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Nadezhda Mityushkina erhält den Boris-Nemtsov-Preis 2018

Von mutigen Freiheitskämpfern, jungen „Nerds“ und der Hoffnung auf ein demokratisches Russland

Es gibt viele Menschenrechtskämpfer in Russland und weltweit und wir sollten dafür einstehen, ihre Schicksale sichtbar zu machen.

© Susanne Horn

Der 2015 ermorderte Boris Nemtsov war ein Hoffnungsträger in Russland. In Gedenken an ihn wurde nun bereits zum dritten Mal der Boris-Nemtsov-Preis verliehen. Die Auszeichnung zeigt, dass es auch weiterhin mutige Freiheitskämpfer in Russland gibt.  

„Was macht der Nerd im grauen T-Shirt unter all diesen Freiheitskämpfern?“

Auf der Bühne steht ein junger, schlanker Mann und wirft die Frage in den Raum. Sein Gesicht hat noch kindliche Züge. Er ist kaum 20 Jahre alt. Das Publikum lauscht gebannt, als er seine Erlebnissen der letzten Monate schildert: In Russland, seinem Heimatland, wurde er massiv bedroht. Vandalen schmissen mit einem Ziegelstein sein Zimmerfenster ein. Der Stein verfehlte nur knapp seinen Kopf. Als er an einer Demonstration teilnahm, stürmten Polizisten in die Menge und zogen ihn über den nassen Asphalt. Egor Cherniuk, der junge Mann auf der Bühne, engagierte sich als Koordinator bei Alexei Navalnys Präsidentschaftskampagne. Er gehört zu den jungen Russen, die sich trotz aller Einschüchterungsversuche für ihren Traum eines freien, demokratischen Russlands einsetzten. Und genau darum steht der „Nerd im grauen T-Shirt“ zu recht unter all den Freiheitskämpfern auf der Bühne - bei der Verleihung des Boris-Nemtsov-Preises 2018 in Bonn.

Cherniuk ist einer der fünf Finalisten des diesjährigen Boris-Nemtsov-Preises, den die Boris-Nemtsov-Stiftung für die Freiheit mit Unterstützung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit am 20. Juni 2018 nun bereits zum dritten Mal verliehen hat.

In ihrem Grußwort betonte Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Mitglied im Vorstand der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und im Stiftungsrat der Boris-Nemtsov-Stiftung für die Freiheit, wie wichtig es sei, dass beide Stiftungen diesen Raum der Begegnungen und des Dialogs schaffen: „Mit der Fußball-WM wird dem Kreml eine Bühne geboten, doch auch wir haben hier in Bonn eine Bühne. Sie mag zwar etwas kleiner sein, aber auf unserer Bühne stehen Menschen, die mit Leidenschaft und Herzblut für ihre Werte eintreten."

Alexei Navalny unter den Nominierten

Neben Cherniuk zählte auch Alexei Navalny selbst zu den Nominierten. Er konnte nicht nach Bonn kommen, schickte aber seinen Stabschef Leonid Volkov zur Verleihung. Er erinnerte an die Welle der Empörung in Russland, als Boris Nemtsov im Jahr 2010 in Folge einer friedlichen Kundgebung auf den Straßen von Moskau festgenommen wurde. Die Öffentlichkeit war schockiert. Allein die hauptamtlichen Mitarbeiter der Navalny-Kampagne hätten mittlerweile zusammen mehr als 5000 Hafttage zu verzeichnen - die regelmäßigen Verhaftungen seien heutzutage aber kaum mehr eine Meldung wert, es ist Normalität geworden. Trotzdem blickt er optimistisch in die Zukunft: Während des Wahlkampfs konnte er feststellen, wie groß die Nachfrage nach Veränderung unter der Bevölkerung sei.

Mit der Fußball-WM wird dem Kreml eine Bühne geboten, doch auch wir haben hier in Bonn eine Bühne. Sie mag zwar etwas kleiner sein, aber auf unserer Bühne stehen Menschen, die mit Leidenschaft und Herzblut für ihre Werte eintreten.

Von mutigen Freiheitskämpfern, jungen „Nerds“ und der Hoffnung auf ein demokratisches Russland
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Aufarbeitung der Geschichte als Teil einer Gesellschaft

Dass der Mut zur Veränderung nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch unter den zivilgesellschaftlichen Akteuren zu spüren ist, zeigen die Beispiele von Yuri Dmitriev und Oyub Titiev. Dmitriev erforscht seit den 90er Jahren die Verbrechen des Stalinismus in seiner Region Karelien. Mit seiner Forschung steht er offensichtlich den staatlichen Interessen in Bezug auf die russische Geschichtsschreibung entgegen. Er wird bedroht und wurde mittlerweile aufgrund einer abenteuerlichen Anklage inhaftiert.

Ähnlich geht es dem vierten Nominierten, Oyub Titiev, der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien untersucht und das dortige MEMORIAL-Büro leitet. Seit Januar dieses Jahres sitzt er wegen angeblichen Drogenbesitzes in Untersuchungshaft.

Herz und Rückgrat der liberalen Opposition

Im Angesicht dieser bewegenden Geschichten und Einzelschicksale kann dem Stiftungsrat der Boris-Nemstov-Stiftung die Wahl des Preisträgers gewiss nicht leicht gefallen sein. Am Ende haben sie sich für die fünfte Finalisten und einzige Frau in der Runde, Nadezhda Mityushkina, entschieden. Die Menschenrechtsaktivistin war eine enge Vertraute von Nemtsov und ein wichtiger Rückhalt seiner Solidarnost-Bewegung. Seit seiner Ermordung pflegt sie sein Erbe und hält - zusammen mit anderen Freiwilligen - regelmäßig Mahnwache auf der inoffiziell genannten „Nemtsov-Brücke“ im Herzen Moskaus.

In ihrer Laudatio beschrieb Gyde Jensen, Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Bundestag, Mityushkina als „stille Kämpferin, die nicht im Vordergrund steht, aber das Herz und das Rückgrat der liberalen Opposition bildet“. An ihrem Beispiel und dem so vieler anderer sieht man, dass „Putin zwar Russland, aber Russland noch so, so viel mehr“ sei. Sie versprach in ihrer Funktion als Bundestagsmitglied und Ausschussvorsitzende, diese Einzelschicksale verstärkt zu kommunizieren, um den Menschenrechtskampf mit Gesichtern und Geschichten zu versehen und so Aufmerksamkeit zu generieren.

Das „Hemd der Menschenwürde“ - viel wichtiger als jeder Anzug

Nadezhda Mityushkina widmete den Preis all ihren Mitstreitern, die immer wieder den Weg zu dem inoffiziellen Nemtsov-Mahnmal in Moskau finden und sein Erbe bewahren. Sichtlich gerührt bestätigte sie damit den Ruf, der ihr vorauseilt: Sie ist eine bescheiden, stille Kämpferin, die sich nicht in den Vordergrund drängt, aber essentiell wichtige Arbeit für die liberale Opposition leistet.

Es gibt viele Nadezhdas in Russland und weltweit und wir sollten dafür kämpfen, ihre Schicksale sichtbar zu machen. Oder wie es Alexander Cherkasov ausdrückte, der für den inhaftierten Titiev sprach: „Menschenrechtskämpfer brauchen keinen Dresscode, sie sind nicht an ihrem Anzug oder ihrer Krawatte zu erkennen, aber sie alle tragen das Hemd der Menschenwürde.“ Und so passt auch der „Nerd im grauen T-Shirt“ wieder wunderbar in die Veranstaltung zum Boris-Nemtsov-Preis 2018.

Julia Ebenauer ist Referentin für Südost- und Osteuropa der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Potsdam.