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Der „Point of no return“ ist erreicht

In Armenien gehen die Demonstrationen weiter – mittlerweile sogar unterstützt durch Regierungsmitglieder
Freudige Proteste

Die Stimmung auf den Demonstrationen ist inzwischen deutlich ausgelassener

© FNF

In Armenien gehen auch nach dem Rücktritt des Premierministers Sarksyan die Demonstrationen weiter. Über die aktuelle Situation machte sich der Projektleiter der Stiftung für die Freiheit im Südkaukasus, Peter-Andreas Bochmann, vor Ort ein Bild.

Wie haben Sie den Rücktritt des Premierministers Sarksyan erlebt?

Letzte Woche war die Skepsis bei vielen Beobachtern und auch bei unseren Partnern noch groß, ob die von Nikol Pashinyan vor zwei Wochen begonnenen Aktionen mit der einzigen Forderung „Serzh muss weg“ in irgendeiner Weise zum Erfolg führen könnten. In der Vergangenheit hatten Massendemonstrationen oft ein plötzliches Ende gefunden. Wir haben unterschätzt, dass Pashinyan genau den Nerv der Armenier getroffen hat und Hunderttausende mobilisieren konnte. Als erstes Ergebnis der „Samtenen Revolution“, wie sie genannt wird, ist Serzh Sargsyan nach nur fünf Tagen als Ministerpräsident ziemlich unerwartet mit den Worten „Ich habe einen Fehler gemacht, Nikol hat Recht“ zurückgetreten. Das hat die Situation natürlich völlig geändert. Das wollten wir mit eigenen Augen sehen und sind aus Georgien, wo die Stiftung ihren Sitz hat, nach Armenien gereist.

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Wie sind Ihre Eindrücke?

Täglich werden die Demonstrationen fortgesetzt. Es gibt in der Hauptstadt und im ganzen Land immer wieder spontane Aktionen und Straßenblockaden, die Autofahrer hupen aus Solidarität, und an jeden Abend findet auf dem Platz der Republik in Jerewan eine Groß-Demo statt. Am Mittwochabend beispielsweise, als wir vor Ort waren, waren rund hunderttausend Menschen gekommen. Auf einer Großbühne traten viele, vor allem junge Redner auf, die nun auch den Rücktritt des  amtierenden Premierministers Karapetyan fordern. Und damit nicht genug: Gefordert wird jetzt auch ein Ende der korrupten und kriminellen Regierung, die von der Republikanischen Partei gestellt wird. Kommentatoren betonen, dass es eine friedliche Revolution sei, die vom armenischen Volk ausgehe und in keiner Weise von außen beeinflusst sei. Wir konnten auch keine Gegendemonstration beobachten. Selbst diejenigen, die 2017 die Republikanische Partei in durchaus fragwürdigen Wahlen gewählt hatten, schweigen entweder oder haben sich den Protestierenden angeschlossen. Mich erinnert die momentane Situation in Armenien durchaus an den Herbst 1989 in der ehemaligen DDR. Und inzwischen haben sich auch die anderen Oppositionsparteien, die am Anfang noch skeptisch waren, die Position der Demonstrierenden zu Eigen gemacht. Mich hat überrascht, dass Vertreter der Regierung – Minister und stellvertretende Minister – ihre Ämter ebenfalls niedergelegt haben und sich der Revolution anschlossen.

Welches sind die Szenarien für die nächsten Tage und Wochen?

Gewalt gegen die Revolutionsbewegung scheint unwahrscheinlicher denn je. Der „Point of no return“ ist erreicht. Wahrscheinlich ist, dass sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament ändern und dass in der Parlamentssitzung in der kommenden Woche ein neuer Ministerpräsident gewählt wird. Und das kann nach jetzigem Ermessen nur der Initiator der Revolution Nikol Pashinyan, Parlamentsabgeordneter und Vorsitzender der kleinen Oppositionspartei Civil Contract, sein. Er agiert aus meiner Sicht mit Vernunft und Besonnenheit, so wie überhaupt alle Armenier – einschließlich der jetzt Bekämpften – erstaunlich mit diesen radikalen Veränderungen umgehen. Das mag durchaus Ausdruck einer aktiven Zivilgesellschaft sein. Möglicherweise gibt es aber auch noch andere Szenarien nächste Woche.

Was Pashinyan und seine Revolution will, mag politisch-ideologisch unscharf sein, aber es ist pragmatisch: Weg mit der alten Politikelite, weg mit kriminellen und korrupten Strukturen und ein  neues Wahlgesetz, das freie und faire Wahlen garantiert und dann Neuwahlen in einigen Monaten.

Wenn das alles so klappt, könnte die „Samtene Revolution“ in Armenien die mittlerweile auch als Revolution von „Peace and Love“ von Pashinyan beschrieben wird, ein „Muster für weitere Bewegungen in anderen Ländern darstellen“, so ein internationaler Beobachter. Ohne Gewalt ein postsowjetisches System mit der friedlichen Kraft der Straße zu demokratisieren und von Korruption und Oligarchie-Einflüssen zu befreien, das ist der Wunsch der in Armenien Demonstrierenden.

Peter-Andreas Bochmann ist Projektleiter der Stiftung für die Freiheit für den Südkaukasus.