#JetztMutMachen
Der Deutsche Bundestag ist noch rechtzeitig aufgewacht
Aus den Erfahrungen der französischen Verfassungsorgane mit Krisensituation können wir auch für den Umgang mit COVID-19 in Deutschland lernen. Gerade noch rechtzeitig hat der Bundestag einen Weg eingeschlagen, um uns hoffentlich vor einer langanhaltenden rechtlichen Ausnahmesituation zu bewahren. Er hätte dabei mit sich selbst sogar noch strenger sein können.
Nachdem von der französischen Regierung zunächst Ansammlungen von Personengruppen untersagt und zahlreiche öffentlich zugängliche Einrichtungen geschlossen wurden, gilt seit dem 17. März in Frankreich landesweit auch ein sog. „confinement“. Diese Ausgangsbeschränkungen wurden anfänglich noch auf den im Nachgang zur SARS Epidemie der frühen 2000er Jahre geschaffen Art. L. 3131-1 des Gesetzbuches über die öffentliche Gesundheit (CSP) gestützt. Mittlerweile hat der Gesetzgeber sie in das Rechtsregime eines neuen Ausnahmezustands überführt. Um die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 einzudämmen, hat die Regierung – nunmehr auf Grundlage des neuen Ausnahmezustands – in ganz Frankreich jedes Verlassen der eigenen Wohnung untersagt, wenn es nicht einem der acht abschließend aufgeführten Gründe dient. Darunter fallen etwa nicht verschiebbare Arbeitswege (1°), die Vornahme nötigster beruflich oder privat veranlasster Einkäufe (2°), die Inanspruchnahme medizinischer Hilfe (3°) oder „die kurzzeitige Bewegung in der Nähe des Wohnsitzes, um alleine Sport zu treiben oder Haustiere auszuführen“ (5°). Gerade die in der Praxis so relevante letzte Ausnahme wurde sukzessive verschärft: Bewegung an der frischen Luft nur noch einmal am Tag, für eine Stunde und in einem Radius von 1 Kilometer um die eigene Wohnung. Von den deutschen Ausgangsbeschränkungen, die einige Länder nach dem Vorbild Bayerns in den letzten Tagen erlassen haben, unterscheidet sich die französische insbesondere dadurch, dass die Gründe für das Verlassen der Wohnung abschließend sind (keine Regelbeispiele) und die Begründung des Aufenthalts in der Öffentlichkeit auf Verlangen mit einem eigenhändig ausgefüllten und unterschriebenen Dokument (Vordruck der Regierung für eine eidesstattliche Versicherung) nachgewiesen werden muss.
Der Weg zum neuen Ausnahmezustand
Die vorgenannten Maßnahmen haben in Frankreich durch das am 25. März 2020 in Kraft getretene Gesetz Nr. 2020-290 einen gesetzgeberischen Unterbau nach dem Vorbild des französischen Etat d’urgence erfahren. Schon früh hatte der Premierminister Philippe diesen unter „Etat d’urgence sanitaire“ firmierenden Schritt angekündigt, um die bisherige Organisation des Staates bei der Krisenbewältigung festzuschreiben und die notwendigen Maßnahmen auf dem Fundament solider rechtlicher Grundlagen zu treffen. Die begriffliche Anleihe beim Etat d‘urgence, der auf ein Gesetz aus dem Jahr 1955 zu Zeiten des Algerienkrieges zurückgeht, ist dabei bewusst gewählt. Sie liegt auf einer Linie mit Präsident Macrons „Nous sommes en guerre sanitaire“. Beide bezwecken, die französische Bevölkerung, welche in signifikanter Anzahl die Verantwortungsappelle anfänglich ignorierte, zu disziplinieren und auf eine gemeinsame Aufgabe einzuschwören. Insoweit typisch französisch: Die drastische Rhetorik vermittelt der Bevölkerung, dass die Lage ernst ist. Sie erwartet von ihrer Regierung im Gegenzug, dass diese das Heft des Handelns in die Hand nimmt, wofür ihr der Ausnahmezustand als Beleg gilt.
Etat d’urgence und Etat d’urgence sanitaire: Gemeinsamkeiten im Verfahren, Unterschiede in der Sache
Beide Ausnahmezustandsregime haben gemein, dass sie nach demselben Verfahren aktiviert werden. Die Kompetenz dazu liegt nach Art. 2 des Gesetzes Nr. 55-385 vom 3. April 1955 über den Ausnahmezustand bzw. nach dem neuen Art. L. 3131-13 CSP jeweils beim conseil des ministres (Regierung als Kollegialorgan). Für die Aktivierung gibt es jeweils eine einzige materielle Tatbestandvoraussetzung, deren Annahme – nach den für den Etat d’urgence vorliegenden Erfahrungswerten – weder von der französischen Verwaltungsgerichtsbarkeit noch vom Verfassungsrat je beanstandet wurde. Für den Etat d’urgence sanitaire verlangt der neue Art. L. 3131-12 CSP das Vorliegen „einer sanitären Katastrophe, die aufgrund ihrer Art und ihres Ausmaßes die Gesundheit der Bevölkerung gefährdet“. Die Entscheidung der Regierung, einen Etat d’urgence sanitaire auszurufen, aktiviert zunächst für die Dauer von einem Monat eine Reihe von Befugnissen, die nur im Ausnahmezustand zur Anwendung gelangen können. Sollen sie darüber hinaus in Kraft bleiben und nicht automatisch auslaufen, bedarf es einer parlamentarischen Verlängerung durch Gesetz. Im aktuellen Fall ist das für die Dauer von zwei Monaten schon vorsorglich erfolgt. Der infolge der terroristischen Anschläge im November 2015 aktivierte Etat d’urgence wurde insgesamt sechs Mal verlängert und blieb zwei Jahre in Kraft. Die mit ihm einhergehende parlamentarische Kontrolle hat dabei offenbart, dass die Ausnahmebefugnisse nur in den ersten Wochen intensiv genutzt wurden. Dass der Ausnahmezustand dennoch solange in Kraft blieb, erklären französische Rechtswissenschaftlicher mit seiner psychologischen Wirkung. Es sei politisch äußerst schwierig, einen Ausnahmezustand zu beenden, ohne gegenüber der Bevölkerung zugleich als schwach dazustehen. In der Sache schalten die beiden Ausnahmezustandsregime Befugnisse mit unterschiedlicher Zielrichtung frei: Der Etat d’urgence zuvörderst konkret-individuelle Maßnahmen gegen Störer (Gefährder), der Etat d’urgence sanitaire daneben insbesondere konkret-generelle Maßnahmen zur flächendeckenden Begegnung einer Gesundheitsgefahr. Der Art. L. 3131-15 CSP enthält für die Geltungsdauer des Etat d’urgence sanitaire zehn neue Ausnahmebefugnisse.
Der sanitäre Notstand als Modell für Deutschland?
Der französische Gesetzgeber zeigt sich sichtbar bemüht, die für die Krisenbewältigung als notwendig erachteten Befugnisse auf spezialgesetzliche, halbwegs detaillierte Rechtsgrundlagen zu stellen. Ob das dem Bundestag bei der Überarbeitung der zentralen Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 1 BIfSG gelungen ist (dafür / dagegen), und er dabei hinreichend hohe Eingriffsschwellen vorgegeben hat, steht hier nicht im Fokus. Es ist aber unbedingt zu begrüßen, dass er Ausgangssperren, -beschränkungen und Kontaktverbote im Regelfallrecht reguliert. Denn dass einzelne Befugnisse nur im Ausnahmezustand genutzt werden durften, hat in Frankreich dazu geführt, dass dieser erheblich länger in Kraft blieb, als es erforderlich gewesen wäre. Der Ausstieg aus der erklärten Ausnahme ist schwierig. Nicht zuletzt der bayerische Ministerpräsident Söder wird den Beweis antreten müssen, dass er den Freistaat in absehbarer Zeit wieder aus dem Katastrophenfall herausführen kann.
Die französischen Erfahrungen sollten den Parlamenten als Weckruf dienen, sich nicht selbst zu verzwergen. Der Bundestag ist noch rechtzeitig aufgewacht. Das von ihm verabschiedete Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite sah in der Kabinettfassung noch vor, dass allein die Bundesregierung eine solche Lage feststellt. Bundestag und Bundesrat wären darauf beschränkt gewesen, ihre Aufhebung verlangen zu können. Damit hätten sie gegenüber der Exekutive eine noch schwächere Position gehabt als das französische Parlament. Dass der Bundestag das nicht mitmacht hat, ist richtig. Er nimmt sich dadurch seiner Verantwortung an, wesentliche Fragen (notwendiger) Freiheitsbeschränkungen abzuwägen. Durch die simultane Anpassung seiner Geschäftsordnung hat er zugleich dafür gesorgt, dass er auch in diesen schwierigen Zeiten entscheidungsfähig ist. Hingegen hätte er stärker darauf pochen sollen, dass die mit der epidemischen Lage von nationaler Tragweite verbundenen Befugnisse – vor allem die Ermächtigungen des Bundesgesundheitsministers zum Erlass von Rechtsverordnungen –vorübergehend bleiben. Am besten durch eine strenge Befristung, wonach die Lage innerhalb weniger Monate automatisch ausläuft, wenn nicht der Bundestag ihre Verlängerung beschließt. Die mit jeder Verlängerung verbundene öffentliche Diskussion hätte den Rechtsfertigungsdruck für die Beibehaltung der Ausnahme erhöht.
Max Schulze ist Promotionsstipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Der Artikel ist am 26.03.2020 auf dem JuWissBlog Nr. 39/2020 veröffentlicht worden.