EU-RATSPRÄSIDENTSCHAFT
Migrationspolitische Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft
Kaum ein Thema ist in den letzten Jahren so heiß diskutiert worden, wie die Zukunft der Asyl- und Migrationspolitik der EU. Dabei hat die Flüchtlingskrise der Jahre 2014 und 2015 den Handlungsdruck für gesamteuropäische Lösungen allen Beteiligten plastisch vor Augen geführt. Doch trotz dieser Erkenntnis haben es die Mitgliedstaaten bis auf den heutigen Tag nicht vermocht, sich bei der Reform des Gemeinsamen Asylsystems (GEAS) auf einen fairen und effektiven Verteilungsschlüssel und klare Zuständigkeiten zu einigen. Deutschland sollte im Rahmen seiner Ratspräsidentschaft viel politisches Kapital einsetzen, um die seit Jahren festgefahrenen Positionen zu entzurren.
Die Erwartungen an Deutschland sind im Bereich der Migrations- und Asylpolitik besonders hoch. Zunächst muss Berlin auf den Europäischen Migrationspakt der Kommission warten, der eigentlich schon im Frühjahr kommen sollte, aber wegen der Corona-Pandemie weiter nach hinten auf die politische Agenda rutschte. Jedoch ist nicht damit zu rechnen, dass dieser vollkommen neue Vorschläge beinhalten wird, da es daran ohnehin nicht mangelt: Mit sieben (!) Legislativvorschlägen hat die Europäische Kommission nach der Krise 2015 ambitionierte Ideen für eine europäisch und solidarisch ausgerichtete Asyl- und Flüchtlingspolitik entwickelt. Nun gilt es, hier endlich Fortschritte zu erzielen und zu Umsetzungsschritten zu kommen!
Der Aufbau einer europäischen Sicherung und Gewährleistung der Außengrenzen der EU ist Voraussetzung einer europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik. Allerdings scheitert die Umsetzung zur Weiterentwicklung der Dublin- sowie Asylverfahrensrichtlinie weiterhin an der Blockadehaltung insbesondere der Visegrád-Staaten, die sich gegen einen verpflichtenden Verteilungsschlüssel aussprechen, der nach Wirtschaftskraft und Bevölkerungsgröße ausgerichtet wäre. Sollte dennoch weiterhin keine EU-weite Lösung möglich sein, stellt eine „Koalition der Willigen“, wie sie bereits aus 11 aufnahmewilligen EU-Mitgliedstaaten, darunter Deutschland und Frankreich, für die Aufnahme von minderjährigen Geflüchteten aus Griechenland existiert, eine pragmatische Lösung dar. Ein solch differenzierter Mechanismus muss in jedem Falle offen für weitere Mitgliedstaaten bleiben und mit ausreichend Aufnahmekapazitäten unterlegt werden, um die völlig disproportionale Belastungen der Außengrenzstaaten abzufedern. Staaten, die nicht aufnahmewillig für Asylbewerber und Flüchtlinge oder die Sicherung der Außengrenzen sind müssen, finanziell stärker eingebunden werden, um so ihren Beitrag zu leisten.
Migrationspolitik ist keine Einbahnstraße
Neben der Frage der Verteilung von Geflüchteten innerhalb Europas sollte Deutschland die Übernahme der Ratspräsidentschaft auch als Möglichkeitsfenster sehen, neben der europäischen Asyl-, auch die Einwanderungs- und auswärtige Migrationspolitik weiter zu gestalten.
Bei der Frage des Umgangs mit abgelehnten Asylbewerbern muss die Kooperation mit Herkunftsländern verstärkt werden, ohne die eine erfolgreiche Rückführungspolitik nicht umzusetzen ist. Je nach Herkunftsland bieten sich adressatenspezifische ‚Package Deals‘ an, die neben einer Kooperation im gemeinsamen Grenzmanagement über Frontex und EU-Grenzschutzbeamte je nach Land ausgerichtet ist. Ein wichtiger Hebel insbesondere für Herkunftsländer, aus denen Migranten mit geringer Bleibeperspektive kommen, ist die Förderung von regulären Zuwanderungswegen.
Insbesondere Deutschland, aber auch die EU insgesamt profitiert als Wirtschaftsstandort von zuwandernden Arbeitskräften. Für Deutschland heißt das: das im März 2020 in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz durch gezielte Abkommen mit Partnerstaaten in passenden Schlüsselsektoren mit Leben füllen. Im Rahmen von transnationalen Ausbildungspartnerschaften könnte hierbei sowohl den Interessen deutscher Unternehmen, sowie von Herkunftsstaaten mit hohem Migrationsdruck entsprochen werden. Gerade Deutschland hat hier mit seinem entwicklungspolitischen Engagement schon gute Erfahrungen gemacht, auf die im europäischen Kontext zurückgegriffen werden kann. Hierbei sollten auch innerhalb der EU Verbundnetzwerke zwischen den Unternehmen der Mitgliedstaaten aufgebaut bzw. genutzt werden, um einen europaweiten Effekt zu erzielen.
Schließlich sollten sich die EU-Mitgliedstaaten im Sinne einer nachhaltigen Fluchtursachenbekämpfung stärker abstimmen und durch die Schaffung von Arbeitsplätzen in Hauptherkunftsländern Migranten ohne Bleibeperspektive wirkliche Alternativen zur irregulären Migration ermöglichen. Um künftige Fluchtbewegungen zu reduzieren, muss die EU ihr außen-, sicherheits-, und migrationspolitisches Handeln stärker zusammen denken und mit allen zivilen und wenn nötig militärischen Mitteln an der Befriedung von Konflikten mitwirken. Hierbei kann Deutschland vorangehen, indem es im Rahmen seiner Agenda-Setting-Funktion Impulse für ein stärkeres Zusammendenken der Teilaspekte von Migration setzt.
Ratspräsidentschaft: In der Mitte Europas Europa zusammenhalten!
Am 1. Juli 2020 übernimmt Deutschland die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union. Damit führt sie für ein halbes Jahr die Geschäfte der Mitgliedstaaten, setzt die Agenda für Ratssitzungen, verpflichtet sich im politischen und gesetzgeberischen Prozess für Kompromisse zu sorgen und repräsentiert die Staatenrunde gegenüber EU-Kommission, Europäischem Parlament sowie internationalen Organisationen und Drittstaaten. Die verschiedenen Aspekte der Ratspräsidentschaft beleuchten wir im aktuellen europäischen Kontext und liefern Vorschläge zur längerfristigen Entwicklung der EU.
Für eine EU-Infrastrukturstrategie: Europa schneller und enger zusammenwachsen lassen
Die EU braucht eine europäische Infrastrukturstrategie. Traditionelle und moderne Infrastrukturen, ob real oder digital, sind die Pfade, auf denen Wachstum, Arbeitsplätze und Wohlstand für Europas Bürger vorankommen und entstehen. Aber nicht nur das: Infrastrukturen geben Staaten und Regionen Sicherheit und Struktur, Bürgern Bildungschancen und Gesundheitsschutz. Infrastrukturen sind in den geostrategischen Auseinandersetzungen des 21. Jahrhunderts zudem Ziele politischer Auseinandersetzungen durch direkte Angriffe oder ökonomische Übernahmen.