Erdoğans Ein-Mann-Regime beenden
In wenigen Tagen finden in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt, die von vielen politischen Beobachtern als ‘historisch‘ eingestuft werden. Mit den Wahlen wird der Übergang zum Präsidialsystem abgeschlossen. Der neu gewählte Präsident wird dann die Spitze der Exekutive darstellen und über nahezu unbegrenzte Vollmachten verfügen. Während der seit 16 Jahren amtierende Recep Tayyip Erdoğan seinen Bürgern das ‘Blaue vom Himmel‘ verspricht, zeichnet die Opposition ein Schreckensszenario für den Fall der Wiederwahl des Amtsinhabers. 16 Jahre AKP und Erdoğan haben das Land quasi in zwei große, unvereinbare Lager aufgeteilt. Während Erdoğan und seine Chefideologen vom Wiederaufstieg der türkischen Nation träumen, befürchtet die Opposition den Untergang der Türkischen Republik. freiheit.org hat mit dem kurdischen Menschenrechtler und CHP-Abgeordneten Sezgin Tanrıkulu über die bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gesprochen.
Was sind Ihrer Auffassung nach die Gründe für die vorgezogenen Wahlen, die am 24. Juni, also knapp eineinhalb Jahre vor dem regulären Termin, stattfinden werden? Kritiker mutmaßen, die schwierige wirtschaftliche und finanzielle Lage des Landes hätte Präsident Erdoğan dazu bewogen, die Wahlen deutlich vorzuziehen, bevor die Zustimmungswerte sinken.
Es ist mittlerweile jedem klar, dass die regierende AKP und Erdoğan das Land nicht mehr regieren können und deshalb dazu gezwungen waren, die Wahlen vorzuziehen. Dies ist nicht das erste Mal: Als die AKP bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 die absolute Mehrheit verloren hatte, zwang sie das Land ebenfalls zu vorgezogenen Neuwahlen. Sie entschied sich nun 2018 wieder für vorgezogene Neuwahlen, um ihren eigenen Absturz aufzuhalten. Doch ich denke, dass sie es mittlerweile bereut, dass sie diese Entscheidung getroffen hat. Denn die Volksallianz, die aus der AKP und der rechtsnationalistischen MHP besteht, hat durch die vorgezogenen Wahlen auch ihr eigenes Ende vorgezogen.
Demokratische Wahlen sind dafür da, Regierungen zu wechseln, nicht zu stürzen.
Der Präsidentschaftskandidat der CHP, Muharrem Ince, hat sein 'Wahlmanifest' veröffentlicht. Was für eine Türkei versprechen Sie den Menschen für die Zeit nach dem 24. Juni?
Erdoğan wiederholt immer wieder, dass man ihn ‘stürzen‘ wolle. Doch demokratische Wahlen sind dafür da, Regierungen zu wechseln, nicht zu stürzen. Sobald sie in der Türkei von ‘Regierungssturz‘ sprechen, wecken sie bei den Bürgern böse Erinnerungen an vergangene Staatsstreiche. Erdoğan sagt quasi ‘Ihr müsst mich wählen, andernfalls macht ihr euch eines Putsches schuldig!‘. Dies ist Erdoğans Verständnis von Demokratie und Wahlen. Genau an dieser Stelle will die CHP einen Wechsel herbeiführen.
Unser Kandidat Muharrem Ince hat zweimal gegen unseren Vorsitzenden Kılıçdaroğlu für den Parteivorsitz kandidiert. Diese Wahlen haben unter sehr demokratischen Umständen stattgefunden, die den Prinzipien unserer Partei entsprechen. Und jetzt schlägt Kılıçdaroğlu Herrn Ince als Präsidentschaftskandidaten vor und unterstützt ihn. Bei der AKP können sie nicht den Hauch dieses demokratischen Wettbewerbs finden. Die allermeisten ehemaligen Weggefährten Erdoğans sind in der Zwischenzeit zu Feinden erklärt worden.
Wir versprechen für die Zeit nach dem 24. Juni also nicht nur ein demokratisches Land, sondern auch ein demokratisches Politikverständnis. Im Gegensatz zur Ein-Mann-Herrschaft propagieren wir die partizipative Politik, indem die Bürger aktiv an der Entscheidungsfindung teilnehmen. Sobald die Politik demokratisiert ist, kann man all die akuten Probleme des Landes lösen. Die Mentalität der AKP ist nicht in der Lage, die Probleme zu lösen. Denn in den allermeisten Fällen ist sie selber die Quelle dieser Probleme. Das größte Versprechen der CHP und unseres Kandidaten Ince ist es, das Ein-Mann-Regime zu beenden. Sobald dieses Problem beiseite geschafft ist, werden wir mit einem kollektiven und gesunden Menschenverstand alle Probleme unter dem Dach des türkischen Parlamentes lösen.
Welches Ergebnis erwarten Sie für die parallel stattfindenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen? Wie wird die Zusammenarbeit zwischen Präsident und Parlament auch dann gelingen, wenn es zu einer 'Kohabitation' kommen sollte, wenn also unterschiedliche Lager in den Wahlen obsiegen sollten?
Ich glaube, dass am 24. Juni sowohl Erdoğan die Präsidentschaft als auch die von ihm angeführte ‘Volksallianz‘ die Mehrheit im Parlament verlieren wird. Viele Meinungsforschungsinstitute sagen dieses Ergebnis voraus. Dass die AKP bei den Parlamentswahlen eine große Niederlage einfahren wird, ist nahezu sicher. Die Präsidentschaftswahl geht evtl. in die Stichwahl, und Erdoğan, der durch die herbe Niederlage seiner Partei angeschlagen sein wird, wird spätestens am 8. Juli abgewählt.
Bei der Ausrufung des Ausnahmezustandes (türk.: OHAL) wenige Tage nach dem vereitelten Putschversuch hieß es, der OHAL werde nur wenige Wochen gültig sein. Jetzt dauert der OHAL schon knapp zwei Jahre an und nach dem Verfassungsreferendum werden nun auch die kommenden Präsidentschaft- und Parlamentswahlen unter dem Ausnahmezustand stattfinden. Wie bewerten Sie diesen Umstand?
Der OHAL zeigt, dass die Regierung das Land unter normalen Umständen nicht mehr regieren kann. Deshalb beruft sie sich seit zwei Jahren auf den Ausnahmezustand. Die regierende AKP ist ohne den OHAL nicht mehr in der Lage, die grundlegendsten Staatsfunktionen auszuführen. Mit dem OHAL kann die AKP wichtige Freiheiten der Menschen, wie z.B. die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, außer Kraft setzen und legitime Forderungen der Bürger nach mehr Demokratie und Rechtsstaat mit Polizeigewalt niederknüppeln. Solange die AKP an der Macht bleibt, wird sie die Umstände, unter denen der OHAL aktiv bleibt, immer wieder von neuem produzieren.
Trotz einer gewissen Annäherung in letzter Zeit befinden sich die türkisch-deutschen bzw. türkisch-europäischen Beziehungen immer noch auf einem Tiefpunkt. Wie wird Ihre Partei im Falle eines Sieges die Beziehungen zu Berlin und/oder Brüssel verbessern? Können Sie konkrete Maßnahmen nennen? Werden sich die Beziehungen zu Berlin und Brüssel nach den Wahlen verbessern?
Die AKP hat den fünfzigjährigen Traum der Türkei, Mitglied der Europäischen Union zu werden, ruiniert, um an der Macht bleiben zu können. Sie hat den Westen zum Feind erklärt und hat dadurch Stimmen gewonnen, doch die Türkei hat durch dieses Vorgehen sehr viel verloren. Natürlich haben auch die Mitgliedsländer der Union in dieser Zeit viele Fehler begangen. Sie haben die Augen vor den antidemokratischen und rechtsstaatwidrigen Praktiken der Türkei verschlossen, nur um das Flüchtlingsabkommen am Leben zu erhalten.
Unser Ziel als CHP ist es, zum Frieden im eigenen Land, in der Region und in der Welt beizusteuern. Unsere unmittelbaren Nachbarn haben hier natürlich Priorität. Wir wollen die Probleme mit Syrien, Irak, Iran, Armenien und Griechenland lösen und dann eine weitergefasste Strategie für unsere Außenpolitik herstellen. Neben der EU als Ganzes werden wir auch mit wichtigen Mitgliedsländern wie Deutschland oder den Niederlanden die Beziehungen auf dem schnellsten Wege verbessern.
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