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Grundgesetz
70 Jahre Grundgesetz sind ein Grund zum Feiern

Freude an der Verfassung – Zum Zustand der Demokratie
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

© Tobias Koch

Dem kleinen Buch, das die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 zu einem demokratischen Verfassungsstaat machte, sah man seine revolutionäre Wirkung nicht an. Gerade einmal 146 Artikel enthält die Verfassung, die wegen der Teilung Deutschlands die vorläufige Bezeichnung „Grundgesetz“ erhielt.

Sie begrenzt die Staatsmacht und verankert die Grundrechte als verbindliche, einklagbare Rechte. Sie ist Bollwerk gegen Verfassungsfeinde und Menschenrechtsverächter, gegen den Missbrauch staatlicher Macht und gegen den Aufstieg von Autokraten. Vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation war das Grundgesetz am 8. Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat mit großer Mehrheit beschlossen worden. Am 23. Mai 1949 wurde es feierlich verkündet. Es war die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland als wehrhafte Demokratie. 

Das damalige Provisorium Grundgesetz hat sich in 70 Jahren zu einer Erfolgsgeschichte entwickelt. Heute ist es das Fundament, auf dem die deutsche Demokratie ruht. Es ist ein festes Fundament, denn mit der sogenannten „Ewigkeitsklausel“ in Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz wurden die Unantastbarkeit der Menschenwürde,  und der Aufbau der Bundesrepublik als demokratischer und sozialer Bundesstaat jeglicher Grundgesetzänderung auch mit einer 2/3 Mehrheit entzogen. Das war die Reaktion auf das Dritte Reich, denn die Nazis waren formaljuristisch rechtmäßig an die Macht gekommen. Die Menschenwürde und die Grundpfeiler der Demokratie sollten jetzt sturmfest gemacht werden.

Eine geschriebene Verfassung entfaltet jedoch nur dann im täglichen Leben Wirkung, wenn die Bürgerinnen und Bürger an ihre Kraft glauben und sie immer wieder selbst spüren. Demokratie kann nicht nur mit dem Recht und dem Verfassungsrecht gesichert werden. Es braucht aktive Demokraten, die sie gegen ihre Feinde verteidigen und ihnen so wenig Raum wie möglich lässt. Und sie gibt es, diese Feinde. Rechtspopulisten, die sich als die Mehrheit des Volkes sehen und damit andere als nicht zugehörig betrachten. Die Würde des Menschen ist unabhängig von Religion, Herkunft und politischer Überzeugung unantastbar. Die Freiheitsrechte stehen allen Bürgerinnen und Bürgern zu und nicht nur denjenigen, deren Meinung und Glaube mir passt. Demokratie fordert – Respekt, Toleranz, Akzeptanz des Andersseins. Demokratische Mehrheitsentscheidungen nehmen der Minderheit nicht ihre Rechte. Wenn „Wir sind das Volk“ nur einen Teil des Volkes meint, dann gehören damit die anderen nicht dazu. Ihnen sollen die grundsätzlichen Freiheitsrechte abgesprochen werden. Was für eine Anmaßung!

Die Grundrechte sind kein Denkmal der Vergangenheit, sie haben sich nicht überholt. Im Gegenteil: Sie entfalten bis heute Dynamik und sichern uns allen unsere Freiheit. Dank der Grundrechte können wir uns frei bewegen, frei reden und frei leben. Diese Freiheiten stehen uns zu, es sind unsere Rechte, die uns niemand nehmen kann und die von allen staatlichen Gewalten zu beachten sind. 

Doch die Freiheitsrechte sind heute in einer Dimension bedroht, wie es 1949 nicht vorhersehbar war. Bürger verspüren Angst und Verunsicherung aufgrund der unglaublich dynamischen technologischen Entwicklungen mit ihren tiefgreifenden Auswirkungen auf die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt, die persönliche Lebensgestaltung, die Umwelt. Zugleich lehnen sie jene Veränderungen ab, die der Zuzug von Flüchtlingen und Asylbewerbern mit sich gebracht hat. Beide Entwicklungen führen bei einem Teil der Bevölkerung dazu, das erstrebte Glück und die ersehnte Sicherheit vom Staat zu erwarten, in dessen Institutionen sie aber immer weniger Vertrauen haben. Marktdominante globale Unternehmen, die Unmengen an personenbezogenen Daten speichern, analysieren, vernetzen und verwenden achten die Freiheitsrechte ebenso wenig wie kriminelle Hacker, die mithilfe der sozialen Medien freie, unabhängige Wahlen durch gezielte Desinformation und Manipulation gefährden. Und schließlich berauben sich die Bürger selbst ihrer Freiheitsrechte, indem sie zunehmend bereitwillig auf ihre informationelle Selbstbestimmung und Privatsphäre verzichten und vom Staat immer mehr Sicherheit einfordern, weil sie Angst vor Terror, vor Kriminalität, vor Geflüchteten, vor anderen Religionen und anderen Kulturen haben. Sie delegieren die Verantwortung an den Staat und geben dafür ihre Freiheitsrechte scheibchenweise auf. 

70 Jahre nach dem Aufbruch in eine neue Welt der Freiheitsrechte, der liberalen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit brauchen wir einen Neuanfang. 2019 muss zum Jahr der bewussten und streitbaren Auseinandersetzung für die Freiheit und Demokratie werden. Denn mit den Möglichkeiten der Digitalisierung steigt die Gefahr der Desinformation, der Wahlbeeinflussung und der Meinungsmanipulation. Dagegen helfen Aufklärung, Bildung, Fakten, sichere IT-Infrastruktur und permanente Gegenargumentation. 70 Jahre Grundgesetz sind ein Grund zum Feiern – doch wir dürfen uns nicht mit den Lorbeeren der Vergangenheit schmücken. Wir müssen dafür kämpfen, dass das Grundgesetz auch in Zukunft ein Grund zum Feiern bleibt.