Ein erster Erfolg der „samtenen Revolution“
Seit Tagen haben mehrere Tausend Menschen in der armenischen Hauptstadt Jerewan und anderen Städten des Landes gegen Serzh Sargsyan demonstriert, der vom Amt des Präsidenten in das des Premiers gewechselt hat. Angeführt und organisiert wurden die Proteste vom Oppositionspolitiker Nikol Pashinian. Am Sonntag ist Pashinian verhaftet worden – kurz nach einem Treffen mit Ministerpräsident Serzh Sargsyan, bei dem er vor laufenden Kameras erneut dessen Rücktritt gefordert hatte. Auch Stepan Grigorian, Chef des Stiftungspartners Analytical Centre on Globalization and Regional Cooperation, wurde am Sonntagabend verhaftet, ist aber inzwischen wieder auf freiem Fuß. Am Montag wurde auch Pashinian wieder freigelassen. Am Nachmittag kam die Nachricht - Ministerpräsident Serzh Sargsyan ist zurückgetreten.
Ein Café im Zentrum von Jerewan am vergangenen Freitag: Die meisten Gäste sitzen schweigend beieinander und verfolgen auf ihren Smartphones die Protestaktionen in der Stadt. Auf vielen armenischen TV-Kanälen werden Straßenblockaden und Protestaktionen live übertragen. „Wenn ich nicht arbeiten müsste, würde ich mit demonstrieren“, sagt Robert. Robert ist Kellner in diesem Café unweit des Platzes der Republik, dem Schauplatz der großen Protestdemonstrationen, zu dem sich allabendlich mehrere Tausend Menschen im Zentrum der armenischen Hauptstadt Jerewan einfinden.
Der 23-Jährige ist Medizinstudent und verdient in diesem Nebenjob umgerechnet etwa 100 Euro, mit Trinkgeldern ungefähr das Doppelte. Robert ist nicht unbedingt unzufrieden mit seinem Leben, er lebt gerne in Armenien und trägt sich nicht mit dem Gedanken, das Land zu verlassen wie viele seiner Freunde. „Aber Serzh muss weg. Vielleicht ändert sich dann was im Land“, so Robert.
So wie er denken viele, die sich dieser Tage an den Demonstrationen auf dem Platz der Republik beteiligen. Mit einer Abdankung des Premiers verbinden viele die Hoffnung auf einen Generationswechsel in der armenischen Führung und damit auch auf einen Politikwechsel. Dabei geht es bestimmt nicht allen um radikale Umbrüche in Armenien, sondern um ein Ende der Stagnation und der damit verbundenen Hoffnungslosigkeit in einem von Korruption und Nepotismus gebeuteltem Land, in dem es einigen Familien mit Bindungen zur Politik seit vielen Jahren sehr gut und immer besser geht, während sich die soziale Situation von großen Teilen der Bevölkerung immer mehr verschlechtert.
Als Symbol für diesen Zustand steht Serzh Sargsyan. Er gilt als unpopulärster Politiker des Landes und vereint die Demonstranten im Wesentlichen mit nur einer Forderung: Armenien ohne Serzh. Vereinzelt waren aber auch Plakate mit der Forderung nach Abzug der russischen Truppen zu sehen.
Die „Dritte Amtszeit“
Als „Dritte Amtszeit“ bezeichnen die Armenier die Wahl von Serzh Sargsyan am 17. März zum Regierungschef. Die Amtszeit von Sargsyan als Staatspräsident endete am 9. April nach zwei möglichen Amtsperioden. In einer umstrittenen Verfassungsreform wurden die Befugnisse des Präsidenten eingeschränkt, die des Premierministers erheblich gestärkt und damit ein Übergang vom Präsidialsystem in eine parlamentarische Demokratie ermöglicht. Hinter der Verfassungsänderung und der damit verbundenen Machtverschiebung vermuteten von Anfang an viele – so auch der Armenien National Congress (ANC), Partnerpartei der Stiftung – einen Schachzug Sargsyan zum Machterhalt. So richtig geglaubt hatte wahrscheinlich niemand den Aussagen des 63-Jährigen, er strebe nicht das Amt des Premiers an. Jedoch war dieser Ämterwechsel der unmittelbare Auslöser der Demonstrationen – „Serzh = Lügner“ ist auf einigen Plakaten zu lesen.
Die Aktionen begannen vor einigen Wochen mit einem mehrtägigen Fußmarsch durchs ganze Land. Nikol Pashinian, Parlamentsabgeordneter und Chef der kleinen oppositionellen Partei Civil Contract, zog mit einigen Dutzend Anhänger von Stadt zu Stadt. Übernachtet wurde in Zelten. Die Ankunft des Protestmarschs in Jerewan fiel auf den Zeitpunkt der Nominierung von Serzh Sargsyan als einzigen Kandidaten für das Amt des Regierungschefs. Damit erlangten die Protestaktionen größere Dimensionen. Wenige Tage später wurde Serzh Sargsyan zum Premierminister gewählt. Pashinian rief zum zivilen Ungehorsam auf und deklarierte eine „samtene Revolution“. Dem charismatischen 42-Jahrigen gelang es, immer mehr Unterstützer und Sympathisanten zu mobilisieren und auf die Straße zu bringen. Nikol Pashinian gilt vor allem bei jungen Leuten als Hoffnungsträger, dem langjährige Mitstreiter Führungsqualitäten, aber auch ein ausgeprägtes Ego sowie Beratungsresistenz verbunden mit einer gewissen Sturheit attestieren.
Andere Oppositionsparteien – von kleinen abgesehen – haben sich offiziell nicht den Protesten angeschlossen, wobei viele Vertreter von ihnen an den Demonstrationen teilnehmen. Vorstandsmitglieder der Partnerpartei der Stiftung ANC äußerten Bedenken, ob die eindimensionale Forderung nach Rücktritt des Ministerpräsidenten reicht. Das System müsse geändert werden, nicht nur eine Personalie. Dennoch nehmen viele, insbesondere junge ANC-Mitglieder an den Demonstrationen teil.
Ein Vertreter einer Partei, der mit Pashinians Partei im Bündnis YELK zusammenarbeitet, sieht die Protestaktionen auch eher skeptisch. Er schließt die Möglichkeit nicht aus, dass die Forderung der Demonstranten und die mit den Demonstrationen verbundenen Einschränkungen des öffentlichen Lebens erhebliche Reaktionen seitens der Regierung zur Folge haben könnten – mit Einschränkungen von Bürgerfreiheiten und Pressefreiheit sowie Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft, mit dem Verbot von Nichtregierungsorganisationen und im schlimmsten Falle der Errichtung eines totalitären Regimes: „Wir sollten die Proteste ins Parlament tragen, nicht auf die Straße“, so der Parlamentarier und gibt zu bedenken: „Die einzige Forderung der Demonstranten ,Armenien ohne Serzh’ gibt keinen Spielraum für Verhandlungen und damit keinem von beiden – Sarkisian und Pashinian – die Möglichkeit, ohne Gesichtsverlust aus der momentanen Situation herauszukommen.“ Kompromisse seien so nicht zu erzielen. Nur der Austausch einer Person im politischen Amt würde auch nicht viel ändern.
Aktionen im ganzen Stadtgebiet
Organisierte Spontanität könnte man den Charakter der Protestaktionen in diesen Tagen in der armenischen Hauptstadt Jerewan nennen. An den verschiedensten Orten der Stadt blockieren tagsüber zumeist junge Menschen Straßen, öffentliche und Regierungsgebäude. Verabredet über soziale Netzwerke oder per SMS geht es meist dann ganz schnell: quergestellte Autos, Parkbänke, Müllcontainer oder Sitzblockaden. So schnell die Aktionen beginnen, sind sie auch schon wieder vorbei, um an anderer Stelle wieder zu beginnen. Ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei, die sich bis zum Wochenende überaus zurückhaltend verhielt. Die Protestaktionen verliefen bis zum Samstag überwiegend friedlich. Es gab Verhaftungen von Demonstranten, die jedoch meist nach wenigen Stunden wieder frei gelassen wurden. Die Straßenblockaden werden von den meisten Autofahrern meist lächelnd und mit Geduld ertragen, Hupkonzerte sind in der ganzen Stadt zu hören und gelten als Zeichen der Solidarität mit den Demonstranten.
Die Aktionen finden dann jeweils abends um 19 Uhr auf dem zentralen Platz der Republik mit einer großen Demonstration ihren Abschluss. Auch hier herrschte bis zum Samstag eine friedliche Stimmung, die eher den Charakter eines Happenings mit Volksfestcharakter trug. Popmusik klang aus den Lautsprechern über den Platz. Unter den Demonstranten sind neben vielen jungen Leuten, Familien mit Kindern und Menschen jeglicher Altersgruppe. Die Polizei hielt sich im Hintergrund und sorgte mit Verkehrsregelungen auf den Zugangsstraßen zum Platz der Republik für einen koordinierten Zugang.
Anders die Situation am Sonntag: Diesmal wurden größere Polizeieinheiten rund um den Platz zusammengezogen, nun ausgestattet mit Schlagstöcken, Helmen und Schilden. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen bei dem Versuch, die Demonstrationen aufzulösen.
EU-Delegation: Dringend eine Verhandlungslösung anstreben
Die EU-Delegation in Armenien zeigte sich nach dem gescheiterten Gespräch zwischen Pashinian und Sarkisian besorgt. In einer „Dringenden Erklärung der Delegation der Europäischen Union und der Botschaften der EU-Mitgliedstaaten in Armenien” hieß es: „Die EU begrüßt die Initiative von Präsident Armen Sarkissian (nicht verwandt mit Serzh Sargsyan), einen Dialog zwischen den Demonstranten und der Regierung aufzunehmen. Die EU ist jedoch besorgt darüber, dass das heutige kurze Treffen zwischen Premierminister Serzh Sargsyan und Parlamentarier Nikol Pashinian die weitere Eskalation der Spannungen nicht verhindern konnte. Die Europäische Union bekräftigt, dass es entscheidend ist, dass alle Parteien Zurückhaltung und Verantwortung zeigen und dringend eine Verhandlungslösung anstreben.“
Am Sonntagabend wurde auf dem Platz der Republik wieder demonstriert. Nach der Verhaftung von Nikol Pashinian kamen diesmal noch mehr Menschen als je zuvor. Ob und wie die Proteste nun fortgeführt werden, die Sicherheitskräfte hart durchgreifen oder ob es zu einem Dialog kommt, waren Fragen, die am Sonntag noch gestellt wurden.
Als sich dann am Montag immer mehr den Protestierenden anschlossen, auch Sicherheitskräfte, Ärzte und viele mehr, wurde wohl der Druck zu groß: Serzh Sargsyan erklärte am Nachmittag, er habe einen Fehler gemacht und tritt zurück.
Wie es nun weitergeht, werden die nächsten Tage zeigen. Es bleibt zu hoffen, dass die Situation in Eriwan und im Land friedlich bleibt und es zu keiner Eskalation kommen wird.
Auch inwieweit Nikol Pashinian nun zum Held wird und die weiteren Geschicke des Landes beeinflusst, bleibt abzuwarten.
Ein Teil der Opposition hat wohl die Lage unterschätzt und muss nun sehen, wie sie auf den Zug aufspringen können. Auch wie sich Russland verhalten wird, ist offen.
Peter-Andreas Bochmann ist Projektleiter der Stiftung für die Freiheit für den Südkaukasus.