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#JetztMutMachen
Warum schotten wir uns in Krisen ab?

Ein Essay über die Hintergrunde von Abschottung aus Sicht der internationalen Beziehungen
Grenzübergang Tschechien
© picture alliance/Sebastian Willnow/dpa-Zentralbild/dpa

Wir haben den Weltraum erobert und sind auf dem Mond gelandet. Wir sandten Bilder vom Mars - und doch brachte ein winziges Virus die Welt zum Stillstand. Spitzenmanager werden nach Hause geschickt, um von Schlafzimmern aus zu arbeiten. Internationale Versammlungen wurden verschoben, Veranstaltungen bis auf weiteres vertagt. Und plötzlich sind die Prioritäten neu gemischt, und unsere Wahrnehmung hat sich enorm verändert.

Als Begleiter dieser verwirrenden Verschiebung unserer Wahrnehmungen und Interpretationen möchte ich unsere Leser an die Schlüsselkonzepte im Bereich der Theorien der internationalen Beziehungen erinnern, die uns helfen können, diese Zeit der Abschottung zu überwinden, ohne das Gleichgewicht bestehender Mächte aufs Spiel zu setzen.

Abschottung, eine Frage der Akteure oder der Struktur?

Zunächst einmal haben die präventiven Abschottungsmaßnahmen die Kernglaubenssätze der Realisten an die Stabilität in einem bipolaren System wirklich hart getroffen. Für diejenigen, die zu Hause mit ihrer Familie, ihrem Partner, Mitbewohner oder sogar allein festsitzen, ist es jetzt wichtig, über Prozesse zur Stabilisierung der Beziehungen nachzudenken. In dieser Hinsicht ist dies der richtige Zeitpunkt, um über die Aufnahme weiterer Akteure ins System nachzudenken, da man von Zeit zu Zeit mit Stellvertreterkriegen konfrontiert sein könnte.

Keine Sorge, das Hinzufügen von Akteuren macht Sie nicht weniger zum Realisten. Netflix, Bücher oder Indoor-Aktivitäten in Ihr Leben zu integrieren, wird Ihnen helfen, die Ursachen von Konflikten oder Meinungsverschiedenheiten in Kategorien oder - in der Sprache von Kenneth Waltz - in Analyseebenen zu gruppieren. Die Behandlung des Problems richtet sich dann, logisch, nach der Ursache.

Waltz, Politikwissenschaftler realistischer Machart, hat in seinem Buch "Man, the State, and War" drei Analyseebenen identifiziert. Die erste Ebene ist das "Individuum" – hier liegt die Ursache des Konflikts in der Natur des menschlichen Wesens, oder anders gesagt: an den Eigenschaften der Personen, mit denen man eingeschlossen ist. Die zweite ist der "Staat oder die Gesellschaft", hier sind soziale Ursachen wirkmächtiger als die menschliche Natur. Oder: Das Verhalten ihrer Mitmenschen ist maßgeblich geprägt durch soziale Interaktionen vor Corona. Die dritte Ebene ist das "Internationale System". Diese hilft Ihnen, die externen Kräfte zu analysieren und die politischen Entscheidungen oder die Positionierung ihrer alliierten Freunde und Familie zu bestimmen.

Ganz anders versuchen die Liberalen, mehr Allianzen und Koalitionen einzugehen, anstatt sich auf die Aufrechterhaltung des Mächtegleichgewichts zu konzentrieren. Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Abschottung liegt im festen Glauben an Strukturen, an die richtigen Institutionen und an die Diplomatie. Die Akteure sind nicht autonom und ihr Einfluss hängt zuallererst von den Entscheidungsarenen ab. Diese Denkschule empfiehlt Ihnen, zu Hause Mechanismen zu schaffen, die darauf abzielen, den Entscheidungsfindungsprozess in Übereinstimmung mit den verschiedenen Interessen zu beschleunigen. In dieser Hinsicht schlage ich vor, die Aufgaben zwischen Dingen wie Putzen, Kochen und der Aufrechterhaltung der Gesundheit innerhalb der Gruppe aufzuteilen. Und wenn Sie allein zu Hause sind, wird Ihnen die Verwendung von Werkzeugen wie einem Kalender oder Trello bei der Strukturierung Ihres Tages helfen.

Die Liberalen lehnen Machtpolitik ab und setzen sich für internationale Zusammenarbeit, wirtschaftlichen und kulturellen Austausch ein. Daher sehen sie in der Abschottung eine strukturelle Möglichkeit, sich wieder mit sich selbst oder mit der Außenwelt in Einklang zu bringen. Um diese Krise zu überleben, greifen sie als nichtstaatlicher Akteur auf das Internet zurück, um ihre Präferenzen zu bilden und ihre Wahlmöglichkeiten zu vervielfachen. Während der Arbeit von zu Hause aus können sie eine neue Sprache oder Fertigkeit erlernen, sich wieder mit ihren im Ausland lebenden Freunden verbinden oder sogar E-Treffen organisieren und Familienmitglieder einbeziehen.

Ein liberaler Lockdown könnte aufgrund der Überschneidung der Interdependenzen zwischen den Akteuren und Interessen etwas komplex sein. Dennoch basiert sie auf einer sehr präzisen Reihe von Sozialvereinbarungen, die Jean-Jacques Rousseau als Gesellschaftsvertrag bezeichnet hat. Dieses Regelwerk wird zwar vereinbart, schränkt aber die Freiheit des Einzelnen nicht ein, zu entscheiden, was er innerhalb eines begrenzten geografischen Raums tun will.

Über das Konstrukt hinaus

Während sich Realisten und Liberale in erster Linie auf den Faktor der Handlungsfähigkeit und auf das Management von Beziehungen (Konflikten) konzentrieren, könnte es Ihnen mehr Spaß machen, sich mit einem Konstruktivisten einzuschließen.

Konventionelle Konstruktivisten sind daran interessiert, die Präferenzen der Akteure zu verstehen. In der Regel gehören Mütter zu dieser Kategorie, da sie einen kognitiven Ansatz anwenden, um die Kultur des gesamten Raumes zu untersuchen, einschließlich der Präferenzen und der Gesundheitsdaten des Einzelnen. Häufig wird das Thema Geschichte angesprochen, ebenso wie die Moralnormen der Familie oder sogar des Partners.

In einem konstruktivistischen Umfeld bedingen sich die Ausformung von Akteuren und des Systems gegenseitig. Daher befürchten Konstruktivisten z.B. keine langen Ausgangssperren, da sie sich solchen Umgebungsveränderungen anpassen können. In bestimmten Kontexten wird Skepsis toleriert. Doch zu viel davon könnte unter solch unklaren Bedingungen ungesund sein. Skeptiker könnten einzelne Personen oder die ganze Gruppe dazu ermutigen, die Regeln der sozialen Distanzierung zu brechen, weil sie dem Wissen und den wissenschaftlichen Urteilen misstrauen.

Ungeachtet Ihrer Präferenz für diese oder jene IB-Theorie ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass wir diese schwierige Zeit gemeinsam durchleben. Wir sollten uns darauf konzentrieren, unsere Ressourcen zu bündeln, Allianzen zu bilden und unsere Netzwerke auszubauen. Nachdem wir diesen Krieg gewonnen haben, müssen wir unsere Kräfte vereinen, um unsere Wirtschaft wiederaufzubauen und unsere sozialen Konstrukte neu zu erfinden.

 

Yara Asmar ist Strategiemanagerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für den Nahen Osten und Nordafrika. Sie studierte an der CEU Ungarn Internationale Beziehungen.