landes ein Krieg geringer Intensität zwischen der schiitischen Miliz Hisbollah und der israelischen Armee, der das Potenzial hat, jederzeit außer Kontrolle zu geraten und das ganze Land in einen fatalen Krieg mit dem Nachbarland einzubeziehen. Auch wenn die Regierung immer wieder betont, dass sie nicht an einen Krieg mit Israel interessiert sei, sind es andere Akteure, die über das Schicksal des Libanon entscheiden. Geschäftsführender Regierungschef Mikati ging sogar soweit, dies öffentlich auszusprechen: „Die Entscheidung darüber, ob der Libanon in den Krieg einzieht oder nicht, liegt nicht in meiner Macht“, so Mikati in einem TV-Interview über die politische Ohnmacht seines Landes.
Trotz der unzähligen Krisen – Teilnehmer des MYP wollen politische Verantwortung für ihr Libanon übernehmen
Zurück zu den Studentinnen und Studenten. Zum Abschluss der viertägigen Parlamentssimulation gibt es ein Abendessen, bei der der frisch gewählte Präsident gefeiert wird – die jungen Leute sind stolz darauf, was sie erreicht haben. Auch wenn ihr Kommilitone nur das Staatsoberhaupt in einer Simulation ist, tut das der Freude keinen Abbruch. Dank des MYP sind sie motiviert und wollen in Zukunft politische Verantwortung für ihr Land übernehmen.
Und als wenn die jungen Leute dem diesjährigen World Happiness Bericht trotzen wollten, bei dem der Libanon zum zweiten Mal in Folge zum unglücklichsten Land erkoren wurde, haben sie alle ein strahlendes Gesicht und sind glücklich, an der Simulation teilgenommen zu haben. Spätestens am nächsten Morgen geht es zurück – in die libanesische Realität.