Tauwetter zwischen Berlin und Ankara? Nicht mit Deniz Yücel hinter Gittern!
Seit einem Jahr sitzt der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel nun schon in Untersuchungshaft. freiheit.org sprach mit Hans-Georg Fleck, dem Büroleiter der Stiftung für die Freiheit in der Türkei, über den „Fall Yücel“, der zu Recht viele Gemüter in Deutschland aufgewühlt hat.
Seit dem 27.Februar 2017 sitzt der WELT-Korrespondent Deniz Yücel in Silivri (bei Istanbul), in Europas größter Justizvollzugsanstalt, in U-Haft – und wartet auf sein Verfahren. Die türkischen Behörden werfen Yücel „Propaganda für eine terroristische Vereinigung und Aufwiegelung der Bevölkerung“ vor. Als „Beweise“ gegen ihn werden ausschließlich Presseveröffentlichungen des engagierten und um prononcierte bis strittige Meinungsäußerungen nicht verlegenen Journalisten ins Feld geführt. Der türkische Präsident Erdoğan hatte Yücel rasch als „Vertreter der (kurdischen) PKK“ und als „deutschen Agenten“ vorverurteilt.
Herr Fleck, in Deutschland kennt mittlerweile nahezu jeder den Fall Deniz Yücels. Aber spielt er in der medialen Diskussion der Türkei überhaupt eine Rolle?
Die Bedeutung des Falls Yücel ist aus türkischer Sicht eine ganz andere als aus der deutschen. Es gibt unter den inhaftierten Journalisten und Kolumnisten so viele profilierte Autoren, dass der Name eines Journalisten, der erst seit wenigen Jahren beruflich in der Türkei tätig ist, natürlich in den Hintergrund rückt. Das ist unter den gegebenen Umständen absolut verständlich und nachvollziehbar. Der Fall Yücel spielt in der türkischen Öffentlichkeit eher eine gewisse Rolle, wenn es um die Ursachenforschung nach der hohen, auch emotionalen Belastung des deutsch-türkischen Verhältnisses geht.
"Kanzlerin Merkel ist in der Pflicht, Tacheles zu reden."
Was müsste Deutschland der Türkei anbieten, damit Erdoğan Yücel freiließe?
In einem schriftlich geführten Interview hat Deniz Yücel vor wenigen Wochen vor irgendwelchen „schmutzigen Deals“ im Kontext seiner Person gewarnt. Er dachte dabei natürlich vor allem an mögliche Waffenlieferungen Deutschlands an die inzwischen im offenen Krieg befindliche Armee des NATO-Partners Türkei. Ich folge Yücel insofern, als es jetzt nicht um die Frage gehen kann, was Deutschland der Türkei konkret anbietet. Prominente Vertreter der türkischen Regierung, wie zuletzt Vize-Premier Mehmet Şimşek (im „Hardtalk“ der BBC), oder auch der einflussreiche Präsidentenberater Ibrahim Kalın, sprechen bereits von einer „Normalisierung“ der bilateralen Beziehungen. Auf welcher Grundlage tun sie das? Wo ist der belastbare Kurswechsel der türkischen Politik, der diese Aussage rechtfertigt?
Bisher ist Ankara stets davon ausgegangen, dass es lediglich die Partner der Türkei seien, die sich zu bewegen hätten. Bei den 72 Forderungen, die die EU als Voraussetzung zur Einführung einer Visaliberalisierung genannt hatte, darunter u.a. die Reform der türkischen Anti-Terror-Gesetzgebung, stellte sich die türkische Seite schlicht auf den Standpunkt, sie habe alles erfüllt, was man ihr rechterdings „zumuten“ könne. Und damit basta! Aber auch in Ankara dürfte sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass weder die ökonomische Entwicklung der Türkei noch ihre außenpolitische Konfliktorientierung dazu angetan sind, auf dem bisher gewählten „hohen Ross“ sitzen zu bleiben – und auf die „Friedensangebote“ der anderen Seite zu warten. Das sehen wir daran, dass plötzlich Flexibilität bei der bis dato angeblich unverrückbaren Anti-Terror-Gesetzgebung signalisiert wird. Das werden wir auch beim Besuch von Premier Yıldırım bei Angela Merkel diese Woche oder beim Auftritt des türkischen Präsidenten auf dem bevorstehenden EU-Gipfel im bulgarischen Varna Ende März erleben. Die türkische Seite hat sich „verrannt“ und muss sehen, wie sie den „Weg zurück“ in die Gemeinschaften findet, in die das Land traditionell ein- (NATO) oder zumindest angebunden (EU) sein wollte. Auf diesem „Weg zurück“ muss auch die Lösung des „Falls Yücel“ und anderer deutscher Inhaftierter auf den Tisch. Hier ist Kanzlerin Merkel in der Pflicht, Tacheles zu reden.
Es wäre in diesem Kontext aber wenig zielführend, wenn man der Türkei dabei zugleich ein ums andere Mal signalisiert, dass - was immer sie auch tut - für sie kein Platz am europäischen Tisch zur Verfügung steht. Wer einen positiven Einfluss auf die Entwicklung des deutsch-türkischen bzw. des europäisch-türkischen Verhältnisses und auf die weitere Binnenentwicklung des NATO-Partners Türkei nehmen will, der sollte nicht davon reden, die „Beziehungen auf eine neue Grundlage“ zu stellen, sondern klare Konditionen bzgl. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit formulieren. Dabei dürfte kaum strittig sein, dass eine Türkei, wie sie sich in den zurückliegenden fünf Jahren unter der Ägide von Recep Tayyip Erdoğan entwickelt hat, kein Partner im europäischen Integrationsprozess sein kann, und zwar weder im Sinne der politischen Integration noch im Sinne eines (von der Türkei heftig angestrebten!) Updates der Zollunion zwischen Brüssel und Ankara.
Für wie wahrscheinlich halten Sie eine Freilassung in diesem Jahr?
Eine Antwort kann nur spekulativ sein. Spätestens im Sommer 2018 ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall Yücel, aber auch anderer in der Türkei inhaftierter Journalisten zu erwarten. Kein Vernunftargument weist darauf hin, dass dieses Urteil im Sinne der Machthaber in Ankara ausfallen könnte. Es ist daher durchaus vorstellbar, dass man im Vorfeld dieses Urteils um „Flurbereinigung“ bemüht sein könnte.
Wir haben erst kürzlich vor Augen geführt bekommen, wie viel das türkische Argument, die anhängigen Verfahren seien – wie es sich in einem Rechtsstaat mit Gewaltenteilung gezieme – allein in den Händen der türkischen Justiz, Wert ist. Die Art und Weise, wie das Votum des türkischen Verfassungsgerichts zur Freilassung der renommierten Intellektuellen Şahin Alpay und Ahmet Altan von niederen Instanzen unter dem Beifall der politischen Führung abgeschmettert und ignoriert worden ist, belegt den ruinösen Zustand des türkischen Rechtsstaates.
Deniz Yücel ist der prominenteste Fall - wie steht es um die anderen inhaftierten Journalisten, z. B. den Raif-Badawi-Award-Preisträger Ahmet Şık?
Ahmet Şık geht es gesundheitlich wohl weniger gut; er konnte am letzten Verhandlungstag seines Verfahrens nicht teilnehmen. Es sind wohl körperliche, keine seelischen Probleme – die jedoch vielen der z. T. seit deutlich mehr als einem Jahr in Silivri Inhaftierten zu schaffen machen. Wir sprechen in den deutschen und internationalen Medien viel und zu Recht von den bedeutenden und anerkannten türkischen Intellektuellen in Haft oder von den Vertretern angesehener Tageszeitungen, wie der „Cumhuriyet“. Wenig hört und spricht man von jenen, die als Mitarbeiter „gülenistischer Medien“, wie der Tageszeitungen „Zaman“ oder „Bugün“ , u. U. schon vor dem Juli-Putsch 2016 inhaftiert waren, und die in weitgehender Isolation auf ihr Verfahren warten, maximal einmal pro Woche Besuch ihres Anwalts zu einem Gespräch unter behördlicher Aufsicht erhalten. Dies muss auf Dauer körperliche und seelische Schäden verursachen. Niemand spricht von den Menschenrechten dieser Stigmatisierten, geschweige denn von der Lage ihrer gebrandmarkten, “verbrannten“ Familienangehörigen. Sie kommen zweifellos häufig aus einer uns Liberalen fremden und verschlossenen Geisteswelt. Aber die Menschenrechte, die konstitutiver Bestandteil einer liberalen Rechtsordnung sind, müssen auch für diese Personengruppe gelten und eingefordert werden. „Unterstützer-Initiativen“, wie wir sie aus dem Umfeld der „Rote-Armee-Fraktion“ aus den 1970er Jahren in Deutschland kennen? In der Türkei Anno 2018 völlig unvorstellbar!