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„Ich bin schon ein Berliner“

Der eine floh 1945 vor den Russen, die anderen vor dem Krieg in Syrien – oder vor der Enge Ägyptens. Ein Gespräch zwischen einem deutschen Vertriebenen und Exiljournalisten über alte und neue Heimaten
heimat

Mazen Abo-Ismail stammt aus Afghanistan und ist seit 2016 in Deutschland. Seit Mai 2017 ist er Volontär der Medienanstalt Berlin-Brandenburg bei ALEX Berlin.

© Ali Ghandtschi, Tagesspiegel

Dieser Artikel wurde am Samstag den 16.06.2018 im Tagesspiegel veröffentlicht und ist online auch hier zu finden.

Der eine floh 1945 vor den Russen, die anderen vor dem Krieg in Syrien – oder vor der Enge Ägyptens. Ein Gespräch zwischen einem deutschen Vertriebenen und Exiljournalisten über alte und neue Heimaten.

Herr Zimmermann, Hend Taher, Zoya Mahfoud, Mazen Abo-Ismail, Sie alle haben Ihre Heimat verlassen. Wie kam es dazu?

Hubert Zimmermann: Ich bin 1935 in Stolp in Pommern geboren, einer Stadt nahe der Küste Hinterprommerns, im heutigen Polen. Ich war neun Jahre alt, als der Krieg zu Ende ging. Wir mussten auf abenteuerliche Art vor den Russen fliehen. Sie sind einer von rund 12 Millionen Deutschen, die wegen des Krieges fliehen mussten. Viele, die heute nach Deutschland kommen, wissen wenig darüber.

Zoya Mahfoud: Doch, ich wusste das, deutsche Freunde haben mir davon erzählt. Herr Zimmermann, haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht wie wir?

Zimmermann: Zuerst sind wir mit einem Frachtdampfer nach Swinemünde gefahren. Dort haben wir am 12. März 1945 den amerikanischen Bombenangriff miterlebt: Innerhalb einer dreiviertel Stunde haben die 1600 Tonnen Bomben auf diese kleine Stadt abgeworfen. Wir haben uns in einem Vorkeller versteckt, und als wir rauskamen, waren überall Bombentrichter, tote Pferde, tote Menschen. Die Erwachsenen haben gesagt, guckt euch nicht um, guckt nur auf eure Füße, aber ich habe mich trotzdem umgeguckt, und da brannten Lazarettzüge auf dem Bahnhof, es war ein Inferno.

In Saßnitz auf Rügen, wo Sie mit Ihrer Familie Zuflucht fanden, sind Sie bis 1946 geblieben ...

Zimmermann: Ja, aber Anfang Juni 1945 hat uns der Russe über den zerstörten Rügendamm nach Stralsund zurückgetrieben. Wir wollten von Pasewalk aus mit einem sowjetischen Beutezug wieder nach Osten fahren. Aber da kam polnische Miliz mit aufgepflanztem Bajonett und hat alles, was deutsch sprach, aus dem Zug getrieben. Das war an der neuen Westgrenze bei Podejuch. Die Erwachsenen sagten „Heimat“ und zeigen nach Osten, und die Polen sagten „Nix Heimat“ und zeigten nach Westen. Mein Vater war fünf Jahre in drei sowjetischen Konzentrationslagern. Als er 1950 entlassen wurde, haben wir über West-Berlin Republikflucht begangen – nach Salzgitter.

Zoya Mahfoud, wie sind Sie hierher gekommen?

Mahfoud: Ich konnte nicht in Syrien bleiben, weil der IS und die syrische Armee in der Nähe meiner Heimatstadt kämpften, also bin ich in den Libanon geflohen, dann in die Türkei und über das Meer nach Griechenland. Wir waren zu 50 Personen in einem Boot, das nur Platz für 20 hatte. In diesem Moment durften wir keine Angst haben, weil wir sonst nicht überlebt hätten. Dreimal haben wir es versucht und dann haben wir es auf die Insel Kos geschafft. Dann bin ich auf dem Landweg über Serbien und Österreich nach Deutschland gekommen. Einen Tag vor Weihnachten 2015 bin ich hier in Berlin angekommen.

Mazen Abo-Ismail: In Syrien hatte ich Angst, dass ich zum Militärdienst eingezogen werde oder wegen meiner Opposition gegen das Regime verhaftet werde. Also habe ich meine Heimat verlassen und bin über den Libanon geflohen. Details möchte ich dazu nicht sagen, es war sehr schwer.

Hend Taher: Ich bin nicht geflohen, es gab keinen Krieg in meiner Heimat. Aber ich habe mich dazu entschlossen, Ägypten zu verlassen, weil ich selbstständig leben wollte, und das war für mich als Frau dort nicht möglich.

Wie wurden Sie von Einheimischen aufgenommen?

Zimmermann: Es gab eine Unzahl von Flüchtlingen, da war ja klar, dass die Einheimischen nicht begeistert waren. Unsere Wirtin in Salzgitter musste ihre ganze obere Etage für uns Flüchtlinge abgeben und hat uns mal so empfangen: „Ihr Scheißpansen, was wollt ihr hier, geht wieder dahin, wo ihr hergekommen seid“. Nachher haben wir uns aber arrangiert und gut verstanden.

Abo-Ismail: Das Schwierigste sind die Vorurteile: Viele Deutsche glauben, dass wir Syrer aus der dritten Welt kommen und im Integrationskurs lernen müssen, wie man sich verhält.

Mahfoud: Ja, viele denken, dass die Menschen in Syrien in Zelten leben und sich auf Kamelen fortbewegen. Als ob es in Syrien nicht auch Theater gäbe und gut ausgebildete Frauen, mit und ohne Kopftuch! Aber nicht jeder, der dich komisch anguckt, ist ein Rassist. Vielleicht hat er einfach schlechte Laune. Wenn man jeden merkwürdigen Blick auf sich bezieht, kann man hier nicht leben.

Taher: Ich hatte schon Freunde, als ich hier ankam, und wurde immer positiv empfangen – vielleicht auch weil die Geschichte von einer Frau, die selbstständig sein möchte, in Deutschland sehr positiv klingt. Mit Rassismus hatte ich nie zu tun.

Fühlen Sie sich in Ihrer neuen Heimat zu Hause?

Zimmermann: Heimat ist für mich da, wo ich geboren bin, und zu Hause bin ich da, wo ich wohne, arbeite, eine Familie gründe und mein Leben genieße, und das war in Salzgitter. Ich habe zwei wunderbare Kinder, Enkel und sogar Urenkel (zeigt Fotos). Meine Heimat ist verloren, daran sind die Nazis und der wahnsinnige Hitler schuld.

Abo-Ismail: Da ich viele Freunde hier habe, habe ich das Gefühl, dass ich dazugehöre. Dass ich schon ein Berliner bin. Ich möchte eine normale Zukunft haben, mit einem Studium und einem Job, ohne Krieg und Militärdienst. Ich möchte und kann mir hier ein neues Leben aufbauen, deswegen bin ich sehr zufrieden, obwohl meine Familie noch in Syrien ist. Aber ich habe Hoffnung, dass wir einander wiedersehen werden.

Taher: Ich fühle mich hier in Deutschland total wohl, es ist mein Zuhause. Ich fühle mich grundsätzlich wohler mit Leuten, die mich verstehen und mit denen ich mich austauschen kann. Solche Leute treffe ich hier öfter als in Ägypten.

Zimmermann: Das hört man gerne, dass Sie sich hier wohlfühlen in Deutschland.

Mahfoud: Mir geht es anders! Ich fühle mich noch fremd im Exil, es sind fremde Gesichter, fremde Straßen, eine fremde Sprache. Ich habe deutsche Freunde, die mir bei meinen Problemen zuhören, aber ich muss mich immer fragen, ob ich richtig spreche, ob sie mich verstehen, das stresst mich sehr. Meine Heimat, das ist wo meine Mutter, meine Großmutter wohnen. Ich vermisse die Freunde, Bekannten, sogar die Bäume, die Straße, in der ich als Kind gespielt habe.

Herr Zimmermann, haben Sie von Ihrer alten Heimat geträumt?

Zimmermann:Wir haben unsere alte Heimat abgeschrieben. Im Inneren ist sie natürlich noch da: Als ich meine Heimatstadt nach dem Tode meiner Mutter besucht habe, bin ich schnurstracks mit dem Auto zu unseren alten Häusern gefahren, ich kannte die Wege noch, das war wie eingebrannt in meinem Gedächtnis. Aber von einer Rückkehr auf Dauer habe ich nicht geträumt, wir wussten ja, dass das nicht möglich war.

Mahfoud: Wenn ich eine Garantie hätte, dass ich in Syrien sicher leben könnte, würde ich zurückgehen. Ich versuche, mir hier ein neues Leben aufzubauen. Ich kann noch keine Deutsche werden, ich bin Syrerin! Ich brauche noch Zeit. Ich bin erst zwei Jahre in Deutschland, das ist nicht genug, um meinen Fuß wirklich fest auf den Boden zu setzen.

Zimmermann: In Salzgitter leben 5700 Syrer, die Kapazität ist erschöpft. Das Land hat für Salzgitter und Delmenhorst Zuzugssperre verhängt. Es ist ja etwas Anderes, ob die Menschen, so wie wir, vertrieben wurden oder ob Sie freiwillig fliehen. Wir hatten gar keine Wahl, die Russen haben uns vertrieben, ebenso die Polen im Juni 1945.

Mahfoud: Aber Entschuldigung, wir sind nicht freiwillig geflohen! Zimmermann: Nicht freiwillig?

Mahfoud: Nein!

Zimmermann: Sie hatten Angst um ihr Leben. Das versteht man.

Mahfoud: Wie lange hatten Sie das Gefühl, dass das nicht Ihre Heimat ist?

Zimmermann: Die Erinnerung an die alte Heimat und die Flucht bleibt, das ist unauslöschlich, was wir erlebt haben. Mir ist sehr wichtig, dass meine Dokumente nicht verloren gehen (zeigt alte Fotos und einen Taschenkalender von 1945 sowie die Kennkarte seiner Mutter mit der handschriftlichen russischen Aufenthaltsgenehmigung). Deswegen habe ich sie der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung vermacht und habe als Zeitzeuge meine Geschichte aufgeschrieben.

Abo-Ismail: Diese Geschichte möchte ich lesen, Herr Zimmermann. Vielen Dank, dass wir mit Ihnen sprechen konnten!

Zimmermann: Auch für mich war es sehr interessant, mit Ihnen zu sprechen.

Das Gespräch führte Dorothee Nolte.