Antisemitismus
Ein Jahr nach dem Terror: Die erschreckende Unfähigkeit zu differenzieren
Der Terrorangriff der Hamas auf Israel vor einem Jahr war keine verdeckte Geheimdienstoperation. Es ging nicht darum, strategisch wichtige Ziele auszuschalten oder eine militärische Bedrohung zu eliminieren. Es ging darum, in kurzer Zeit so viele Jüdinnen und Juden zu ermorden und Geiseln zu verschleppen wie möglich. Die Terroristen gingen koordiniert, gezielt und absichtsvoll grausam vor. Die Berichte, Fotos und Videos vom 7. Oktober 2023 zeugen von einer Monstrosität, die das Verständnis eines jeden empathiefähigen Menschen überfordert.
Entmenschlichung und Hass
Die Welt sah sich erneut mit der Frage konfrontiert, wie Menschen anderen sehenden Auges solches Leid zufügen können, ohne daran zu zerbrechen. Die Antwort findet sich möglicherweise in einem am 7. Oktober aufgezeichneten Telefonat zwischen einem Terroristen und seinen Eltern. Freudig teilt der Mörder mit: „Mutter, dein Sohn hat heute zehn Juden getötet! Mit meinen eigenen Händen habe ich sie getötet!“ Und weiter: „Mutter, dein Sohn ist ein Held!“ Der Vater antwortet: „Töte! Töte! Töte! Töte!“
Die vollkommene Unfähigkeit der Beteiligten, das Handeln – also das Morden – des Sohnes moralisch zu reflektieren oder gar Mitgefühl mit den Opfern zu empfinden, deuten darauf hin, dass sie diese nicht als Menschen oder zumindest nicht als Menschen mit einem Recht auf Leben ansehen. Der Grund: Die Vergewaltigten, Entführten und Ermordeten sind Juden. Der Hass auf Juden ist im Denken der Terroristen so tief verwurzelt, dass das Auslöschen von möglichst vielen dieser Leben nur folgerichtig ist. Rund 1.200 Menschen fielen der bestialischen Gewalt am 7. Oktober zum Opfer, Hunderte wurden verschleppt, Tausende verletzt und traumatisiert.
Der zerbrochene Konsens nach dem 7. Oktober
In Deutschland löste das Massaker eine Welle der Sympathie mit Israel aus. Demokratische Politiker aller Parteien betonten wiederholt, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei. Am Brandenburger Tor kamen Zehntausende zu einer Solidaritätskundgebung zusammen und überall wurde über die Bedeutung jüdischen Lebens in Deutschland diskutiert. Das Massaker der Hamas, so schien es, hatte endlich allen begreiflich gemacht, dass Antisemitismus auch heute noch in tödlicher Gewalt endet. Ein Jahr später steht fest, dass dies keineswegs der Fall ist.
Als Reaktion auf den 7. Oktober hätte sich ein Konsens in der Gesellschaft herausbilden können: Darüber, dass Israel jederzeit in der Lage sein muss, sich gegen den allgegenwärtigen Vernichtungswahn einiger seiner Nachbarn zu schützen und selbst zu verteidigen – durch deutsche Unterstützung in internationalen Organisationen, finanzielle Zuwendungen und, ja, auch durch Rüstungsgüter. Darüber, dass staatliche und nicht-staatliche Akteure, die die Sicherheit Israels bedrohen, auch als feindselig gegenüber deutschen Werten und Interessen angesehen werden. Darüber, dass sich die vernunftbegabte Mitte der Gesellschaft Antisemitismus entschieden entgegenstellt und jüdisches Leben als einen wichtigen und schützenswerten Teil unserer Kultur ansieht. Und darüber, dass es für Judenhass keine Toleranz gibt. Nirgendwo, niemals.
Es wäre ein starkes Zeichen der Solidarität und des Bewusstseins unserer historischen Verantwortung gewesen, hätte sich die breite Mehrheitsgesellschaft auf diese wenigen, aber essenziellen Grundlagen geeinigt. Ein Jahr nach dem Massaker der Hamas steht jedoch fest: Teile der deutschen Gesellschaft haben radikal-antisemitische Positionen verinnerlicht und scheuen sich nicht einmal, das bestialische Morden ausgelassen auf den Straßen zu feiern.
Besorgniserregende Dunkelfeldstudie
Eine vor wenigen Tagen veröffentlichte Dunkelfeldstudie aus Nordrhein-Westfalen zeigt auf, wie weit verbreitet antisemitische Einstellungen und Vorurteile gegenüber Juden in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland sind: Bis zu einem Viertel der nordrhein-westfälischen Bevölkerung weist gefestigte antisemitische Einstellungen auf. Die Befragten gaben beispielsweise an, dass Juden übermäßigen Einfluss auf der Welt hätten oder dass die jüdische Religion Gewalt gegen Kinder legitimiere. Fast vierzig Prozent setzen die israelische Politik mit der des Nationalsozialismus gleich und stimmen der Aussage zu, dass durch israelische Politik Juden immer unsympathischer werden.
In dieser Vermengung von israelischer Politik und Juden spiegelt sich die Komplexitätsreduktion des Antisemitismus wider, der sich vor allem linksprogressive Kreise häufig bedienen: Auf Basis einer vermeintlich antiimperialistischen Logik werden islamistische und antisemitische Narrative übernommen, laut denen die Hamas und Hisbollah einen legitimen Freiheitskampf im Namen der entrechteten Palästinenser führen. Dass diese Terrororganisationen vom iranischen Regime instrumentalisiert werden, die Bevölkerungen in Gaza und Libanon brutal unterdrücken und gänzlich entgegen deren Interessen agieren, überfordert das manichäische Weltbild linker Antisemiten. Sie reduzieren die komplexe Realität auf den simpelsten Erklärungsversuch für die katastrophale Situation im Nahen Osten: Der von weißen Rassisten geführte Staat Israel habe mithilfe des jüdisch unterwanderten imperialistischen Westens das den Palästinensern zustehende Land kolonialisiert und die indigene Bevölkerung unterdrückt.
Mit einem jüdischen Staat kann es nach dieser Logik keine Freiheit und keinen Frieden im Nahen Osten geben. Statt sich also mit den historischen Hintergründen und aktuellen machtpolitischen Interessen der handelnden Akteure auseinanderzusetzen, skandieren radikal propalästinensische Aktivisten antisemitische Parolen, sprechen Israel das Existenzrecht ab und feiern den Terror der Hamas und des Irans. Diese Flucht in den Antisemitismus ist ein intellektuelles Armutszeugnis. Es ist erschreckend, dass in Teilen bildungsnaher Milieus an deutschen Universitäten und Kultureinrichtungen ein derartiger Mangel an Differenzierungsfähigkeit vorherrscht.
Israelkritik und Antisemitismus: Die Herausforderung, Ambiguitäten auszuhalten
In einer aufgeklärten Gesellschaft muss es möglich sein, Ambiguitäten auszuhalten: die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu für ihr Vorgehen in Gaza und im Westjordanland zu kritisieren und gleichzeitig das Existenzrecht Israels uneingeschränkt zu unterstützen. Die Sorge zu äußern, dass der Krieg im Libanon zu einer humanitären Katastrophe und möglicherweise zu einem Flächenbrand führt und trotzdem anzuerkennen, dass die über hunderttausend Raketen der Terrororganisation Hisbollah ein existenzielles Risiko für Israel darstellen. Zur Kenntnis zu nehmen, dass es im aktuellen Konflikt auf höchster Entscheidungsebene nicht nur um Fragen von Religion und Kolonialismus geht, sondern vor allem um den Machterhalt Netanjahus, die Normalisierung der Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Israel und das hegemoniale Machtstreben des iranischen Mullah-Regimes. Wer die Existenz Israels als Grund für regionale Instabilität und Unterdrückung ausmacht, geht eben jenen Herrschern auf den Leim, die ihre Bevölkerungen terrorisieren, Frauen entrechten und Menschen abweichender politischer Ansichten, abweichenden Glaubens oder abweichender Sexualität hinrichten lassen.
Statt also über die Voraussetzungen für Demokratie, Frieden und Menschenrechte im Nahen Osten zu diskutieren, drängen linke Antisemiten Juden einmal mehr in die Rolle des ewigen Sündenbocks. Schon vor dem 7. Oktober 2023 wurden Juden in Deutschland beleidigt, bedroht und angegriffen. Seither ist die Zahl antisemitischer Straftaten massiv angestiegen. Der 7. Oktober und seine Folgen haben der Welt einmal mehr vor Augen geführt, dass Jüdinnen und Juden bedroht sind. Jeden Tag, überall, auch in Deutschland. Der Kampf gegen Judenhass – egal ob er von radikalen Reichsbürgern, völkischen Rechtsextremisten, linken Antiimperialisten oder palästinensischen Befreiungsideologen ausgeht – ist nicht nur unsere historische Verpflichtung, sondern auch moralisch unabdingbar. Denn Antisemitismus ist in keiner Form mit den Werten unserer demokratischen Gesellschaft vereinbar.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a.D. und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
Dieser Artikel erschien erstmals am 6. Oktober 2024 beim Handelsblatt.