GENERATIONENWECHSEL
1923 tritt der liberale Politiker Gustav Stresemann vor den Reichstag. In einer viel beachteten Rede will er aus der Machtfrage um das besetzte Ruhrgebiet eine Wirtschaftsfrage machen und legt so die Grundlagen für mehr internationale Zusammenarbeit.
Text: Wolfgang Elz
Der britische Historiker Jonathan Wright adelte Gustav Stresemann 2002 in einer Biografie als „Weimar’s Greatest Statesman“, als bedeutendsten Staatsmann der Weimarer Republik. Nicht zu Unrecht: Der Kurzzeit-Kanzler (1923), langjährige Außenminister (1923–1929) und Parteivorsitzende der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei praktizierte eine Politik, die in friedlicher Zusammenarbeit mit den anderen Großmächten, insbesondere Frankreich, auf eine Revision des in Deutschland in weiten Kreisen als schändlich empfundenen Versailler Vertrags zielte. Was heute oft übersehen wird: Die Revision hatte auch ihre innenpolitische Komponente. Sie sollte die bürgerlichen Kreise mit der jungen Republik versöhnen, der sie ablehnend gegenüberstanden, weil sie aus der Kriegsniederlage entstanden war. Auch wollte Stresemann die Sozialdemokratie, stärkste Partei der Weimarer Republik, zur Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Parteien heranziehen. Diesen schwierigen Spagat verfolgte Stresemann bis zu seinem frühen Tod im Oktober 1929 konsequent. Eine wichtige Etappe auf seinem Weg an die Spitze der Republik war seine Reichstagsrede vom April 1923.
Eine Reichstagsdebatte im „Ruhrkampf“
923 führte der Reichstag eine ausführliche Debatte. Formal ging es um die zweite Lesung des Haushalts für 1923 und dort um den Etat des Auswärtigen Amtes; faktisch drehte sich die Debatte um das Thema dieser Zeit: den „Ruhrkampf“. Den hatte die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen ausgelöst, und zum „Kampf“ war er durch den Aufruf der Reichsregierung zum passiven Widerstand geworden. Dahinter stand die große Frage, die fast die gesamte Weimarer Republik durchzog: die nach den von Deutschland gemäß dem Versailler Vertrag zu zahlenden Reparationen.
Die Reichsregierung bestand seit dem November 1922 aus einem Minderheitskabinett, als „Kabinett der Wirtschaft“ apostrophiert. Unter der Kanzlerschaft des parteilosen Wilhelm Cuno hatte die Regierung im November 1922 einen Antrag gestellt, ihre Reparationsverpflichtungen aufzuschieben, was der französische Ministerpräsident Poin-caré prompt mit der Drohung zur Besetzung des Ruhrgebiets beantwortete. Nach erfolglosen Verhandlungen unter den Alliierten besorgte er sich von der Reparationskommission gegen das Votum Großbritanniens die Zustimmung zum Einmarsch der Truppen am 11. Januar.
Die Reichsregierung bestand seit dem November 1922 aus einem Minderheitskabinett, als „Kabinett der Wirtschaft“ apostrophiert. Unter der Kanzlerschaft des parteilosen Wilhelm Cuno hatte die Regierung im November 1922 einen Antrag gestellt, ihre Reparationsverpflichtungen aufzuschieben, was der französische Ministerpräsident Poin-caré prompt mit der Drohung zur Besetzung des Ruhrgebiets beantwortete. Nach erfolglosen Verhandlungen unter den Alliierten besorgte er sich von der Reparationskommission gegen das Votum Großbritanniens die Zustimmung zum Einmarsch der Truppen am 11. Januar.
Stresemann setzt auf die USA und Großbritannien
Die Debatte eröffnete am 16. April Außenminister Frederic von Rosenberg. Am zweiten Tag, am 17. April, sprach Gustav Stresemann. Ihm ging es um eine grundsätzliche Erklärung zur Reparationsfrage. Er gestand Frankreich Ansprüche auf Wiedergutmachung zu, die aber eben nicht alleine Deutschland leisten könne. Die Höhe der deutschen Zahlungen und Lieferungen könne nämlich nicht nur nach französischem Gutdünken bemessen werden, sondern müsse von der deutschen Zahlungsfähigkeit ausgehen, die ein Gremium internationaler Fachmänner feststellen müsse und die anschließend durch eine internationale Anleihe sicherzustellen sei. Er zitierte dabei den konservativen britischen Premierminister Andrew Bonar Law, der einen entsprechenden Vorschlag im Winter 1922/23 unterbreitet hatte. Wenn es Frankreich tatsächlich nur um die wirtschaftlichen Belange gehe, so Stresemann, sei dies der einzige Weg, um aus der Reparationsfrage eben eine wirtschaftliche statt einer Machtfrage zu machen.
Natürlich richtete sich Stresemann an den Reichstag und die interessierte deutsche Öffentlichkeit: Reichstagsreden wurden damals in der breiten Zeitungslandschaft oft im Wortlaut abgedruckt. In der Argumentation war aber der Adressat in erster Linie England und deswegen auch die Berufung auf Bonar Law: In deutschen Regierungskreisen hoffte man immer noch, dass London ganz deutlich von seinem Kriegspartner Frankreich abrücken würde. Das war an sich nicht abwegig: Solange Deutschland nach dem Ruhreinmarsch die Lieferung jeglicher Reparationen ausgesetzt hatte, erhielt auch England seinen Anteil nicht. London hatte aber selbst erhebliche Schulden zu tilgen, nämlich Rückzahlungen für die Kredite, die die USA dem Inselreich während des Weltkrieges gewährt hatten. Für diese Rückzahlungen war England auf die deutschen Zahlungen angewiesen. Zudem führte Stresemann Großbritannien in seiner Rede vor Augen, dass es nur dann zur Welthandelsmacht wie vor dem Weltkrieg werden könne, wenn seine Handelsflotte deutsche Waren transportieren würde. Dies aber würde ausfallen, solange die deutsche Wirtschaft infolge Frankreichs Politik am Boden liege.
Und schließlich gab es noch einen Elefanten im Raum, den Stresemann überhaupt nicht ansprach, den aber mancher seiner Zuhörer und Leser mitgedacht haben dürfte: die USA. Dort, in Washington, wo man sich zwar macht-, aber nicht wirtschaftspolitisch vom alten Kontinent zurückgezogen hatte, suchte man als Weltwirtschaftsmacht Nr. 1 dringend Absatzmärke für die eigene Industrieproduktion und für das reich vorhandene Kapital. Für beides benötigte man ein befriedetes Europa, in dem nicht mit Gewaltpolitik wirtschaftliche Unruhe und Schwächung eines der potenziell wichtigsten Exportländer, nämlich Deutschlands, betrieben wurden.
Die Zukunftsperspektive
Allerdings formulierte Stresemann Bedingungen für Verhandlungen: Frankreich müsse internierte und inhaftierte Deutsche wieder freilassen und ausgewiesenen Beamten samt ihren Familien die Rückkehr erlauben. Außerdem solle es Poincaré ausschließlich um wirtschaftliche Zwecke gehen, und Frankreich solle keine weiteren politischen Ziele verfolgen dürfen, etwa die Abspaltung linksrheinischer Gebiete vom Reich. Wenn Frankreich ein Wiedererstarken Deutschlands fürchte, so könne man die Angst durch internationale wirtschaftliche Kooperation beilegen – und überhaupt seien größere internationale Wirtschaftsgemeinschaften das Gebot der Stunde.
Stresemanns Hoffnungen erfüllten sich 1924: England und die USA zwangen Frankreich an den Verhandlungstisch. Mit dem Dawes-Plan vom Sommer 1924 wurde die Reparationsfrage gelöst. Auch die internationale Kooperation, die Stresemann ansprach, kam 1925 in Gang. Unabhängig davon war seine Rede vom April 1923 auch eine Art Bewerbungsansprache: Stresemann galt als Kanzlerkandidat, und da konnte es nicht schaden, eine Lösung für die Reparationsfrage darzulegen. „Stürmischer Beifall und Händeklatschen, auch auf den Tribünen“, wie das Protokoll vermerkt, waren Zeichen dafür, dass die Rede „angekommen“ war.