Klares Zeichen an die "andere Türkei"
Die jüngste Gerichtsverhandlung gegen 20 Journalisten und Mitarbeiter der türkischen Tageszeitung „Cumhuriyet“ hat keine gravierenden Veränderungen ergeben. Die in Untersuchungshaft sitzenden sechs Angeklagten, denen man die Unterstützung einer oder mehrerer „terroristischer Organisationen“ zur Last legt, bleiben bis auf weiteres in Haft. Unter ihnen ist auch der bekannte Investigativjournalist Ahmet Şık, Laureat des diesjährigen Raif-Badawi-Preises für mutigen Journalismus. „freiheit.org“ sprach aus diesem Anlass mit dem Leiter des Türkei-Büros der Stiftung, Hans-Georg Fleck.
Was sagt uns der „Cumhuriyet“-Prozess zur Lage des freien Journalismus in der Türkei?
Wem die deutlichen Zahlen – ca. 170 Journalisten sind in der Türkei gegenwärtig in Haft, mehr als in jedem anderen Land der Erde – nicht genügen, der muss nur auf die Umstände des „Cumhuriyet“-Prozesses schauen. Neben der insbesondere für politische Häftlinge genutzten Haftanstalt von Silivri (im Westen der Metropole Istanbul) ist im Parforceritt ein neues Gerichtsgebäude errichtet worden. Dort finden nun unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen u. a. die Prozesse gegen Journalisten und Mitarbeiter der säkularen Tageszeitung statt, denen man Verbindungen zu diversen, z. T. völlig konträr positionierten „terroristischen Organisationen“ zur Last legt. Dabei geht es vor allem um angebliche Unterstützung der kurdischen PKK oder der als „Fethullahistische Terrororganisation“ (FETÖ) bezeichneten Bewegung des islamisch-konservativen Predigers Fethullah Gülen – Organisationen, die nach Auffassung der türkischen Regierung und ihrer Mediengefolgschaft gerade in Deutschland besonderen Schutz und Freiräume genießen.
Die Vorwürfe gegen die Beschuldigten kreisen zentral um die von ihnen in den zurückliegenden Jahren geleistete journalistische Arbeit. Genau wie im Fall des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel, werden Beiträge und Kommentare der Journalisten als „Beweis“ für ihre Verquickung mit Terrororganisationen gewertet. Man kann hier nur dem Resümee des Generalsekretärs von „Reporter ohne Grenzen“, Christophe Deloire, zustimmen. Er hat als Prozessbeobachter in Silivri erklärt: „Die angeklagten Journalisten stehen nur vor Gericht, weil sie in der Türkei einen Journalismus vertreten, der diesen Namen verdient, und weil sie nicht einfach die Propaganda des Erdoğan-Regimes verbreiten.“
Haben Solidaritätsaktionen, wie die Preisverleihung an Ahmet Şık, überhaupt irgendeinen Einfluss auf den Prozess oder die öffentliche Meinung in der Türkei?
Zunächst muss man sagen, dass die Leser oder Zuschauer der regierungskonformen, traditionellen Medien nichts von derartigen Aktionen im Ausland erfahren. Dies gilt auch für die Verleihung des Raif-Badawi-Preises an Ahmet Şık. Die Systemmedien beschäftigen sich derzeit vor allem mit der - in der Tat brutalen - Verfolgung einer ethnisch-religiösen Minderheit in Myanmar, der Rohingya; sie erkennen hier eine Inkarnation der „weltweit größten Bedrohung unserer Tage“, der Islamophobie! Da bleibt keine Zeit, sich mit der systemischen Notlage des freien Journalismus im eigenen Lande oder gar den notorischen Einschränkungen der Meinungsfreiheit zu beschäftigen.
Natürlich findet die Preisverleihung dann doch in den wenigen verbliebenen oppositionellen Medien, vor allem in den immer wichtiger werdenden Internet-Plattformen, ihren (positiven) Niederschlag. In einem Land mit so großer Internetnutzung, wie der Türkei, darf man die Bedeutung dieser Medien, vor allem aber auch die der sozialen Medien, nicht unterschätzen. Dort wird dann allerdings natürlich auch - meist mit dem in der Türkei nahezu allseits probaten, kritischen bis xenophoben Unterton – die rhetorische Frage gestellt, warum denn gerade eine deutsche politische Stiftung einem türkischen Journalisten einen „Freiheitspreis“ verleihe/verleihen müsse.
Wie nahezu stets bei sozialen Prozessen ist die unmittelbare Wirkung der Preisverleihung an Ahmet Şık nur schwer zu belegen. Was zählt, ist das klare Zeichen an die „andere Türkei“, für die der Preisträger ebenso steht wie die übrigen Angeklagten von Silivri: Wir wissen, dass ein großer Teil der Bevölkerung der Türkei mit dem eingeschlagenen Weg des Autoritarismus, der Islamisierung und der Entfernung von europäischen („westlichen“) Werten nicht einverstanden ist – und sie verdient mehr denn je unsere Unterstützung!
Wie wird es im „Cumhuriyet“-Prozess weitergehen?
Am 25. September, nur wenige Wochen vor der Preisverleihung, wird sich Ahmet Şık der nächsten Gerichtsverhandlung gegenübersehen. Es scheint wenig wahrscheinlich, dass er in der Lage sein wird, den Preis persönlich in Empfang zu nehmen. Am 11. September ist ihm, sowie fünf anderen Angeklagten, unter Hinweis auf die angebliche „Gefahr der Beweisvernichtung und die Unangemessenheit einer bedingten Freilassung aus der U-Haft“ (so die Staatsanwaltschaft) erneut eine Haftverschonung verweigert worden.
Erfahrungsgemäß bedeutet auch eine Aufhebung der Untersuchungshaft jedoch nicht die Rückgabe des Reisepasses. Zigtausende türkische Bürger sind auf diese Weise derzeit daran gehindert, ihr Heimatland zwecks Auslandsreisen zu verlassen. Eine mit der Stiftung verbundene Juraprofessorin, die sich derzeit auch einem Gerichtsverfahren wegen angeblicher „Unterstützung einer terroristischen Organisation“ (hier FETÖ) ausgesetzt sieht und mit einem faktischen Berufsverbot belegt ist, kann die Türkei nicht verlassen, obwohl sie nur im Ausland zukünftig ihren Lebensunterhalt wird verdienen können. Unter den Bedingungen des seit über einem Jahr herrschenden Ausnahmezustandes in der Türkei gibt es zehntausende derartiger Schicksale, an dem nicht wenige schon existentiell verzweifelt sind.
Das von vielen als absolute Farce angesehene Verfahren gegen Ahmet Şık hat insofern eine gewisse Wendung erfahren, als die Staatsanwaltschaft den besonders abstrusen Vorwurf der Unterstützung der Gülen-Bewegung inzwischen hat fallen lassen. Dass man gerade dem notorischen Gülen-Kritiker Şık vorgeworfen hatte, „FETÖ“ zu unterstützen, nur weil er, der Warner vor der Gülen-Bewegung, im Kontext des Putsches von 2016 nicht bereit war, die frühere enge Verbindung der herrschenden AKP mit der Gülen-Bewegung in Vergessenheit geraten zu lassen, war dann wohl doch selbst der unter politischem Druck stehenden, alles andere als unabhängigen Justiz der Türkei zu hanebüchen.
Das Schicksal von Can Dündar, Kadri Gürsel und Ahmet Şık, um nur einige der Angeklagten von Silivri zu nennen, ist und bleibt ein Gratmesser für die freiheitliche und rechtsstaatliche Entwicklung der Türkei, die – nolens volens – durch den deutschen Wahlkampf zum Wegweiser für die weiteren Beziehungen der gesamten Europäischen Union zur Türkei geworden ist.
Dr. Hans-Georg Fleck leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Istanbul.