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Terrorist oder Erdoğans Geisel?

Prozess gegen zivilgesellschaftliche Aktivisten startet heute
"Das „System Erdogan“ lebt ganz wesentlich von der politischen Polarisierung und hat daher letztlich kein Interesse an ruhigen Fahrwassern."

"Das „System Erdogan“ lebt ganz wesentlich von der politischen Polarisierung und hat daher letztlich kein Interesse an ruhigen Fahrwassern."

© iStock/ digicomphoto

In Istanbul beginnt heute ein Gerichtsverfahren gegen zivilgesellschaftliche Aktivisten, denen Mitgliedschaft in oder Unterstützung einer Terrororganisation zur Last gelegt wird. Unter ihnen ist Peter Steudtner, Mitarbeiter des in Berlin beheimateten entwicklungspolitischen Netzwerks „Inkota“.  Zu Recht sorgt sich die deutsche Öffentlichkeit, ob Steudtner und seine Mitangeklagten im politisch-autoritären Klima der Türkei ein rechtsstaatliches Verfahren erwartet. Im Gespräch mit freiheit.org bezieht der Leiter des Stiftungsbüros Türkei,  Hans-Georg Fleck, Stellung.

Der auch in Deutschland bekannte AKP-Parlamentarier Mustafa Yeneroğlu hat erst kürzlich wieder bestehende Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit gerichtlicher Verfahren in der Türkei zurückgewiesen. Dürfen alle, die sich Sorgen um Peter Steudtner machen, sicher sein, dass ihn eine unvoreingenommene Untersuchung der gegen ihn erhobenen, schweren Vorwürfe erwartet?

Verfolgt man das politische und mediale Klima in der Türkei unter den erst jüngst wieder verlängerten Bedingungen des Ausnahmezustandes, so kann diese Frage – leider (!) – nur mit einem klaren „Nein“ beantwortet werden.

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Nahezu täglich hört und liest man von Verhaftungen türkischer oder auch ausländischer Bürger, denen zumeist die Mitgliedschaft oder zumindest Unterstützung entweder der kurdischen Organisation PKK oder der Gülen-Bewegung zur Last gelegt wird. Letztere wird spätestens seit dem – in seinen Zusammenhängen und Ursachen nach wie vor mysteriösen – Militärputsch-Versuch vom 15. Juli 2016 nur noch als „Fethullahistische Terrororganisation“ bezeichnet, kurz: FETÖ. Häufig wird den Verhafteten die Verbindung zu PKK und (!) FETÖ vorgeworfen, was – um es sehr holzschnittartig mit deutschen Lesern vertrauten Termini zu vergleichen – in etwa so plausibel ist, wie wenn man einem Bürger unserer Breiten die gleichzeitige Mitgliedschaft  in der „Rote-Armee-Fraktion“ und in der „Wehrsportgruppe Hoffmann“ vorgeworfen hätte.

In den Medien werden die zivilgesellschaftlichen und Menschenrechts-Aktivisten vielfach schlicht als Verräter, Agenten oder Staatsfeinde diffamiert. An diesen Vorverurteilungen beteiligt sich – und zwar in vorderster Linie – der oberste Repräsentant des türkischen Staates. Welcher Staatsanwalt, und vor allem, welcher Richter ist in einem solchen Klima noch frei, aufgrund der – im Regelfall ohnehin völlig abstrusen, widersprüchlichen und unlogischen – „Beweislage“ ein faires Urteil zu fällen? Von wem kann man den Mut erwarten, den eindeutig artikulierten Schuldzuweisungen von oberster politischer Stelle durch richterliches Handeln den Platz zuzuweisen, der ihnen im Rechtsstaat zukommt? Noch keines der abertausend schwebenden politischen Verfahren hat mit Freisprüchen geendet, denn das Gericht hat nicht der Tatsache Rechnung getragen, dass Aussagen anonymer Zeugen, ein Konto bei einer verdächtigen Bank, die Nutzung einer mit terroristischen Aktivitäten assoziierten Smartphone-App oder schlicht das Verfassen regierungskritischer Presseartikel in einem Rechtsstaat nicht ausreichen, um einen unbescholtenen Bürger u. U. für viele Jahre ins Gefängnis zu sperren.

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Vor wenigen Tagen erst ist der führende türkische Kulturmäzen und zivilgesellschaftliche Aktivist Osman Kavala verhaftet worden. Was bedeutet diese Verhaftung für die Lage der türkischen Zivilgesellschaft?

Osman Kavala, der erfolgreiche Unternehmer und Vorsitzende der „Anadolu Kültür-Stiftung“, von manchen als „Roter Soros“ tituliert, ist nicht irgendwer. Er ist eine der national wie international führenden Persönlichkeiten der kulturellen und zivilgesellschaftlichen Szene; Begründer eines renommierten Verlages, der die Werke des Literatur-Nobelpreisträgers Orhan Pamuk verlegt; Sponsor der Aktivitäten u.a. von Amnesty International in der Türkei und einer der „Tabubrecher“, die es zuerst gewagt haben, die Mythen der türkischen politischen Kultur zum Umgang mit Armeniern oder den Kurden zu konterkarieren und offen vom Genozid an den Armeniern zu sprechen. Nun wirft man auch Kavala die Verwicklung in die sogenannte FETÖ-Verschwörung vor. Staatspräsident Erdoğan hat in ihm zudem einen der wesentlichen „Drahtzieher“ hinter den Gezi-Park-Ereignissen des Frühsommers 2013 ausgemacht.

Dieser Vorgang ist auch deshalb so besorgniserregend, weil er zeigt, dass selbst jahrelange, wenngleich kritische, so doch positiv zugewandte Beziehungen zur AKP und ihrer Führung heutzutage niemanden davor bewahren, in das Räderwerk des autoritären Systems zu geraten. Der Fall Kavala, wie auch der des unzweifelhaft AKP-nahen Analysten Şaban Kardaş, deuten auf eine neue Welle der „Säuberungen“ in der türkischen Zivilgesellschaft hin, bei denen geradezu jeder, der z. B. früher einmal als Leser der (als Gülen-nahe geltenden) Tageszeitung „Zaman“ identifiziert worden ist, in den Sog des anti-gülenistischen Rachefeldzugs geraten kann. In dessen Kontext stehen natürlich auch die Verhaftungen im Juli 2017 auf der Insel Büyükada vor den Toren Istanbuls, die aus dem  Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner, gleichsam über Nacht, einen gefährlichen „Verschwörer und Agenten“ gemacht haben.

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Nach der Verhaftung von Peter Steudtner hatte die Bundesregierung sich dazu durchgerungen, den politischen Kurs und die Rhetorik gegenüber Ankara deutlich zu verschärfen. Glauben Sie, dass diese Botschaft beim türkischen Partner angekommen ist?

Hierzu gibt es – je nach Blickwinkel – sehr unterschiedliche Bewertungen. Und das ist auch verständlich, wenn man die Breite der deutsch-türkischen Interaktionen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft  in Rechnung stellt. Zu unterschiedlich sind die Interessenlagen, um hier ein einheitliches Reaktionsmuster zu unterstellen. Es gibt die, die sozusagen täglich darauf hoffen, dass die „deutsch-türkische Eiszeit“ in beiderseitigem Interesse zu einem raschen Ende kommen möge, damit eine über Jahrzehnte überaus erfolg- und beiderseits ertragreiche Kooperation fortgesetzt werden kann. Aber es gibt auch jene, die – ganz nüchtern – auf absehbare Zeit keine Verbesserung der Lage erwarten, weil sie davon ausgehen, dass das „System Erdogan“ ganz wesentlich von der politischen Polarisierung lebt und daher letztlich kein Interesse an ruhigen Fahrwassern hat.

Ob die Signale aus Berlin in Ankara verstanden worden sind? Die anhängigen, durchweg komplett fragwürdigen und rechtsstaatsfernen Gerichtsverfahren gegen deutsche Staatsbürger in der Türkei werden zeigen, ob man die „Zeichen an der Wand“ richtig deutet. Hierzu wird es auch einer klaren Positionierung der neuen Bundesregierung bedürfen, die der deutschen und der türkischen Öffentlichkeit unmissverständlich klar machen muss, dass sich die deutsche Kritik nicht gegen „die Türkei“, sondern gegen „das System Erdogan“ und dessen Kurs des Autoritarismus richtet.

Wenn Deutschland vom NATO-Partner Türkei  rechtsstaatliches Handeln gegenüber deutschen wie türkischen Bürgern einfordert, ist dies nicht, wie in den immer stärker nationalistisch-islamistisch argumentierenden Systemmedien der Türkei gerne behauptet, eine „Einmischung in innere Angelegenheiten“, sondern ein den Werten unserer Verfassungsordnung geschuldetes Vorgehen, das eigentlich auch vom Partner in der atlantischen Wertegemeinschaft richtig verstanden werden sollte. Deutschland braucht allerdings auch die Unterstützung der europäischen Partner, die bei der politischen Führung der Türkei nicht durch vornehme Zurückhaltung den falschen Eindruck bestärken sollten, als sei das Eintreten für Menschen- und Bürgerrechte lediglich eine „Marotte“ Deutschlands, das der selbstbewussten Türkei ihren nationalen (Wieder-)Aufstieg neidet. Hier gilt es für die deutsche Außenpolitik, viel Arbeit zu leisten – aber auch für die deutsche Innenpolitik, und zwar nicht nur in Berlin-Kreuzberg, Duisburg-Marxloh, Köln-Kalk oder in anderen deutschen Ballungszentren.

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