Burkhard Hirsch
"Meinem Vater ging es nie um sich, sondern um das Wohl und die Freiheit aller"
Die anlasslose Massenüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst im Ausland verstößt gegen Grundrechte, urteilte kürzlich das Bundesverfassungsgericht und gab der Verfassungsbeschwerde von Journalisten statt. Das Fernmeldegeheimnis und die Pressefreiheit müsse gewahrt bleiben. Wie hätte Burkhard Hirsch, Ihr Vater und liberaler Bürgerrechtler, auf diese Entscheidung reagiert?
Es ist sehr schwierig, diese Frage zu beantworten - das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist wesentlich komplexer, als es die Presseberichterstattung vermuten lässt. Das Urteil verbietet die anlasslose Massenüberwachung im Ausland nicht per se, sondern zeigt sehr detailliert Möglichkeiten auf, wie diese verfassungskonform ausgestaltet werden kann. Auch nimmt das Bundesverfassungsgericht zum Verhältnis zwischen den Nachrichtendiensten und dem Parlament Stellung – aus meiner Sicht zu Lasten des Bundestages. Mein Vater war ein strikter Verfechter der Menschen-, Bürger- und Grundrechte. Er war der Auffassung, absolute Sicherheit darf es nicht um den Preis der persönlichen Freiheit aller Einzelnen geben. Mein Vater hatte aber auch eine besondere Achtung vor dem Staat und seinen verfassungsmäßigen Organen, deren Aufgabe es ist, die Funktionsfähigkeit des Staates zu gewährleisten. Der Staat muss eine liberale Gesellschaftsordnung schützen können, selbst wenn dies mit Grundrechtseingriffen einhergeht. Diese Grundrechtseingriffen müssen verhältnismäßig sein und den Wesensgehalt der Grundrechte wahren. Anders als die Weimarer Republik ist die Bundesrepublik eine wehrhafte Demokratie, deren Aufgabe es auch ist, den Wölfen gleich welcher Gesinnung die Schafspelze auszuziehen.
Burkhard Hirsch war von 1975 bis 1980 Innenminister von Nordrhein-Westfalen und später Vizepräsident des Deutschen Bundestages, zugleich war er über Jahrzehnte Mitglied im FDP-Bundesvorstand. Er appellierte an die soziale Funktion einer liberalen Gesellschaftspolitik und war ein Verfechter der Freiheit und Grundrechte. War er gegen Ende seines Lebens der Meinung, dass er seine liberalen Werte erfolgreich vermittelt und seine politischen Ziele erreicht hatte?
Mein Vater hat sich Zeit seines Lebens für die soziale Funktion einer liberalen Gesellschaftspolitik eingesetzt. Er ist immer, auch unter Inkaufnahme persönlicher Nachteile, für die Freiheit jedes Einzelnen eingetreten. Er hat frühzeitig die Bedürfnisse und Herausforderungen erkannt, die einer liberalen Gesellschaftsordnung innewohnen. Diese Gesellschaftsordnung hat er in einem umfassend liberalen Sinn verstanden. Freiheit des Einzelnen war für ihn mehr als die bloße Abwehr übermäßiger staatlicher Eingriffe in die Grundrechte des Einzelnen. Waren staatlicher Eingriffe nicht mehr verhältnismäßig, setzte er sich dagegen mit der ihm eigenen rückhaltlosen Konsequenz zur Wehr – erinnert sei an seinen Kampf gegen den Großen Lauschangriff, der sogar das Abhören von Beichten und die persönlichsten Gespräche zwischen Eheleuten erlauben sollte, oder gegen das Luftsicherheitsgesetz, das den Abschuss von Passagierflugzeugen erlaubte. Mein Vater sah aber auch, dass Grundrechte nicht nur der Abwehr staatlicher Eingriffe dienen, sondern auch den Staat zu einer Leistung verpflichten. So kämpfte mein Vater genauso für eine liberale Gesellschaftsordnung, die die Würde des Einzelnen respektierte und aktiv eine soziale Teilhabe und lebenswerte Bedingungen ermöglicht. So hat sich mein Vater etwa für den Umweltschutz eingesetzt, lange bevor es die Grünen gab. Mein Vater glaubte ebenso wenig daran, dass alleine die Kräfte des Marktes diese liberale Gesellschaftsordnung schaffen können, wie dass es einem Staat erlaubt sein sollte, bis in die kleinsten Belange des Einzelnen hinzuregieren.
In den letzten Jahren hat er nicht geruht. So hat er sich jüngst noch mit der ihm eigenen Energie und sehr wachen Augen dafür eingesetzt, dass das Polizeigesetz NRW eine ausgewogene Balance zwischen den Grundrechten des Einzelnen auf der einen Seite und den Eingriffsbefugnissen der Polizei auf der anderen Seite aufwies. Er hatte noch viel vor – er empfand Politik als zu wichtig, als dass man sie anderen überlassen konnte.
Politik ist einem steten Wandel unterworfen. Es ist in einem statischen Sinn nicht möglich, seine politischen Ziele zu erreichen. Mein Vater war der Auffassung, dass Politik den Menschen dienen und sich stetig weiter entwickeln muss. Mein Vater betrachtete jedoch grundlegende Werte, wie die Menschenwürde und die persönlichen Freiheiten, als unverrückbare Ideale, für die er sich zeitlebens eingesetzt hat. Mein Vater hat gesehen, dass er durch sein Wirken ein erhebliches Bewusstsein für genau diese Ideale geschaffen hat. Er hat Menschen erreicht und diese hierfür gewonnen. Es hat ihn gefreut, wenn Menschen ihm dankten, weil sein Vorbild sie für die Politik gewonnen habe – gleich, ob dies ein heute führender Politiker oder ein junger Mensch war, der ihm das bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße sagte. Dies waren die Momente, in denen mein Vater wusste, dass sein Wirken nicht mit ihm verschwindet, sondern in diesen Menschen weiterwirkt. Das ist es, was sich jeder politisch Aktive wünscht. Dieses Ziel hat mein Vater sicher erreicht.
Ein Zitat von Burkhard Hirsch lautet: „Es gibt keine individuelle Freiheit ohne gesellschaftliche Freiheit.“ Welche Bedeutung hat Burkhard Hirsch für die heutige Gesellschaft und die junge politische Generation?
Jede Generation muss sich ihre Vorbilder und Ideale selber suchen. Viele Ideale der jungen politischen Generation wurden bereits von meinem Vater gelebt und verteidigt, auch wenn die junge politische Generation diese nicht zwingend an der Person meines Vaters festmacht. Meinem Vater ging es nie um sich, sondern um das Wohl und die Freiheit aller. Diese Werte zu erkennen und in einem liberalen Sinne zu verteidigen, ist die Bedeutung meines Vaters für die Gesellschaft und die junge politische Generation.
Die aktuellen Diskussionen über die Einschränkungen der persönlichen Freiheiten jedes einzelnen im Zusammenhang mit der Covid-19 Pandemie wären in einer weniger freiheitlich geprägten Gesellschaft anders. Mein Vater hat einen erheblichen Anteil daran, dass unsere Gesellschaft so freiheitlich denkt. Aus vielen Kondolenzschreiben gerade auch junger Menschen weiß ich, welchen Einfluss mein Vater auf die junge politische Generation hat nehmen können.
Burkhard Hirsch: Eine Ikone des liberalen Rechtsstaats
Burkhard Hirsch wäre heute 90 Jahre alt geworden. Er hat das liberale Gewissen der Bundesrepublik maßgeblich mitgeprägt. Er hat den Bürgern begreifbar gemacht, was ein gelebter werteorientierter Rechtsstaat ist und welche Mittel jeder in der Hand hält, sich gegen die Beschneidung seiner Freiheit zu wehren. Über Hirschs Lebensweg, seine politischen Ziele und seine bleibenden Verdienste.
„Er war ein großer Liberaler"
Burkhard Hirsch war eine der wichtigsten Stimmen des Liberalismus. Als liberaler Bürgerrechtler war er eine starke Kraft für Demokratie und Rechtsstaat, für individuelle Freiheit, die offene Gesellschaft, Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Gerhart Baum würdigt in einem Gastbeitrag seine vertrauensvolle politische und auch persönliche Freundschaft zu Burkhard Hirsch.