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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

75 Jahre Grundgesetz und Bundesrepublik
Permanente Provisorien

Das Grundgesetz sollte gar nicht von Dauer sein. Und dann wurde es zur bisher einzigen stabilen Verfassung einer deutschen Demokratie. Und die war überaus erfolgreich.
Bundespräsident Steinmeier beim Staatsakt

Bundespräsident Steinmeier beim Staatsakt zu 75 Jahren Grundgesetz

© picture alliance/dpa | Michael Kappeler

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verabschiedet. Gestern war sein 75. Geburtstag. Die Nation feierte, u. a. zentral in Berlin mit einem Gottesdienst in der St. Marienkirche, der ein würdevoller Staatsakt auf dem Platz vor dem Bundeskanzleramt folgte. Am 24. Mai 1949, also einen Tag später, wurde die Bundesrepublik Deutschland als Staat ins Leben gerufen. Sie feiert also gleichfalls einen 75. Geburtstag. Beide – Grundgesetz und Staat – waren erfolgreich, so jedenfalls die einhellige Meinung. Warum? 

"Il n'y a que le provisoire qui dure." So lautet ein schönes französisches Sprichwort, das aus dem Völkerrecht stammt. Es beschreibt überaus treffend das Schicksal des Grundgesetzes, das in dieser Woche 75 Jahre alt geworden ist.

Es hatte in der deutschen Geschichte zwei großangelegte Versuche gegeben, der Nation eine demokratische Verfassung zu geben: 1848 in der Frankfurter Paulskirche und 1919 in der Weimarer Nationalversammlung. Beide Verfassungen scheiterten: die der Paulskirche schon 1849 an der ablehnenden Haltung des preußischen Königs, die von Weimar an der Zerstörungskraft der Nationalsozilisten mit deren Machtergreifung 1933. 

Der Anlauf zum Grundgesetz war viel bescheidener. Ein parlamentarischer Rat – keine stolze „Nationalversammlung“ – arbeitete das Dokument in monatelanger Arbeit aus, im Auftrag von drei Besatzungsmächten. Mit seinem Inkrafttreten am 24. Mai 1949 entstand die Bundesrepublik in einem fortan geteilten Gesamtdeutschland. Die Teilung war auch der Grund, warum das Grundgesetz nicht „Verfassung“ genannt wurde und nur solange gelten sollte, bis sich das gesamte deutsche Volk eine Verfassung geben würde. Dazu ist es bis heute nicht gekommen, und zwar aus nachvollziehbaren Gründen: Dem Fall der Mauer 1989 folgte die demokratische Volkskammerwahl vom März 1990 mit einem klaren Votum für eine schnelle deutsche Einheit. Und die war nach Lage der Dinge nur möglich bei Übernahme des Grundgesetzes und Beitritt zur Bundesrepublik der sogenannten neuen Länder.

So wurden beide Gebilde permanent: Grundgesetz und Bundesrepublik. Natürlich ist nicht jeder damit glücklich, denn es hat bis heute niemals eine gesamtdeutsche verfassungsgebende Versammlung und damit Willensbildung gegeben, um ein Grundgesetz für unseren wiedervereinigten Staat zu schaffen. Gleichwohl sprechen die meisten Deutschen von einer Erfolgsgeschichte. Warum? Aus der Vogelperspektive von heute nach 75 Jahren gibt es im Wesentlichen drei Gründe dafür:

  • Das Grundgesetz hat sich als Verfassung eines Rechtsstaats bewährt. Das ist zum einen das Verdienst der Mütter und Väter des Grundgesetzes: Sie haben einfach und klug formuliert. Nicht nur der berühmte Artikel 1 ist ein Meisterwerk: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Auch Verbote kommen klar daher, so in Art. 5: „Eine Zensur findet nicht statt.“ Präziser geht es nicht. Den Rest leistete die Rechtsprechung, allen voran das Bundesverfassungsgericht, das schnell einen herausragenden Ruf als höchster Hüter des Rechts erlangte.
  • Der Staat hatte bis in die frühen siebziger Jahre eine glanzvolle wirtschaftliche Bilanz vorzuweisen. Vertriebene und Flüchtlinge wurden schnell integriert, die Arbeitslosigkeit verschwand, der Wohlstand wurde zum Allgemeingut, die Währung war stabil. Die Marktwirtschaft wurde zum Erfolgsmodell – ein gewaltiger Kontrast zur Weimarer Republik. Für deren Schwächen wurde damals die Politik verantwortlich gemacht. Jetzt durfte sie sich schnell mit den Errungenschaften des Wachstums schmücken.
  • Es gab keine tiefe Spaltung in der Gesellschaft. Die Bevölkerung der Bundesrepublik fühlte sich mitgenommen in einer Gesellschaft, in der alle ihre Lebenschancen erhielten – ganz im Sinn des liberalen Aufstiegsziels, wie es Ralf Dahrendorf formulierte. Auch als die Zeiten nach den Energiekrisen der siebziger und frühen achtziger Jahre rauer wurden, erwiesen sich Staat, Wirtschaft und Sozialpartner als anpassungsfähig. Man stellte sich auf weniger Wachstum und mehr Strukturwandel ein, ohne die Prosperität aller als Ziel aus dem Auge zu verlieren.

Ergebnis: ein Westdeutschland, das Ende der achtziger Jahre als Gesellschaftsmodell so attraktiv war, dass die Ostdeutschen es möglichst schnell auch haben wollten. Die Botschaft lautete: keine Experimente, wir wählen das Bekannte und Bewährte – und das waren Rechtsstaat sowie soziale Marktwirtschaft des Westens. Es wurde dann alles sehr viel schwieriger und langwieriger als erwartet: Das Zusammenwachsen von Ost und West ist bis heute unvollendet; die Globalisierung hat Deutschland vor ganz neue und gewaltige Aufgaben gestellt; und die geopolitischen Rückschläge der letzten Jahre haben viele Illusionen aufgedeckt und zerstört.

Das alles stimmt. Aber richtig ist auch, dass Deutschland mit diesen neuen Herausforderungen nicht alleine steht. Und auch die politischen Reaktionen der Menschen sind überall ähnlich: Verdruss mit der Demokratie, Aufstieg von Rechtspopulisten, Schimpftiraden in den sozialen Medien. Das vereinte Deutschland ist längst mitten in der Zugluft der europäischen und amerikanischen Welt angekommen. Es ist die ungemütliche Welt reifer Demokratien und hochentwickelter Industrienationen. Ohne Zweifel ist dies nicht das Paradies. Aber es ist unendlich weit entfernt von jenem Zustand, von dem Deutschland nach 12 Jahren der Naziherrschaft, dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg startete: als ein moralisch und physisch zerbombtes Land, das anschließend geteilt wurde.

Keine schlechte Bilanz für das Grundgesetz und die Bundesrepublik Deutschland. Wir gratulieren.