Estland
Estland: Liberale Oppositionsführerin Kallas soll erste Premierministerin werden
Infolge des Rücktritts hat die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid am Donnerstagmorgen der Vorsitzenden der liberalen Reformpartei Kaja Kallas offiziell den Auftrag zur Regierungsbildung gegeben. Kallas hat nun 14 Tage Zeit, dem estnischen Parlament die Zusammensetzung und das Programm ihrer Regierung vorzustellen, um die Unterstützung des Riigikogu zu erhalten.
Die marktwirtschaftlich-liberale Reformpartei, Partner der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Land, sieht sich als „Anführerin der liberalen Weltanschauung in Estland“. Sie ging aus den Parlamentswahlen 2019 mit 34 Sitzen als stärkste Kraft hervor, war jedoch von den Koalitionsverhandlungen ausgeschlossen, die zur Bildung der Regierung zwischen der sozialpopulistisch orientierten Zentrumspartei, der rechtspopulistischen EKRE-Partei und der konservativen Partei Isamaa führten.
Regierungschef Jüri Ratas tritt zurück
Premierminister Jüri Ratas kündigte nun am Mittwoch seinen Rücktritt an, nachdem die Staatsanwaltschaft gegen führende Mitglieder seiner Zentrumspartei zu ermitteln begonnen hatte.
Hintergrund ist ein Kredit von 40 Mio. Euro, den die staatliche Finanzierungsagentur Kredex im Sommer 2020 für die Entwicklung eines großangelegten Immobilienprojekts in Tallinn gewährt hatte. Der Entscheidung sollen unerlaubte Absprachen über große Spenden als „Gegenleistung“ an die Partei vorausgegangen sein. Etliche Führungspersonen der Partei wurden bereits vorläufig festgenommen.
Zum Regierungssturz trugen aber auch politische Zerwürfnisse bei. Der Korruptionsskandal und der Rücktritt von Ratas kommen nur einen Tag, bevor das Parlament über den Vorschlag von EKRE abstimmen sollte, im Frühjahr 2021 ein Referendum über die rechtliche Definition der Ehe in Estland abzuhalten. Kallas und die Reformpartei kritisierten das noch von der scheidenden Regierung vorgeschlagenen Referendum über die Festsetzung der Ehe als natürliche Lebensgemeinschaft allein von Mann und Frau. Zuletzt hatte auch die scheidende Koalition den Referendumsplan verworfen.
Ratas sagte, sein Rücktritt am frühen Mittwoch bedeute, dass die Koalition zwischen der Zentrumspartei, der rechtspopulistischen „Konservativen Volkspartei Estlands“ (EKRE) und Isamaa beendet sei. EKRE hat zudem praktisch eingeräumt, dass die Partei nunmehr in der Opposition sein werde.
Dass die Koalition zwischen der Zentrumspartei, EKRE und Isamaa überhaupt so lange Bestand hatte, war angesichts der internen Spannungen eine Überraschung.
Rechtspopulisten als Faktor der Instabilität der Regierung
Der Rücktritt von Jüri Ratas markiert das Ende von zwei turbulenten Jahren an der Macht: Seit der Parlamentswahl 2019 bildete die Zentrumspartei von Ratas eine Koalition mit der konservativen Partei Isamaa und der rechtspopulistischen Partei EKRE. Die Entscheidung stieß in Estland wie im Ausland auf breite Kritik – nicht zuletzt, weil die Option einer Koalition mit der Reformpartei bestanden hatte, bei der allerdings aufgrund der Kräfteverhältnisses Ratas nicht Regierungschef geblieben wäre.
Immer wieder erlebte die Regierung Skandale, hauptsächlich aufgrund von umstrittenen Äußerungen des EKRE-Führungsduos, Vater und Sohn Mart und Martin Helme. Provokative Kommentare der rechtspopulistischen EKRE brachen die Regierung häufig in Verlegenheit und belasteten die Beziehungen zu ihren internationalen Partnern. Die rechtspopulistische Partei, die Mart Helme, der kürzlich als Innenminister zurücktrat, mitbegründet hat, hat eine Anti-Einwanderer- und Anti-EU-Agenda. Sie ging aus den Wahlen im März 2019 als drittstärkste Partei Estlands hervor.
Zuletzt behaupteten Helme und sein Sohn, der Finanzminister Martin Helme, nach der US-Präsidentschaftswahl im November 2020, dass die Ergebnisse der Wahlen „gefälscht“ seien und Joe Biden den Niedergang Amerikas bringen würde. Martin Helme deutete bei seiner Vereidigungszeremonie im estnischen Parlament Riigikogu auf ein Symbol der weißen Vorherrschaft. EKRE behauptete zudem, dass das Wahlergebnis in Litauen und der demokratische Regierungswechsel in Rumänien vom „Tiefen Staat“, einer Figur vor allem rechtsradikaler Verschwörungstheorien, beeinflusst worden seien.
Im Oktober erklärte Mart Helme gegenüber der Deutschen Welle, dass die Ehe nur eine Vereinigung von Mann und Frau sein sollte, und schlug vor, dass schwule Paare nach Schweden gehen sollten. Kaja Kallas, die Vorsitzende der liberalen Reformpartei und ehemalige Europaabgeordnete, rief Ratas daraufhin öffentlich dazu auf, Helme zu entlassen. In einem Social-Media-Beitrag sagte Kallas, Helme habe Estlands Ruf geschädigt.
Große Koalition nicht unwahrscheinlich
Eine Koalition zwischen zwei ALDE-Mitgliedern, der Reformpartei und der Zentrumspartei, ist die wahrscheinlichste Option der künftigen Regierungsbildung und hätte insgesamt 59 Sitze im 101-köpfigen Parlament. Die Zentrumspartei, die wegen ihrer manchmal linksgerichteten Politik eine starke Unterstützungsbasis in einer großen russischen Minderheit fand, konnte Ratas während seines Parteivorsitzes erfolgreich von ihrem früheren etwas populistischeren Kurs abbringen und in die Mitte rücken. Gerade deshalb war die Entscheidung der Zentrumspartei, im 2019 ein Regierungsbündnis mit EKRE einzugehen, unverständlich und nur in den Ambitionen des Vorsitzenden, Regierungschef zu bleiben, zu suchen.
Am Donnerstagmorgen betonten Reformpartei und Zentrumspartei, sie würden Koalitionsverhandlungen aufnehmen, und dass Isamaa und EKRE an den Verhandlungen nicht teilnehmen würden. Die Zentrumspartei sagte, sie sei einverstanden, dass die Reformpartei nun den Posten des Premierministers besetze.
Covid ist auch in Estland zurzeit das zentrale Problem. Kallas kündigte bereits an, dass die neue Regierung mehr wissenschaftliche Expertise bei Entscheidungen einbeziehen werde. Das beziehe sich v.a. auf die engere Zusammenarbeit mit dem wissenschaftlichen Rat der Regierung und den Universitäten bei der Pandemiebekämpfung, ebenso wie auf die COVID-19-Monitoringstudien.
Schwierigere Verhandlungsthemen könnten Finanzen und Bildung sein. Die von der Zentrumspartei geführte Koalition hatte einige marktwirtschaftliche Grundpositionen früherer, von der Reformpartei geführten Regierungen, in Frage gestellt. Es wird erwartet, dass die Reformpartei auf eine restriktivere Haushaltspolitik und den Verzicht auf Steuererhöhungen pochen wird. Außerdem setzt sich die Reformpartei für eine landesweite estnische Bildungspolitik ein, während sich die Zentrumspartei diesem Plan widersetzt.
Aber es gibt auch einen großen Vorrat an Gemeinsamkeiten: Beide Parteien sind sich einig, dass die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, der NATO und den Vereinten Nationen im Mittelpunkt der estnischen Außen- und Sicherheitspolitik sein werden. Auch die aktive Rolle Estlands bei der Erreichung der Klimaziele der Europäischen Union wurde als eines der Verhandlungsprinzipien hervorgehoben.
Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise und der Bevölkerungsrückgang werden Estland im Jahr 2021 und darüber hinaus weiterhin vor erhebliche Herausforderungen stellen. Der nördlichste der drei baltischen Staaten schlägt sich dank der Digitalisierung seiner öffentlichen Verwaltung in der COVID-19-Pandemie vergleichsweise gut.
Bis zur Vereidigung einer neuen Regierung, wird die estnische Übergangsregierung weiterhin von Jüri Ratas geführt werden. Sollte das Parlament in Tallinn der Nominierung Kallas' zustimmen, wird sie die erste Premierministerin Estlands werden.
Die letzten Meinungsumfragen, die am frühen Mittwochmorgen veröffentlicht wurden, zeigen, dass die Reformpartei mit 28,4 Prozent und die Zentrumspartei mit 21,6 Prozent die populärsten Parteien in Estland sind.
Toni Skorić ist Projekt Manager für Mitteleuropa und die baltischen Staaten im Stiftungsbüro in Prag.