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Geberkonferenz in London
Wiederaufbau trotz Krieg?

Warum die Ukraine den Wiederaufbau jetzt organisieren muss
Die deutsche Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Svenja Schulze, der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal, der britische Außenminister James Cleverly und der Schweizer Außenminister Ignazio Cassis bei der Abschlussveranstaltung am zweiten und letzten Tag der Ukraine Recovery Conference (URC) in London

Die deutsche Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Svenja Schulze, der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal, der britische Außenminister James Cleverly und der Schweizer Außenminister Ignazio Cassis bei der Abschlussveranstaltung am zweiten und letzten Tag der Ukraine Recovery Conference (URC) in London.

© picture alliance / EPA | ANDY RAIN / POOL

Vergangene Woche ist London noch ukrainischer geworden. Hunderte von Ukrainern kamen in die britische Hauptstadt: Vertreter der zentralen und lokalen Behörden, des öffentlichen Sektors und der Fachwelt sowie der Wirtschaft waren vor Ort. Auch die internationalen Geldgeber waren dabei. Der Anlass war von großer Bedeutung: die Ukraine Recovery Conference, die gemeinsam mit einer Reihe an Veranstaltungen, darauf abzielte, ein wirksames System des Wiederaufbaus für die Ukraine auf den Weg zu bringen. 

Viele Menschen fragen sich vielleicht: Warum mit dem Wiederaufbau beginnen, während der Krieg noch tobt? Tatsächlich sollte die Unterstützung der ukrainischen Armee beim Widerstand gegen die brutale russische Aggression die Priorität sowohl für alle Ukrainer als auch für die zivilisierte internationale Gemeinschaft bleiben, deren Werte die ukrainische Armee verteidigt. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass der Krieg zwar gewonnen wird, aber das Land auf der Strecke bleibt. Jeden Monat integrieren sich Ukrainer, die ins Ausland gegangen sind (meist Frauen und Kinder), in ihre Aufnahmeländer. Dabei beabsichtigen immer weniger von ihnen, in die Ukraine zurückzukehren. Zweifelsohne ist der Sicherheitsfaktor der Schlüssel zu ihrer Rückkehr, aber auch wirtschaftliche und infrastrukturelle Faktoren sind wichtig: die Menschen brauchen Arbeitsplätze und Wohnungen. Zweitens verdienen es die ukrainischen Soldaten nicht, in zerstörte Städte und Dörfer zurückzukehren, sondern in entwickelte und komfortable Gemeinden, für die sie kämpfen und ihr Leben riskieren. Letztlich ist der Widerstand eine Antwort auf den völkermörderischen Krieg von Wladimir Putin; trotz der Versuche des Kremls, die Ukraine zu zerstören, erhebt sich das Land wie der Phönix aus der Asche.

Zivilgesellschaft beteiligte sich aktiv an Wiederaufbau

Seit der ersten Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine im Juli 2022 in Lugano wurde dieser Prozess häufig kritisiert: weil erstens die Auswahl der Projekte nicht immer nachvollziehbar war, und zweitens eine Distanz zwischen Anspruch und der tatsächlichen Zusammenarbeit mit dem offiziellen Wiederaufbauprozess und den lokalen Behörden sowie der Zivilgesellschaft bestand. Dabei wurde im vergangenen Jahr viel Arbeit im Bereich Wiederaufbau vor allem auf kommunaler Ebene geleistet. Die Zivilgesellschaft beteiligte sich ebenso aktiv an diesem Prozess und organisierte Dutzende gemeinsamer Treffen sowohl in Kyjiw als auch in den Regionen. Diese Arbeit führte zu mehreren wichtigen Schlussfolgerungen, die die Grundlage für den Wiederaufbau der Ukraine bilden sollten und die in London intensiv diskutiert wurden:

  1. Dezentralisierung. Der Wiederaufbauprozess sollte so dezentral wie möglich laufen, und die Projekte sollten nach dem Subsidiaritätsprinzip durchgeführt werden – alles, was direkt auf Gemeindeebene umgesetzt werden kann, sollte auch auf Gemeindeebene umgesetzt werden.
  2. Einbeziehung der Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft sollte in alle Wiederaufbauprozesse einbezogen werden, von der Planung bis zur Umsetzungskontrolle. Darüber hinaus können Vertreter von Organisationen der Zivilgesellschaft, darunter viele effiziente Projektmanager, die direkte Durchführung von Projekten übernehmen.
  3. Einbeziehung der Wirtschaft. Die Regierung sollte gemeinsam mit der Wirtschaft Wiederaufbaupläne und -programme entwickeln und umsetzen, um die Gemeinden zu stärken. Im Ergebnis hat die Konferenz in London einen großen Durchbruch geschafft: Zum ersten Mal wurde von allen hohen Tribünen klar zum Ausdruck gebracht, dass privates Kapital die größte und wichtigste Quelle für den Wiederaufbau sein wird. Das heißt, trotz der Berechnung von Hilfen, Zuschüssen und eingefrorenen russischen Vermögenswerten werden Investitionen auf nationaler und lokaler Ebene die Hauptrolle spielen. Die veränderte Haltung der ukrainischen Regierung dazu wurde von allen wahrgenommen – die Beteiligung der Privatwirtschaft ist ein weiterer Ansporn für notwendige Wirtschaftsreformen, Rechtsstaatlichkeit und konkrete Investitionsprojekte.
  4. Projektbüros. Der Wiederaufbau der Ukraine ist ohne die Umsetzung konkreter Projekte vor Ort unmöglich. Heutzutage arbeiten viele Gemeinden an Wiederaufbauplänen und -programmen. Auf der Grundlage dieser Dokumente werden für jede der Gemeinden Dutzende von Projekten entwickelt, für deren Umsetzung eine große Anzahl von Projektmanagern erforderlich ist – hochqualifizierte Fachleute, die die Projekte von der Entwicklung bis zur komplexen Umsetzung begleiten können.
  5. Build back better: Besser wiederaufbauen. Bei der Vorbereitung kurzfristiger Projekte zum schnellen Wiederaufbau von Gemeinden müssen die langfristigen, strategischen Interessen ihrer Entwicklung berücksichtigt werden. Oft reicht es nicht aus und ist auch nicht ratsam, ein beschädigtes oder zerstörtes Objekt in seinem früheren Zustand wiederherzustellen. Vor Beginn der Arbeiten ist eine gründliche Analyse der Möglichkeit einer Änderung oder Ersetzung des Objekts erforderlich, um seine Rolle im Leben der Gemeinde zu optimieren.

Lokale Behörden und öffentliche Hand als zentrale Akteure

Es waren diese Schlüsselbotschaften, die in London im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der Ukraine zu hören waren und es möglich machen, um von einer Vision zu konkreten Projekten zu gelangen. Die Konferenz unterstreicht, dass die institutionelle Umsetzung des Wiederaufbaus auf dem „Bottom-up“-Prinzip basieren sollte und dass die lokalen Behörden und die öffentliche Hand im Allgemeinen die entscheidende Rolle in diesen Prozessen einnehmen müssen. Die dezentrale Herangehensweise gilt nicht nur für einen erfolgreichen Wiederaufbau als Schlüsselfaktor, sondern auch für den künftigen EU-Beitritt der Ukraine. Im Vordergrund steht dabei Zusammenarbeit auf allen Regierungsebenen. Die Tatsache, dass diese Botschaften unter anderem direkt von Vertretern der ukrainischen Regierung überbracht wurden, gibt Anlass zu Optimismus hinsichtlich eines wirksamen und nachhaltigen Wiederaufbaus des Landes.

Taras Byk und Oleksandr Solontay, Ukrainische NGO „AGENCY OF RECOVERY AND DEVELOPMENT“.