Mehr Demokratie, weniger Volk
Tunesien war der Hoffnungsträger des arabischen Frühlings. Heute ist das Land wirtschaftlich angeschlagen, Teile der Bevölkerung haben den Traum der neuen Demokratie und einer besseren Ökonomie begraben. Wieviel Hoffnung können die Gemeindewahlen vom 6. Mai dem Land bringen?
Nach dem Umsturz im Jahre 2011 hat sich das Land politisch von Grund auf verändert. Eine neue Verfassung aus dem Jahr 2014 bestimmte den Weg zu einer bürgernahen Regierung (Artikel 7), die nach viermaligem Aufschub in den letzten Jahren über Gemeindewahlen nun umgesetzt werden sollte.
Die Lage in Tunesien hat sich verbessert
Tunesiens Bürger befinden sich seit der Vertreibung des Diktators Ben Ali in einer endlos scheinenden Schleife der politischen Veränderungen. Dabei fallen viele der neuen Regeln und Dekrete nicht in die Logik der Geschichte des Landes und werden von der Bevölkerung in der Breite oft nur marginal verstanden und aufgenommen. Dennoch ist im Lande weiter eine Atmosphäre des Aufbruchs spürbar. Presse- und Versammlungsfreiheit sind signifikant verbessert, Polizeisanktionen fallen humaner aus, allerdings hält die wirtschaftliche Entwicklung nicht Schritt mit den von Politikern und in der Presse geschürten Hoffnungen auf ein besseres Leben für alle. Die sogenannte wirtschaftliche Dividende der Demokratie wird für die Wahrnehmung der meisten Tunesier nicht ausgeschüttet.
Warum bleiben zwei Drittel der Wähler zu Hause?
Sind dies die Gründe, warum die Wahlbeteiligung nur bei 33,7 Prozent lag? Oder war auch die unzureichende Veranschaulichung der geplanten Gemeindeordnung durch die Regierung verantwortlich für das Desinteresse und die geringe Wahlbeteiligung? Die fast 400 Artikel der neuen Gemeindeordnung wurden erst wenige Tage vor den Wahlen von der Regierung verabschiedet, sie sind bis heute nicht publiziert. Auch die Massenmedien konnten auf der Basis einer dünnen Informationslage nicht überzeugend berichten. Außer Apellen gab es wenige Informationen, die eine bürgernahe Regierung veranschaulichen und vermitteln müsste, um in ihrem Vorhaben zu überzeugen.
In der Zwischenzeit arbeiten zahllose internationale Organisationen in relativ unkoordinierter Form an Entwicklungsprojekten jeglicher Couleur, die vor allem vom inneren Zirkel der Regierung beobachtet werden. Der Bürger ist hier oft nur Zuschauer, gelegentlich Befragter für eine Plethora von Studien und seltener ein bezahlter Akteur der geplanten Maßnahmen.
Frauen und Jugend haben bei diesen Wahlen besondere Plätze
In diesem skizzierten Umfeld haben sich immerhin über 57.000 Kandidaten in über 2.173 Listen an der Wahl beteiligt. Politische Parteien sind dabei sowie unabhängige Kandidaten und Gruppen, teilweise in Koalitionen miteinander. Manche Partei hat sich lokal mit je verschiedenen anderen Parteien oder unabhängigen Kandidaten verbündet, um ihre Wahlchancen zu verbessern. Innovative Elemente dieser neuen Regelungen für die Gemeinden sind die prozentuale Beteiligung von Frauen, jungen Menschen unter 35 Jahren und Behinderten. Die Frauenquote wurde auf 50 Prozent angehoben, dabei wurde auch die horizontale und vertikale Verteilung vorgegeben. So müssen bei den politischen Parteien 50 Prozent der Frauen die Listen der Parteien anführen. Dies hat unter anderem dazu geführt, dass die Stadt Tunis wohl zum ersten Mal eine Bürgermeisterin erhalten wird. Sie kommt von der islamischen Ennadha Partei, ( 28,6 Prozent ), die die größte Vertretung im Parlament vor der konservativen und säkularen Nidaa Tounes Partei ( 20,8 Prozent ) besitzt. Beide Parteien sind Schlüsselparteien der augenblicklichen Regierungskoalition. Lediglich die Listen der unabhängigen Kandidaten konnten ohne den sonst vorgegebenen Proporz zwischen männlichen und weiblichen Kandidaten operieren, hier lag die Frauenquote vergleichsweise niedrig, kalkuliert bei drei Prozent.
Von den rund elf Millionen Tunesiern waren gut fünf Millionen wahlberechtigt. Schließlich haben weit weniger als zwei Millionen gewählt. Militärs und Polizisten durften zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ihre Stimme abgeben, hier lag die Beteiligung bei nur rund 12 Prozent. Die Gründe sind im Korpsgeist der Uniformierten zu suchen, die sich traditionell als apolitisch definieren.
Aus den Ergebnissen der Wahl, deren endgültige Ergebnisse erst am Abend des 9. Mai bestätigt werden, können eine Reihe von wichtigen Schlussfolgerungen gezogen werden.
Ratlosigkeit nach den Wahlen
Wahrscheinlich haben viele Tunesier nicht verstanden, warum diese Wahl für Ihre Partizipation am Gemeinwesen des Landes wichtig ist. Die Schuld liegt hier eindeutig bei der Regierung, der man unterstellen könnte, dass sie an der Dezentralisierung wenig Interesse hat. Indizien hierfür sind unschwer auszumachen. Die mehrfache Verschleppung der Wahl ist nur ein Argument. Auch die Medien haben in der von der Politik vorgegebenen Informationsarmut nicht proaktiv gehandelt, um den Bürgern die möglichen Vorteile einer bürgernahen Munizipalverwaltung näherzubringen. Die gesetzlichen Regelungen der neuen Gemeindeverordnung wurden erst wenige Tage vor den Wahlen im Parlament verhandelt und verabschiedet. Die Regierung hat in den vergangenen Jahren zu viele Versprechungen nicht eingelöst: im Bereich der Ausbildung, des Arbeitsmarktes, der Steuererleichterung und vieler anderer Bereiche. Hier besteht in Tunesien nach der ersten Begeisterung nach 2011 eine gute Portion Skepsis. Warum sollte die Bevölkerung nun eine unbekannte Größe, die Dezentralisierung, die ohne Details und Veranschaulichung angeboten wurde, mit ihrem Votum belohnen?
Inzwischen häufen sich bereits Gruppierungen, die nostalgisch die alten Zeiten der Diktatoren herbeisehnen. Viele der Verbesserungen, wie die neue Versammlungs- und Pressefreiheit, die Belebung vieler Wirtschaftsbereiche, die geringere auch weniger gewaltsame Bevormundung durch den Staat werden als selbstverständlicher Wert hingenommen, ohne den Preis dafür bezahlen zu wollen.
Hier sind die Regierung und auch die im Lande operierenden Entwicklungsorganisationen aufgerufen, diesem gefährlichen Trend entgegenzutreten und immer wieder wirksam das mühsam Erreichte zu vertreten, zu verteidigen und zu kommunizieren.
Die neue Gemeindeverwaltung hat kein Finanzkonzept – 86 der neu geschaffenen Gemeinden verfügen über kein Funktionsbudget. Heute trägt Tunesien nur mit vier Prozent seines Haushalts zur Entwicklung seiner Gemeinden bei, im Vergleich zu Marokko ist es ein Mehrfaches. Auch in Tunesien muss es ein Vielfaches an Konzeption und Budget werden.
Ausblick
Aufschlussreich ist das gute Abschneiden der unabhängigen Kandidaten, ihre Anzahl ist größer als die Kandidaten der klassischen Parteien. Für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ist das Feld der Arbeit jetzt gewachsen, sie kann mit ihren Partnern und auch mit neuen Allianzen auf der Basis ihrer internationalen Erfahrungen wertvolle Beiträge zum Aufbau einer partizipativen Gemeindeverwaltung beitragen.
Die Partnerpartei der Stiftung in Tunesien, Afek Tounes, hat bei diesen Wahlen nicht gut abgeschnitten, die ersten Auszählungen schwanken zwischen 1 Prozent und 1,6 Prozent. Das mag auch daran liegen, dass die Partei viele Koalitionen eingegangen ist und mancher Erfolg wird einem anderen Koalitionspartner zugeschrieben. Auch hat sich die Partei Ende letzten Jahres in einem schlecht erklärten Schritt brüsk aus der Regierungskoalition gelöst und ihre Minister im Stich gelassen. Das hat wohl auch Prestige und Stimmen gekostet. Hieran wird in den nächsten Monaten zu arbeiten sein.
Rüdiger Graichen ist Interimsleiter des Stiftungsbüros in Tunesien.