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Liberalismus
Dahrendorf: Acht Anmerkungen zum Populismus

Die Thesen von Ralf Dahrendorf waren visionär. Seine Gedanken haben über die Jahre noch an Bedeutung gewonnen. Im Jahr 2003 erschien in der renommierten Kulturzeitschrift Transit. Europäische Revue ein Beitrag Ralf Dahrendorfs, der im Folgenden vorgestellt wird.

 

  1. Die Schwierigkeit beginnt schon mit dem Begriff Populismus. Des einen Populismus ist des anderen Demokratie, und umgekehrt. (…)
    Die Grenze zwischen beiden, Demokratie und Populismus, Wahlkampfdebatte und Demagogie, Diskussion und Verführung ist nicht immer leicht zu ziehen. Der Populismusvorwurf kann selbst populistisch sein, ein demagogischer Ersatz für Argumente.
     
  2. Populismus wird rasch zum „Rechtspopulismus“. Doch ist auch hier Vorsicht am Platze, schon weil einige der erfolgreichsten Populisten sich so ohne Weiteres nicht einordnen lassen.
    Der Grund, warum Populismus und politische Rechte oft in einen Topf geworfen werden, liegt wohl darin, dass die Themen, an denen demagogischer Populismus aufschäumt, oft klassische Themen der Rechten sind. Heute gilt das vor allem für zwei Themen: Recht und Ordnung sowie die ganze Problematik der (...) Zuwanderer und ihrer Behandlung in demokratischen Staaten.
    Beide Themen enthalten eine Lehre, die zur Erklärung der Erfolge von Populisten beiträgt: erst die Berührungsangst von Liberalen und Linken hat sie explosiv gemacht. Weil also Liberale und Linke die Themen zu vermeiden suchen, können Skrupellosere aus ihnen Kapital schlagen. So ist „Recht und Ordnung“ selbst zu einem politisch rechten Begriff geworden, und es ist der Eindruck entstanden, die Liberalen und Linken würden Unrecht und Unordnung tatenlos hinnehmen. (…)
    Es ist nicht nötig, die heikle Tagesordnung der öffentlichen Debatte denen zu überlassen, die daraus demagogisches Kapital schlagen wollen. (…) 
     
  3. Dabei hilft möglicherweise die Tatsache, dass Populisten offenbar zum Regieren unfähig sind.
    Das ist zum Teil eine Frage der Persönlichkeiten. Rechtspopulistische Führer sind oft schillernde Gestalten, die schon darum in „normalen“ Parteien nicht weit kommen. Sie sind Randfiguren mit einer schrägen Attraktivität. Auch weil sie so anders sind, werden sie gewählt.
    Zudem schaffen solche Populisten keine tragfähige Organisation um sich herum. Ihre Parteien sind lose gefügte Gebilde, voll von anderen ambitionierten Randfiguren, ohne programmatischen Kern und ohne organisatorische Disziplin. An ihnen zeigt sich in gewisser Weise, wofür politische Parteien am Ende doch gut sind.
    Vor allem aber zeigt sich bei der Regierungsbeteiligung von Populisten, dass ihr Appeal gar nicht auf Aktion gerichtet ist. Populistische Gruppen sind Protestgruppen. Das klingt indes harmloser, als es ist. 
     
  4. Nicht alle Themen für populistisches Handeln sind normalerweise auf der Rechten angesiedelt. Angesichts dessen, was meist mit Globalisierung beschrieben wird, gibt es auch so etwas wie Linkspopulismus. 
    Auch hier wieder gilt, dass die Traditionsparteien ein Thema nicht oder zumindest nicht in der richtigen Weise auf die Tagesordnung der politischen Debatte gesetzt haben. Sie haben die neoliberale Antwort auf die Herausforderungen globaler Märkte missverstanden als Förderung eines Kapitalismus ohne Regeln und Grenzen. Sie haben auch vergessen, dass man zwar Freiheit vor Gleichheit stellen, aber dabei nicht vergessen darf, dass alle Bürger auf dem gleichen Boden der Grundrechte der Teilnahme stehen müssen. 
     
  5. Populismus ist einfach, Demokratie ist komplex. Wenn Populisten regieren, merken sie das. Dann stehen sie ratlos vor der Komplexität. (…) 
    Mit Komplexität leben zu lernen - das ist vielleicht die größte Aufgabe demokratischer politischer Bildung. In reifen Demokratien wissen die Wähler, dass nicht alle Blütenträume der Politiker reifen können. 
    Für nichtpopulistische Politiker bedeutet das eine selbst komplexe Aufgabe. Sie müssen die großen Vereinfachungen vermeiden und doch die Komplexität der Dinge verständlich machen. Komplizierte Zusammenhänge verständlich zu erklären, ist eine Hauptaufgabe demokratischer politischer Führer.
     
  6. Wirft man vor diesem Hintergrund den Blick auf Institutionen, so kommt einem zunächst das Instrument des Referendums in den Sinn.
    Auch dieses Thema - so ist die Welt! - ist komplex und verbietet einfache Antworten. (…) 
    Wahrscheinlich ist es nötig, eine politische Theorie des Referendums zu entwickeln, die dieses Instrument auf wenige Themen grundsätzlich allgemeiner Interessen beschränkt. Der häufigen, ja regelmäßigen Forderung nach nationalen Volksabstimmungen in großen Ländern haftet jedenfalls der Duft des Populismus eher an als der der Demokratie.
     
  7. Der Populismus ist im Kern antiparlamentarisch, auch wenn er sich der Parlaments-wahlen bedient, um an die Hebel der Macht zu kommen. Der Erfolg populistischer Bewegungen ist daher immer auch ein Zeugnis für die Schwäche von Parlamenten. Die parlamentarische, also repräsentative Demokratie ist das Mittel, um ein vorherrschendes Meinungsklima in konkrete und realistische Entscheidungen zu übersetzen. Wo das wirksam geschieht, bleibt für die großen Vereinfacher kein Platz. 
    Das Parlament liefert im Prinzip dreierlei: einen Ort für die detaillierte Debatte von Themen, einen Ort für die Übersetzung der Debatte in Entscheidungen, und vor allem einen Ort, an dem dies nicht nur schnappschussartig, sondern über längere Zeit hin geschieht. Das ist an sich schon eine antipopulistische Funktion. Insofern steht das Parlament kraft Definition auf der Seite der Demokratie.
    Den Prozess der Aushöhlung parlamentarisch-demokratischer Formen aufzuhalten und nach Kräften umzukehren, ist eines der großen Desiderate einer Politik der Freiheit heute.
     
  8. Die Räume, in denen politische Entscheidungen heute getroffen werden, sind diffuser geworden. Wir werden regiert, ohne dass man mit dem Finger auf Regierungen zeigen könnte, die das bewerkstelligen. 
    Das bedeutet, dass vielerorts institutionelle Lücken entstanden sind, Räume, für die wir keine demokratischen Einrichtungen haben. Das sind Orte, an denen der Bazillus des Populismus gedeiht. Vor allem aber gibt es eine große generelle Lücke zwischen Bürgern und Mächtigen. Diese Lücke lädt zu Verschwörungstheorien aller Art ein, mit denen Populisten immer schon gerne gespielt haben. Sie ist insofern eine große und, wie es scheint, nachhaltige Gefahr für die Freiheit. Es geht nicht nur um ein Demokratiedefizit, das sich auch aufheben ließe, es geht um eine Demokratielücke, die zu füllen das Material noch fehlt. An Aufgaben für Demokraten fehlt es also nicht.