Chinas Zukunftsvorstellungen

Beijings plötzliches Umschwenken in der Corona-Politik – das Ende von „Null Covid“ – Ende vergangenen Jahres löste heftige Debatten unter Chinas Netzbürger:innen aus. Auf der Frage-und-Antwort-Plattform Zhihu ringen vor allem zwei Lager miteinander: die „Koexistenzler“ (共存派), Befürwortende eines Lebens mit dem Virus, die daher auch die Öffnungsmaßnahmen gutheißen, gegen die strikten „Null-Covid-Anhänger“ (清零派). Chinas soziales Gefälle und sehr unterschiedliche Lebensrealitäten treten in den Diskussionen zu Tage.

Netizens sind skeptisch über Gleichstellung unehelicher Kinder

Ende Januar 2023 verkündete die Gesundheitsbehörde der Provinz Sichuan eine neue Regelung rund um die Familiengründung. Paare müssen für eine offizielle Geburtenregistrierung ihres Nachwuchses nun keinen Trauschein mehr vorlegen. Auch wird nicht mehr nach der Anzahl vorheriger Kinder unterschieden, wodurch die Beschränkung der erlaubten Kinderzahl in der Provinz implizit aufgehoben wurde.

Die neue Regelung2 trat am 15. Februar in Kraft und ist zunächst für fünf Jahre gültig. Sie ist Teil eines grundlegenden Kurswechsels, den die chinesische Regierung seit 2013 angesichts einer rapide alternden Bevölkerung eingeleitet hat. Denn auch die 2021 eingeführte „Drei-Kind-Politik“ hat den Rückgang der Geburtenrate nicht umkehren können.

Im Jahr 2022 ist die chinesische Bevölkerung laut offiziellen Statistiken erstmals geschrumpft. Auch andere Provinzen wie Guangdong oder Anhui arbeiten an solchen Lockerungen der ehemals strikten Geburtenplanungspolitik, die chinesische Paare seit den 1980er Jahren lange auf ein Kind beschränkte und stark in die Selbstbestimmungsrechte von Frauen eingriff.

Die neue Politik in Sichuan traf einen Nerv; Chinas Netzbürger:innen diskutierten diese kontrovers. Kinder oberhalb der erlaubten Quote und vor allem außerehelicher Nachwuchs erfahren in China seit langem starke Diskriminierung. Die Familien haben beispielsweise keinen Anspruch auf kostenlosen Schulbesuch, staatliche Übernahme medizinischer Versorgung, bezahlten Urlaub und Mutterschutz, auch die Rechte auf Unterhalt und Erbschaft von beiden Elternteilen sind eingeschränkt.

Expert:innen wie die renommierte Anwältin für den Schutz lediger Mütter Zhang Jing (张荆), die sich mit Demographie beschäftigt, sehen die Gesetzesänderung „insbesondere für Frauen [als] eine sehr gute Nachricht“. Die Gesundheitsbehörde Sichuans bemühte sich ebenfalls, klarzustellen, dass die neue Regel keine unehelichen Geburten fördere, sondern lediglich die Rechte derjenigen sichere, die unverheiratet ein Kind bekämen. Auch geht es in diesem Schritt um die Geburtenregistrierung, nicht um die Gleichstellung bei der Haushaltsregistrierung, von der viele staatliche Leistungen abhängen.

Geburtenerlaubnis (准生证)

Die Geburtenerlaubnis ist ein System zur Regulierung von Geburten in China. Ehepaare müssen vor der Geburt ihres Kindes bei der örtlichen Familienplanungsbehörde eine Genehmigung einholen, um ihr Kind offiziell registrieren zu lassen und Sozialleistungen zu erhalten. Die Beantragung war bis vor kurzem nur mit einer Heiratsurkunde möglich und an den registrierten Wohnort (hukou) der Eltern gebunden. Die Geburtenerlaubnis geht auf Chinas Familienplanungspolitik der 1980er Jahre zurück. Aufgrund hoher bürokratischer Hürden und sinkender Geburtenraten geriet die Politik in den vergangenen Jahren in die Kritik, und die Prozesse werden seit 2016 schrittweise vereinfacht.

Hukou (户口)

Das Haushaltsregistrierungssystem (hukou) ist ein Instrument der chinesischen Regierung zur Steuerung der Stadt-Land-Migration innerhalb Chinas. Sozialleistungen, weiterführende Schulbildung und Gesundheitsvorsorge werden damit zugänglich, aber auch an den offiziellen Wohnort geknüpft, um Binnenmigration einzuschränken. Nur mit der Geburtenerlaubnis konnte in der Vergangenheit auch eine Haushaltsregistrierung für den Nachwuchs beantragt werden.

Das System wurde in den 1950er Jahren eingeführt und differenzierte zwischen Stadt- und Landbewohner:innen. Seit den Marktreformen der 1980er Jahre wurde das System schrittweise reformiert. 2014 wurden Unterschiede zwischen Stadt und Land angeglichen und ein grundlegender Zugang zu Sozialleistungen für Migrant:innen geschaffen. Doch die Ungleichbehandlung von unerlaubt geborenen und vor allem außerehelichen Kindern bleibt vorerst bestehen.

Chronologie der Geburtenplanungspolitik

1979: Einführung der „Ein-Kind-Politik“ (一孩政策) oder auch „staatliche Geburtenplanung“ (计划生育): Verheiratete Paare können ein „Geburtenplanungszertifikat“ (计划生育证明) für ein Kind beantragen. Für Minderheiten und Bauern, deren erstgeborenes Kind eine Tochter ist, gelten gelockerte Regeln, um die Chance auf männlichen Nachwuchs zu geben.

2002: Das „Gesetz zur Bevölkerungs- und Geburtenplanung“ (中华人民共和国人口与计划生育法) legt unter anderem fest, dass „Bürger das Recht haben, Kinder zu bekommen und die gesetzliche Pflicht, die Geburt zu planen“. Verstöße werden mit hohen Geldstrafen geahndet.

2013: Lockerung der Ein-Kind-Politik: Ist ein Ehepartner Einzelkind, kann das Paar zwei Kinder bekommen. Die darüber hinausgehenden Lockerungen für Bürger:innen in ländlichen Regionen und Minderheiten bestehen fort.

29.10.2015: Ende der Ein-Kind-Politik und Einführung der Zwei-Kind-Politik.

31.05.2021: Einführung der Drei-Kind-Politik für die gesamte Bevölkerung.

Sorgen um moralischen Werteverfall und finanzielle Belastung

Eine Analyse von 304 viel geteilten und kommentierten Beiträgen3 zu dem Hashtag „Provinz Sichuan schafft Ehepaar-Geburtenregistrierung ab“ (#四川省取消结婚生育登记) auf der Plattform Weibo zeigt: Auch wenn es bisher nur ein lokales Experiment ist, die große Mehrheit der männlichen und auch weiblichen Nutzer:innen lehnt die Lockerung der Geburtenpolitik für Unverheiratete ab. Die Nutzer:innen halten diese vor allem für einen Ausdruck moralischen Verfalls, den sie insbesondere auf den Untergang der „Institution Ehe“ zurückführen.

CS

Gleichstellung kann die Position von Verheirateten schwächen

Viele männliche als auch weibliche chinesische Internetnutzer:innen scheinen sich einig zu sein, dass die neue Regelung gegen die gesellschaftliche Moral und das traditionelle Familienbild in China verstoße. Ein Kommentar dazu hat sogar die meisten Likes (1109) innerhalb des Datensatzes erhalten:

„[Laut Behörden ist die Regelung] ‚kein Anreiz, Kinder zu zeugen, ohne zu heiraten‘. Doch auch wenn diese Maßnahme nicht darauf abzielt, würde sie unweigerlich zu einer Zunahme dieses Phänomens führen, das würde alles durcheinanderbringen.“

“并非鼓励不结婚生子”,即使此政策的出发点不是这样,但势必会导致这种现象的增加,真的乱了套了!

乔鲁诺乔banana_ / Nutzer qiaolunuoqiao banana_, 30.01.2023) (Post mit den meisten Likes (1109))

„Man sollte die Kosten für die Bildung von Kindern, nicht die moralischen Maßstäbe heruntersetzen.“

开放生育应该降低育儿成本,而不是降低道德标准。

--琦琦-- / Nutzerin --qiqi--, 07.03.2023

Insbesondere Frauen legen offenbar mehr Wert auf eine gesetzlich geschützte Ehe und Familie als Männer. Das mag auch auf den gesellschaftlichen Druck und die Stigmatisierung zurückzuführen sein, die durch patriarchale Strukturen vor allem auf Frauen lasten.

„Die chaotischen Maßnahmen werden dazu führen, dass noch mehr Leute nicht mehr heiraten wollen. Die Geburtenrate würde natürlicherweise weiter sinken. Wenn die Ehe nicht mehr geschützt ist, warum sollte man dann überhaupt noch heiraten? [...]“

乱七八糟的政策导致更多人不想结婚,生育率自然下降,婚姻都受不到保障,还结个p

迷小鹿N / Nutzerin, miniluN, 01.02.2023

„Das ist unfair für uns als verheiratete Frauen, vor allem für die Vollzeitmütter. Was sollen wir tun, wenn unsere Ehemänner aus einer Affäre Kinder bekommen?“

这是对我们已婚妇女的不公,尤其是我们这种全职妈妈,要是男的在外出轨生小孩,我们怎么办呢?

应该取个什么微博名才好 / Nutzerin yianggaiqugeshenmeweibomingcaihao, 05.02.2023

Neuregelung begünstigt Reiche und dient staatlichen Interessen

Im Vergleich zu weiblichen Kommentatorinnen kritisieren männliche Nutzer vor allem ein mit der Regelung verbundenes staatliches Interesse:

„Der Überlebenswille des Landes ist sehr stark!“ [A.d.R.: Dies ist ein Wortspiel, 求生欲 kann auch verstanden werden als „Der Staat will, dass die Bürger:innen mehr Kinder gebären“.]

现在国家的求生欲很强啊

邕人之不好先生 / Nutzer yongrenzhibuhaoxiansheng, 05.02.2023

„Erstmal ein politischer Versuch, damit die Bürger:innen sich an neue Maßnahmen gewöhnen. Sollte der Effekt zu stark sein, würde diese Maßnahme wieder aufgehoben werden. Ist das nicht immer die gleiche Routine? Es ist kein Wunder, dass die Leute sagen, wir hätten keine Menschenrechte, wenn es so abläuft.“

先吹个风,然后适应一段时间,反映过大就取消,这不是一直以来的套路吗~崩坏成这样也难怪别人说我们没人权

咖啡猫-_- / Nutzer kafeimao-_-, 31.01.2023

Wiederholt wird argumentiert, dass die Neuregelung vor allem Kader und wohlhabendere Schichten begünstige:

„[Diese Maßnahme] ermöglicht nur den Reichen und Beamten rechtmäßig mehr Kinder zu bekommen.“

让有钱人当官的合理合法多生

余三少 / Nutzer yusanshao, 30.01.2023

„[Diese Maßnahme] begünstigt nur korrupte Behörden und reiche Geschäftsmänner. Die Armen können es sich nicht leisten, Kinder zu kriegen. Gesetz und System sind in der Tat die Erpressungsmittel des Kapitalismus.“

福利了贪官,福利了有钱富商。穷的还是生不起。法律和制度的确是资本主义的剥削手段。

庄肖律师南京益邦所 / Anwalt Zhuangxiao nanjingbangsui, 05.02.2023

Grafik 3

Öffentliche Debatte zeigt: Chinas Führung kann Familienmodelle und individuelle Geburtenplanung nicht ohne weiteres ändern

Während staatliche Stellen und Expert:innen eher die neu gewonnenen Gleichstellungsaspekte der Regelung betonen, äußern sich Bürger:innen auf einer von Chinas größten sozialen Medienplattformen vorwiegend skeptisch. Sie sehen eine Ermutigung außerehelicher Beziehungen und einen potentiellen moralischen Werteverfall, da man sich über rechtliche Nachtteile für ein aus einer Affäre entstandenes Kind keine Sorgen mehr machen müsse.

Hier wird deutlich, dass tradierte Familienmodelle und -ideale nicht leicht aufzubrechen sind und eine gesetzliche Lockerung die bestehenden gesellschaftlichen Stigmata nicht einfach auflösen kann. Die ablehnenden Kommentare von Netzbürger:innen, die die „Institution Ehe“ in Gefahr sehen, zeigen, dass traditionelle und patriarchale Familienstrukturen nach wie vor fest in der chinesischen Gesellschaft verankert sind. Bis unverheiratete und alleinerziehende Mütter voll akzeptiert werden wird es wohl noch ein langer Weg sein.

Internetnutzer:innen verweisen allerdings auch mit scharfem Ton auf die staatliche Motivation und Interessen hinter der Neuerung. So ginge es der Regierung weniger um den Schutz von Kindern, sie hoffe vielmehr auf eine steigende Geburtenrate. Zudem käme die Lockerung vor allem Reichen und Beamten zu Gute. Auch sozialpolitische Herausforderungen verhindern somit die gewünschte Steigerung der Geburtenrate. Laut einer staatlichen Umfrage von 2017 nennen die Befragten an erster Stelle die hohen Kosten4 als Gründe für die Entscheidung gegen eine größere Familie. Auch fehlende Unterstützung in der Kinderbetreuung wird genannt. Netizens bemängeln, dass die staatliche Förderung für junge Familien trotz neuer Elternzeit- und Elterngeldregelungen immer noch nicht ausreicht.

Angesichts des erstmaligen Bevölkerungsrückgangs Chinas im Jahr 2022 gibt die demografische Entwicklung dem Staat weiter Anlass, mit neuen Maßnahmen und Lockerungen zu experimentieren. War es beispielsweise bis dato gesellschaftlich verpönt, bereits im Studium Kinder zu bekommen, wurde nun während der Jahressitzung des Nationalen Volkskongresses vorgeschlagen, dass Master-Studierende oder Promovierende an den Universitäten bessere Unterstützung und finanzielle Anreize für die Betreuung des Nachwuchses erhalten sollen. In den kommenden Jahren sind noch weitere Schritte zu erwarten, die mit etablierten Regeln brechen – und vermutlich neue Debatten auslösen werden.

China Spektrum Reader Juni 2023

  • CS Juni

    Chinas Sicherheitsinitiative + ChatGPT + Gleichstellung unehelicher Kinder

Große Öffnung, große Erleichterung? Chinas Netizens diskutieren Kehrtwende in der Pandemiepolitik

Was ist passiert?

Nach drei Jahren strikter Corona-Maßnahmen verkündete die chinesische Regierung im Dezember 2022 plötzlich das Ende der „Null-Covid-Politik“. Innerhalb eines Monats erließ die Zentralregierung in Form der „Zwanzig Maßnahmen“ und der „Zehn Maßnahmen“ Vorgaben für Lokalregierungen, eine „langsame Rückkehr zur Normalität bei minimalen Kosten durchzusetzen“. Lokale Behörden interpretierten die nur sehr vage formulierten Vorgaben zwar unterschiedlich, öffneten aber alles nahezu komplett, indem sie beispielsweise Ausgangssperren und Testpflichten aufhoben.

Wie sehr sich die Rhetorik der Zentralregierung schlagartig geändert hat, zeigt ein Blick in die staatliche Volkszeitung (人民日报). Bis Mitte 2022 wurde die „Dynamische Null-Covid-Politik“ (动态清零) als nationale Priorität und als Zeichen der Überlegenheit des chinesischen Systems im Umgang mit dem Virus kommuniziert. Die Regierung und staatliche Medien riefen wiederholt zum „Durchhalten“ (坚持) auf und verwiesen stets auf die große Gefahr des Coronavirus für die Bevölkerung.

Im November schlugen staatliche Medien dann plötzlich andere Töne an: Gesundheitsexpert:innen, die zuvor vor der Gefahr des Virus warnten, sprachen nur noch von einer „Corona-Erkältung“ (新冠感冒) und betonten die geringe Sterberate. Der bekannte Virologe Zhong Nanshan (钟南山) erklärte in einer Vorlesung, dass „die Bürger:innen keine Angst mehr vor der Omikron-Variante […] haben“ müssten.

Von gefährlicher Krankheit zu harmloser Erkältung

Von gefährlicher Krankheit zu harmloser Erkältung

Der plötzliche Umschwung in der Corona-Politik hatte weit mehr als nur eine einfache Erkältungswelle zur Folge. Eine Flut an Neuinfektionen überrollte Chinas Gesundheitssystem: Bilder und Videos von überlasteten Krankenhäusern und Krematorien kursierten in Chinas sozialen Netzwerken ebenso wie Hilferufe nach schnell ausverkauften fiebersenkenden Medikamenten wie Ibuprofen. Laut offiziellen Zahlen der nationalen Gesundheitsbehörde erreichte die Infektionswelle mit etwa 150 Millionen positiven PCR-Tests am 9. Dezember 2022 sowie 128.000 neuen Covid-Fällen in Krankenhäusern am 5. Januar ihren Höhepunkt. Falschinformationen, wie zum Beispiel über die Covid-lindernde Wirkung von Durchfallmitteln, verunsicherten die ohnehin besorgte Bevölkerung zusätzlich.

Was sagen chinesische Netzbürger:innen dazu?

Einblick in Diskussionen zur Öffnung geben zum Beispiel chinesische Onlineforen. Um Reaktionen aus der chinesischen Bevölkerung zu analysieren, haben wir auf Zhihu (知乎), einer populären chinesischen Frage-Antwort-Plattform, die Frage ausgewählt, die zum Thema der Öffnungspolitik bis Mitte Januar die meisten Antworten erhalten hatte: „Bereuen diejenigen, die die ganze Zeit nach Koexistenz mit dem Coronavirus gerufen haben, das jetzt?“ (那些当初整天喊着提倡和新冠共存的人现在有没有后悔? ).

Auf diese Frage wurden bis zum 17. Januar 2023 fast 6000 Antworten gepostet, von denen manche über 19.000 Likes erhielten. 1052 der Antworten wurden von anderen Nutzer:innen gelikt, davon haben wir die meist gelikten 20% auf Themen, Kritik und Positionierung zur Öffnung analysiert.

Zwei Extreme und eine breite Mitte

Unsere Analyse zeigt ein sehr gemischtes Bild, was die Verunsicherung der chinesischen Bevölkerung durch den plötzlichen Politikwechsel widerspiegelt. Im Meinungsspektrum finden sich die zwei Extreme: die „Koexistenzler:innen“ (共存派) befürworten die Öffnung und ein „Leben mit dem Virus“, während „Null-Covid-Anhänger:innen“ (清零派) die bisherige strenge Politik der Pandemiebekämpfung unterstützen. Neben diesen beiden Positionierungen überwiegen allerdings die Nutzer:innen, die sich keiner Position klar anschließen.

Beschuldigung der jeweils anderen Position

Das eine Lager beschuldigt Anhänger:innen der anderen Seite für deren als egoistisch empfundene Haltung (6,67%) der analysierten Posts.

So kritisieren die Befürwortenden der Null-Covid-Politik die Koexistenzler:innen für zu wenig Verantwortungsbewusstsein:

„[…] Die ‚Koexistenzler‘, die jubeln, wenn sie von der Öffnung hören, und die ihre Familien vernachlässigen, um zu feiern. Sie mögen in diesen Jahren aktiv sein und viele Spuren hinterlassen, aber der Wind der Geschichte wird sie mit Sicherheit wie Müll wegwehen.“

那些听到清零就如临大敌,听到开放就欢呼雀跃,不顾家人也要去凑热闹的“共存派”。也许他们在这几年会很活跃,会留下很多痕迹,但历史的风一定会像吹走垃圾一样吹走他们。

毒舌的Dr.Li, 2367 Likes

Die Koexistenzler:innen werfen umgekehrt den Befürwortenden der strikten Covid-Politik vor, dass sie nur an sich denken würden, auch weil sie aufgrund ihres privilegierten Status weniger unter den Maßnahmen gelitten hätten:

„Diejenigen, denen die Idee des Lockdowns gefällt, sind entweder Karrieristen, haben viel Geld oder ein persönliches Interesse an der Pandemie. Aber wissen Sie was? Die Mehrheit der Armen in China muss kämpfen, um über die Runden zu kommen. Die sind barfuß und Sie [die Null-Covid-Anhänger] tragen Schuhe.“

喜欢封控的要么事业单位,要么家底丰厚的,要么疫情既得利益者。但你知道吗?中国穷人以及在温饱线上挣扎的人占绝大多数,他们是光着脚,你们是穿着鞋。

李松林, 1187 Likes

Zweifel und Ablehnung der Null-Covid-Politik

In der Auswertung der Kommentare zeigt sich auch, dass viele Netizens (26,67%) die frühere Politik als nicht länger tragfähig betrachten:

„Eine Stadt zu versiegeln, um Null-Covid zu erreichen, ist wie einen Felsbrocken einen steilen Berg hinaufzuschieben, anfangs kann man noch durchhalten, aber die Kraft ist begrenzt und irgendwann kann man nicht mehr schieben.“

用封城来清零,就像是推着巨石上陡坡,一开始尚能坚持,但体力终究是有限的,终究有推不动的时候。

太行一棵草, 293 Likes

Verhaltene Akzeptanz der neuen Politik

Ein Großteil der Kommentierenden bezieht keine klare Stellung oder wägt ihre Position vorsichtiger ab. Viele akzeptieren die Öffnung als gegebene Tatsache, die sie zwar kommentieren, nicht aber ändern können. Obwohl sich die Kommentare auch auf Themen wie wirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen oder die langen Lockdowns beziehen, bleibt diese Gruppe in ihrer Positionierung eher neutral. Und während oft individuelle Situationen, wie die der Studierenden oder der Haustierhalter:innen, dargelegt werden, können viele Netizens der neuen Situation durchaus positive Aspekte abgewinnen:

„Ich bin besonders froh darüber, dass sich die düstere Atmosphäre der Seuchenkontrolle gelichtet hat und dass die Menschen um mich herum merklich weniger feindselig sind und einen freundlicheren Blick haben.“

特别开心,层层加码的疫情管控的阴霾散去了,身边的人明显戾气少了很多,眼神柔和了很多。

Anonym, 2433 Likes

Kritik an der Regierung

Nur ein kleiner Teil der Netzbürger:innen (3,33%) findet im Rahmen der Corona-Kehrtwende Anlass für direkte Kritik an der chinesischen Regierung. Deutlich mehr Kommentierende (12,4%) kritisieren nicht die Regierung direkt, sondern die konkreten Maßnahmen der Öffnungspolitik:

„Wenn die Öffnung richtig war, warum mussten dann die Kriterien für die Feststellung des Todes durch eine neue Coronavirus-Infektion nach der Öffnung überarbeitet werden? Warum hat die CDC [Chinesisches Zentrum für Krankheitskontrolle und -prävention] solch skandalöse Daten veröffentlicht? […] Rechtsstaatlichkeit ist kein Lippenbekenntnis, sondern geltendes Recht.“

如果放开是正确的,何至于在放开后修改新冠病毒感染死亡认定标准?何至于疾控中心公布的数据如此离谱?[…] 依法治国,不仅仅是嘴上说说.

协同教育, 237 Likes

„Es ist egal, ob man [pro-Null-Covid] oder [pro-Koexistenz] ist, die nationale Politik hat nichts mit einem zu tun, Null oder Lüge, man kann sie nur akzeptieren und dann im Internet rummotzen. Das ist alles!“

不管你是清零派还是共存派,国家政策都与你无关,清零也好躺平也好,你只能接受然后在网上哔哔赖赖。仅此而已!

不清不楚不明不白, 65 Likes

Die Debatte selbst wird zum Thema

Die Debatte selbst wird zum Thema

Bemerkenswert ist, dass sich unter den Kommentierenden Kritiker:innen und Anhänger:innen von sowohl Null-Covid-Politik als auch der neuen Öffnungspolitik finden. Beide Seiten bringen zum Ausdruck, dass sie als einfache Bürger:innen keinen Einfluss auf politische Entscheidungen haben und auch nicht nach ihrer Meinung gefragt werden. Direkte Kritik an der Regierung ist eher selten, kommt aber ebenso wie die Hinterfragung des „Systems“ vor.

Interessant ist weiterhin, dass das Coronavirus selbst sowie die von Regierung und parteistaatlichen Medien oft genannten „ausländischen Kräfte“ in dieser Diskussion nur selten thematisiert werden.

Neben der Erklärung ihrer individuellen Situationen und der Auswirkungen der Covid-Politik darauf befassen sich viele Kommentierende auch mit der entstandenen Debatte an sich: Positionierungen anderer Netizens werden hinterfragt und teils harsch kritisiert. Dabei thematisieren Nutzer:innen vor allem sozio-ökonomische Unterschiede und als unterschiedlich wahrgenommene Lebensrealitäten.

Was bedeutet das?

Die plötzliche Kehrtwende der zentralen Covid-Politik hat für Chinas Bevölkerung enorme Auswirkungen: Erkrankungen, Folgeerscheinungen sowie unzählige Todesfälle, aber auch eine abrupte Änderung der Lebensrealität nach fast drei Jahren strenger Maßnahmen und vieler Einschränkungen. Bürger:innen äußern sich auch über wiedergewonnene Freiheiten, eine neue Normalität und bessere wirtschaftliche Aussichten.

In den Online-Foren werden die Auswirkungen sowohl der strengen Covid-Politik als auch der plötzlichen Öffnung für die Bevölkerung diskutiert: Abhängig von der individuellen Lebenssituation positionieren sich die Netizens. Interessant ist die Diskussion vor allem, da die Regierung durch ihre politische Kehrwende ein Vakuum für Erklärungen geschaffen hat. Vor allem im Kontrast zur stark richtungsweisenden Kommunikation der letzten drei Jahre eröffnet dies nun neue Spielräume zum Ausdruck der eigenen Meinung und zur Diskussion verschiedener Positionen.

Diese Fragmentierung in der Politik wird auch innerhalb der Gesellschaft deutlich und online zum Ausdruck gebracht. Ein großes soziales Gefälle und sehr unterschiedliche Lebensrealitäten werden sichtbar. Abhängig von individuellen Lebensumständen, wie der familiären Situation, der Art der Arbeitsstelle und der persönlichen finanziellen Sicherheit, wirkten sich die Pandemiemaßnahmen unterschiedlich auf die Menschen aus. Anders als in demokratischen Gesellschaften fehlt es in der Volksrepublik an Mechanismen, diese gesellschaftlichen Spannungen offen zu thematisieren, auszuhandeln und im besten Fall abzubauen.

Die Online-Diskussionen machen deutlich, dass diese Spannungen existieren und ausgetragen werden, wenn eine Möglichkeit dazu besteht. Covid-Maßnahmen sind nicht der einzige Faktor, der gesellschaftliche Disparitäten deutlich macht und befördert. Die Sichtbarkeit der Diskussion um die chinesische Covid-Politik könnte aber ein Anlass für chinesische Regierungsbehörden auf verschiedenen Ebenen sein, die unterschiedlichen Lebensrealitäten innerhalb Chinas bei der Planung und Umsetzung politischer Maßnahmen stärker zu berücksichtigen. Für Beobachter:innen zeigt die Diskussion, wie divers und kontrovers Debatten auch in einem stark eingeschränkten Raum geführt werden können.

China Spektrum Reader Februar 2023

  • China Spektrum Reader Februar 2023

    Debatten über Ende von Null-Covid, TikTok unter Druck und Beziehungen zur EU

Ökonom Wen Tiejun: Mehr Staat für die Wirtschaft in unsicheren Zeiten

Die Proteste gegen die strenge Covid-Politik der chinesischen Führung und willkürliche Lockdowns haben deutlich gemacht, dass sich Menschen in vielen Teilen des Landes in ihrer Lebensgestaltung grundlegend eingeschränkt fühlen. Der Kontrollanspruch des Parteistaats droht den eigenen Traum von individueller Freiheit und Wohlstand sowie deren Grundlage, die nationale Wirtschaftsdynamik, zu ersticken.

In diesem Zusammenhang hat die bereits seit längerer Zeit geführte Grundsatzdebatte unter Chinas Eliten, wieviel Markt und wieviel Staat die chinesische Wirtschaft braucht und bzw. die Kommunistische Partei (KPC) erlauben soll, weiter an Dringlichkeit gewonnen. Besorgt beobachten Expert:innen und Unternehmer:innen in der Volksrepublik jede öffentliche Äußerung von Partei- und Staatschef Xi Jinping, insbesondere zur Konkretisierung seines Konzepts des „gemeinsamen Wohlstands“. Einige befürchten, dass Xi durch seine Betonung von Autonomie und seinem Vorgehen gegen die private Digitalwirtschaft China wieder Richtung Planwirtschaft wie zur Zeiten Mao Zedongs verändern will.

Weiter angefacht wurde die Debatte Ende September 2022, kurz vor dem 20. Parteitag der KPC. Auf verschiedenen sozialen Medien, u.a. der Videoplattform Douyin, tauchte ein Interview zum Thema Wirtschaftspolitik mit Wen Tiejun auf, einem der bekanntesten Agrarökonomen des Landes. Eingerahmt wurde das nicht klar einem Medium zuzuordnenden Gespräch von Archivaufnahmen aus den 1960er und -70er Jahren, die Szenen von landwirtschaftlichen Kollektiven zeigten. In dem Interview sprach sich Wen für eine „volksorientierte Wirtschaft“ aus. Der Beitrag löste eine rege Debatte aus.

Rückkehr zur Planwirtschaft? Wens Konzept der „volksorientierten Wirtschaft“

Wen definiert die „volksorientierte Wirtschaft“ (人民经济) dieses zunächst als ein „die autonome Entwicklung des Landes schützendes, patriotisches Wirtschaftswesen“ mit vier Besonderheiten: es ist autonom (自主性), lokal (在地性), umfassend (综合性) und auf die Bedürfnisse der Bevölkerung ausgerichtet (人民性).

Obwohl diese Begriffe wie typischer Parteijargon klingen, ließ insbesondere Wens Interpretation des Begriffs „umfassend“ aufhorchen. Wen spricht sich für die Definition größerer „sozialer Bereiche“ (社会事业) aus, die in kollektivem Besitz bleiben. Private chinesische Unternehmen oder ausländische Firmen sollen hier keinen Zugang haben. Liberalere chinesische Ökonomen kritisierten Wens Äußerungen scharf und werteten sie als Plädoyer für die Rückkehr zu planwirtschaftlichen Strukturen:

So äußerte sich Ren Zeping, ehemaliger Chefökonom beim Immobilienriesen Evergrande stellvertretend für andere führende liberale Ökonomen:

„Kürzlich lehnte ein sogenannter ‘Professor’ [gemeint ist Wen Tiejun] die Marktwirtschaft ab und propagierte eine Rückkehr zu Planwirtschaft und Abschottung. Dieses Modell ist weltweit schon mehrfach gescheitert. […] Er ist ungebildet und seine Ansichten sorgen bei Privatunternehmen für große Befürchtungen. […] China hat von der Marktwirtschaft und Globalisierung profitiert, sie gefördert und mitvorangetrieben). China wird auch in Zukunft am System der Marktwirtschaft und Internationalisierung festhalten.”

Steckbrief Wen Tiejun

Steckbrief Wen Tiejun

Wen Tiejun hatte bereits im Sommer 2021 auf dem renommierten „Forum mit 40 Wissenschaftlern zur politischen Ökonomie Chinas“ das Konzept der „roten Wirtschaft“ (红色经济) vorgestellt. Neben den vier Charakteristika der „volksorientierten Wirtschaft“ betonte Wen in seinem Vortrag vor allem die nationalistisch aufgeladenen Dimensionen des „Antiimperialismus“ und „Antikolonialismus“. „Rot“ steht dabei für eine ideologisch verklärte Wahrnehmung von Kommunismus und Sozialismus – definiert und bewahrt durch die Kommunistische Partei.

In seinen früheren Publikationen und Reden zur Lage des ländlichen Chinas hatte sich Wen zwar bereits klar für eine stärkere Rolle des Staates ausgesprochen. Er betonte dabei jedoch eine stärker moderierende Rolle des Parteistaats, der vor allem soziale Ungleichheit und den ökologischen Raubbau in der chinesischen Landwirtschaft bekämpfen sollte.

Ökonom:innen meinen, dass Wen mit dem Konzept der „volksorientierten Wirtschaft“ planwirtschaftliche Mechanismen als Lösung für Chinas kriselnde Wirtschaft propagieren will und dabei von populistischen Vertretern einer maoistischen Linken in der Partei unterstützt wird. Die unter Xi Jinping jüngst wiederbelebten „Versorgungs- und Absatzgenossenschaften“ (供销社) bieten Wen und seinen Mitstreitern dabei eine unverfängliche Anknüpfmöglichkeit, auch wenn er dies selbst nicht erwähnt. Die 1950 gegründeten Genossenschaften waren vor Beginn der Reform- und Öffnungspolitik 1978 eine bedeutende planwirtschaftliche Organisationsform und zuständig für den Handel zwischen Stadt und Land. Im Laufe der Zeit verloren sie immer mehr an Bedeutung, gänzlich verschwunden sind sie jedoch nie.

2022 initiierte die Zentralregierung in unterschiedlichen Teilen des Landes, darunter auch Guangdong und Beijing, die Wiederbelebung von bestehenden und die Einrichtung von neuen Genossenschaften. Diese sind offensichtlich sowohl ein Element von Xis wirtschaftlicher Strategie für den Aufbau einer einheitlichen Versorgung als auch eine Entlastung für mögliche Engpässe, z.B. durch die strikte „Null-Covid-Strategie“.

Mehr Staat oder mehr Markt – der Kurs bleibt unklar

Wen Tiejun äußerte sich kaum zur Kritik an seinen Ideen und ließ stattdessen andere für sich sprechen. Diese Kommentatoren wiesen den Vorwurf zurück, dass er eine Rückkehr zur Planwirtschaft forderte. Sie bezeichneten Wen als einen der wenigen Wissenschaftler, denen die Entwicklung des ländlichen Chinas ein Anliegen sei.

Ob das Konzept der „volksorientierten Wirtschaft“ tatsächlich als ein Testballon oder Signal für eine stärkere staatliche Lenkung der Wirtschaft angesehen werden kann, lässt sich nicht sagen. Die Verunsicherung der Experten hängt auch damit zusammen, dass Xi Jinping sein Konzept des „gemeinsamen Wohlstands“ bislang nicht mit konkreten Inhalten gefüllt hat. Dies liegt auch daran, dass Xi in der Partei zwischen den Befürwortern einer markt- und denen einer staatsorientierten Wirtschaft offensichtlich trotz seiner Machtfülle weiter Kompromisse suchen muss. Er wolle zunächst „den Kuchen“ größer machen, um dann eine Umverteilung vornehmen zu können, lautet derzeit Xis Devise.

Mit welchen Mechanismen und Mitteln dies geschehen soll, ist vor dem Hintergrund der jüngsten Protestwelle eine drängende Frage für die Parteiführung. Zwar wurden die strikten Covid-Restriktionen in weiteren Teilen des Landes im Dezember auch mit Blick auf die Revitalisierung der Wirtschaft gelockert. Doch bringen auch Krankheitswellen wirtschaftliche Kosten, die insbesondere kleinere Unternehmen und sozial Schwächere treffen. Es ist daher wichtig zu beobachten, ob das Konzept der „volksorientierten“ Wirtschaft weiter Aufwind bekommt und welche konkreten Maßnahmen damit möglicherweise verknüpft werden.

Weiterführende Informationen:

China Spektrum Report Januar 2023

  • China Spektrum Report Januar 2023

    Olaf Scholz in Beijing + Mehr Staat für die Wirtschaft + Skepsis gegenüber digitaler Währung