Afghanistan
Afghanistans Nachbarschaft
Die Entstehung einer neuen Weltordnung und das Aufsteigen neuer Mächte geben den seit langem bestehenden Konfliktfeldern der Weltpolitik eine neue Wendung. Das gilt auch für Afghanistan. In den vergangenen Jahrzehnten wurde das Schicksal Afghanistans aus verschiedenen Perspektiven betrachtet: aus der Überlappung von widerstreitenden lokalen Machtbestrebungen mit strategischen Interessen seiner Nachbarländer Pakistan und Indien und den Auswirkungen des Kalten Krieges, danach der Perspektive des von den USA angeführten Kampfes gegen den islamistischen Terror. Mit dem Aufstieg Indiens und Chinas zu global agierenden, selbstbewussten Mächten haben sich wichtige Verschiebungen in der Interessens- und Konfliktlage in und um Afghanistan ergeben. Indien ist inzwischen zum bevölkerungsreichsten Land und zur größten Demokratie der Welt geworden, dieses Jahr wurde sein neues Parlament gewählt. Hatte Indien in der Vergangenheit die Situation in Afghanistan vor allem in Zusammenhang mit der Einflussnahme Pakistans in der Region gesehen, so ist inzwischen China als neuer wichtiger Akteur hinzugekommen, dessen Interessen oft mit den Interessen Indiens kollidieren.
Gleichzeitig ist auch für Russland und den Iran Afghanistan ein zentraler Bestandteil strategischer Interessen. Der Umgang mit den Taliban und Afghanistan ist integraler Bestandteil von Irans strategischer Vision im Rahmen seiner „Look East“-Politik. Diese Initiative zielt darauf ab, wirtschaftliche und energiewirtschaftliche Beziehungen mit bedeutenden ostasiatischen Nationen, insbesondere Indien und China, zu stärken, um die regionale Stabilität in Zentral- und Südasien zu fördern. Für Russland ist Afghanistan vor allem hinsichtlich einer erstarkenden Terrorismusgefahr für Russland selbst und die Region relevant. Im Gegensatz zu den meisten Staaten der internationalen Gemeinschaft pflegt Russland informelle Beziehungen zu den Taliban und bleibt einer der wenigen Staaten, die auch unter der Herrschaft der Taliban offizielle Verbindungen mit Afghanistan suchen. Russland nutzte dabei das sogenannte Moskauer Format, um seine Einflussnahme in der Region zu demonstrieren und Unterstützung im Globalen Süden zu gewinnen.
Die FNF-Publikationsreihe „Neighbourhood Perspectives“ dokumentiert Stimmungen in der Region und skizziert Einschätzungen von Akademikern, Experten und Politikanalysten aus Ländern, die an Afghanistan grenzen. Die Reihe ist ein Projekt des FNF Global Security Hubs und wird koordiniert von FNF Pakistan, Globale Themen Berlin und dem Hub in Brüssel. Seit der vollständigen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan 2021 ist die Betrachtung der sicherheitspolitischen Veränderungen in der Region relevanter denn je.
Indiens Afghanistan-Betrachtung – Nische oder geopolitisches Schneewittchen?
Soumya Chaturvedi hat im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) eine Analyse zur Sicht Indiens auf Afghanistan erstellt. Sie stellt fest, dass Afghanistan für Indien im Zentrum sicherheitspolitischer Sorgen steht, vor allem wegen der Verbindungen der Taliban zu anti-indischen Terrorgruppen und den rivalisierenden Beziehungen zu Pakistan und China. Die Rückkehr der Taliban an die Macht und deren Verbindungen zu Gruppen wie dem Haqqani-Netzwerk, das eine stark anti-indische Haltung hat, sind besonders besorgniserregend. Indien hat trotz der Nichtanerkennung der Taliban-Regierung weiterhin über das Büro in Doha sein Engagement aufrechterhalten. Die Besetzung der diplomatischen Vertretung Afghanistans in Indien gestaltet sich schwierig, da die vom Taliban-Regime entsandten Diplomaten bisher aufgrund erfolgloser Sicherheitsüberprüfungen nicht geduldet wurden. Für Chaturvedi ist klar, dass die Beziehungen zwischen Afghanistan und Pakistan komplex und von Spannungen geprägt sind, insbesondere wegen Grenzstreitigkeiten und der Präsenz afghanischer Flüchtlinge in Pakistan. Aus ihrer Sicht hofft Pakistan, über Afghanistan Einfluss auf die Region ausüben zu können, was jedoch durch die instabile Beziehung zu den Taliban erschwert wird. Für Indien ist das Verhältnis Pakistan-Afghanistan sicherheitspolitisch extrem wichtig.
Afghanistan nimmt eine strategische Position als Schnittstelle zwischen Asien und Europa ein und ist damit ein bedeutender Punkt für die wirtschaftliche Konnektivität. Diese geostrategische Bedeutung hat das Interesse vieler internationaler Akteure geweckt, die unterschiedliche Ansätze verfolgen, um ihre Interessen in der Region zu wahren. So hat die Volksrepublik China frühzeitig und proaktiv mit den Taliban interagiert, indem sie kurz nach deren Machtübernahme im Jahr 2021 einen Botschafter entsandte und in Afghanistans natürliche Ressourcen investierte. Diese Investitionen umfassen Lithium- und Ölförderung und sind Teil der umfassenden Belt and Road Initiative, die China helfen soll, wirtschaftliche Netzwerke bis nach Europa zu spannen. Angesichts des globalen Trends zur Risikominimierung ("De-Risking") sucht China nach zuverlässigen Partnern, und die geopolitische Lage Afghanistans bietet hier strategische Vorteile.
Historisch gesehen waren die Beziehungen zwischen Iran und den Taliban angespannt, aber die wirtschaftliche Zusammenarbeit hat zugenommen, was Iran zum größten Handelspartner Afghanistans macht. Die wachsenden Beziehungen Irans zu Afghanistan wird in einem weiteren Neighborhood Perspectives Papier der Stiftung aufgegriffen.
Für Indien bleibt Afghanistan ein kritischer geostrategischer Punkt, insbesondere sicherheitspolitisch und im Hinblick auf seine Beziehung zum Nachbarland Pakistan. Indiens Bedenken hinsichtlich Terrorismus und Migration sowie die geopolitischen Rivalitäten in der Region werden durch die vielfältigen Interessen und Einflüsse internationaler Akteure weiter verstärkt. Wie sich die Interessenslage alter und neuer Akteure in Afghanistan aus indischer Sicht jetzt darstellt, beschreibt Sumaya Chaturvedi in dieser Analyse.
Pakistans Blick auf Afghanistan
Das umfassende Papier von Imtiaz Gul analysiert Politik Pakistans in Bezug zu Afghanistan nach dem August 2021 und beleuchtet dabei die sich verändernde Dynamik, sicherheitspolitische Implikationen sowie die Rolle regionaler Akteure. Nach anfänglicher Zuversicht aufgrund der Machtübernahme der Taliban sieht sich Pakistan mit zunehmenden Spannungen konfrontiert, insbesondere durch die Aktivitäten der Tehreek-e-Taliban Pakistan (TTP) und grenzüberschreitende Angriffe. Die Spannungen zwischen Pakistan und Afghanistan zeigen sich deutlich auch außerhalb der Region – erst im Juni hatten afghanische Demonstranten das pakistanische Konsulat in Frankfurt gestürmt.
Die Studie im Auftrag der FNF untersucht Pakistans Reaktionen, einschließlich militärischer Maßnahmen und der Ausweisung undokumentierter afghanischer Migranten, was zu diplomatischen Spannungen mit Afghanistan führt. Darüber hinaus werden die Herausforderungen der internationalen Zusammenarbeit mit Afghanistan thematisiert, wobei humanitäre Hilfe und der Schutz der Rechte marginalisierter Gruppen im Vordergrund stehen. Abschließend werden strategische Empfehlungen für die internationale Gemeinschaft formuliert, die eine realistische Auseinandersetzung mit den Taliban sowie die Förderung von Frieden und Stabilität in der Region betonen.
Russlands Terrorismusproblem
Afghanistan spielt eine zentrale Rolle für Russlands Sicherheitsinteressen. Seit der Machtübernahme der Taliban hat sich das Land zu einem gefährlichen Brennpunkt für Terrorismus entwickelt. Im Jahr 2022 fanden dort neun Prozent aller weltweiten Terroranschläge statt, wobei der Islamische Staat - Provinz Khorasan (IS-K) die aktivste Terrorgruppe war. Diese Gruppe, ein Ableger des IS, hat ihre Ursprünge in Afghanistan und Zentralasien und stellt eine wachsende Bedrohung dar. Russlands Sorge ist, dass sich der Terrorismus auf benachbarte ehemalige Sowjetrepubliken ausbreitet, die Teil der Collective Security Treaty Organization (CSTO) sind. Dies birgt erhebliche Risiken für die regionale Stabilität und erfordert erhöhte Wachsamkeit, besonders angesichts der jüngsten Anschläge, die bis nach Moskau reichen: Trotz Warnung ist Moskau Ziel eines Anschlags geworden, im März gelang es Attentätern laut öffentlichen Angaben, mindestens 137 Menschen zu töten, 150 weitere wurden verletzt. Das Attentat hat Symbolkraft für die Spannungen in der Region.
Es ist im nationalen und europäischen Sicherheitsinteresse, das große Ganze – das Attentat, den internationalen Terrorismus, die Sicherheitslage in Zentralasien – im Blick zu haben. Es ist im Sicherheitsinteresse Europas und Deutschlands, die komplexe Lage in Afghanistan und die Beziehungen Russlands zu den Taliban genau zu beobachten, um den internationalen Terrorismus effektiv zu bekämpfen und zu verhindern, dass Afghanistan erneut zum Rückzugsort für terroristische Organisationen wird. In seiner Analyse für die FNF stellt Oleg Khokhlov die Beziehungen Russlands zu Afghanistan seit den 1980ern dar und skizziert eindrucksvoll die ökonomische und sicherheitspolitische Bedeutung Afghanistans für Russland.
Irans Außenpolitik
Afghanistan ist als wichtiger östlicher Nachbar integraler Bestandteil von Irans strategischer "Blick nach Osten"-Politik. Diese Politik zielt darauf ab, wirtschaftliche und energiebezogene Bindungen mit bedeutenden ostasiatischen Nationen wie Indien und China zu stärken, um die regionale Stabilität in Zentral- und Südasien zu fördern. Die zahlreichen Herausforderungen Afghanistans, gekennzeichnet durch ineffektive Nationenbildung, eine fehlende inklusive Regierungsführung und anhaltende Instabilität, haben jedoch zu einem Überschwappen von Konflikten und Unsicherheiten geführt, was Iran und die breitere Region erheblich beeinflusst hat. Irans Außenpolitik gegenüber Afghanistan hat sich in den letzten Jahrzehnten bedeutend verändert, geprägt von wechselnden taktischen und strategischen Zielen. Das analysiert Bahram Salvati für die FNF.
Der Iran hat seine Politik an regionale Akteure wie Pakistan und Saudi-Arabien sowie an außerregionale Einflüsse, wie beispielsweise durch die USA, angepasst. Die Vielzahl von Problemen in Afghanistan - die die ethnischen und politischen Unruhen, Irans Opposition gegen die Anwesenheit ausländischer Streitkräfte, hydropolitische Streitigkeiten, Flüchtlingsströme, illegale Migration, Drogenhandel und Waffenschmuggel umfassen - stellen komplexe Herausforderungen für die nationale Sicherheit des Irans dar. Dabei sind Irans politische Hauptziele zweigleisig: Zum einen strebt Iran eine inklusive Regierung in Afghanistan an, die die Vielfalt ethnischer und Minderheitsgruppen repräsentiert, insbesondere solche, die mit Iran verbunden sind. Dadurch soll Stabilität sowohl innerhalb Afghanistans als auch entlang seiner Grenzen gewährleistet werden. Zum anderen will Iran seinen strategischen Einfluss in Afghanistan vertiefen, um langfristige regionale Ziele zu erreichen und externe Einflüsse wie die der Vereinigten Staaten sowie ideologische Gegner wie die militant-extremistische Gruppe ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) einzudämmen.
Die Publikationsreihe „Neighbourhood Perspectives“ dokumentiert neben der Analyse in Bezug auf den Iran, auch Stimmungen mit Bezug zu Russland und die Beziehungen zwischen Afghanistan und Indien sowie Pakistan. Die Reihe ist ein Projekt des FNF Global Security Hubs und wird koordiniert von FNF Pakistan, Globale Themen Berlin und dem Hub in Brüssel. Seit der vollständigen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan 2021 ist die Betrachtung der sicherheitspolitischen Veränderungen in der Region relevanter denn je.