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Bulgarien nach der Wahl
Weiterhin ungewisse Zukunft

Boiko Borissow

Boiko Borissow

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Vadim Ghirda

Deutsche Welle: Die Wahl führt zu einer Pattsituation zwischen PP-DP und GERB, fünf/sechs Parteien sitzen im neuen Parlament. Wie kommentieren Sie diese zwei Tatsachen?
Martin Kothé: Das voraussichtliche Wahlergebnis ist keine große Überraschung, aber es ist eine große Enttäuschung: Wieder liegt GERB knapp vorn, wieder sind die Reformer denkbar knapp dahinter. Wieder ist kaum vorstellbar, dass sich eine stabile Regierung bilden lässt, weil die beiden großen Blöcke nur jeweils rund 25 Prozent Stimmanteil erringen können und ihnen Partner für eine konstruktive Mehrheitsbildung fehlen. Bulgarien verliert wohl erneut Zeit und fällt dadurch zurück. Moskau, dem es darauf ankommt, die Demokratie in Europa zu schwächen, dürfte sich die Hände reiben. Die Rechtsextremen, die sich offen zum Kreml bekennen, kommen mit rund 15 Prozent auf Platz 3 - für bulgarische Verhältnisse ein hoher Wert, im europäischen Vergleich jedoch unterhalb des heutzutage Erwartbaren. Die DPS, vor allem von der türkischen Minderheit getragen, hat offenbar an Mobilisierungskraft verloren, die Sozialisten bleiben einstellig. Schleierhaft bleibt der Erfolg der ITN: Wer die heute noch wählt, macht sich im Grunde lustig über die Demokratie.   

Ist in diesem Parlament eine Regierung möglich und wahrscheinlich?
Wenn Stillstand Runden drehen könnte, dann erleben wir wohl eine neue Runde Stillstand, und Stillstand bedeutet praktisch Rückschritt. Ich halte es für ausgeschlossen, das GERB im neuen Parlament Mehrheiten für sich gewinnen kann. Also mache ich mich auf eine neue Übergangsregierung und einen weiteren Wahlgang in diesem Jahr gefasst. Das Problem daran ist nur: Es gibt nur einen, der von dieser politischen Endlosschleife profitiert, und das ist Staatspräsident Rumen Radev. In einer Demokratie gehört das Land seinen Bürgern, jedem Einzelnen von ihnen. Hierzulande hat das Land für die längste Zeit der vergangenen zwei Jahre dem Präsidenten allein gehört, und wahrscheinlich geht es so weiter. Die Bulgarinnen und Bulgaren haben eine neue Chance verpasst, sich ihr Land zurückzuholen. Darüber sollten wir uns im Klaren sein. 

Ist es tatsächlich so, dass Boiko Borissows Figur diesmal entscheidend ist? Dass ohne ihn eine Koalitionsregierung möglich wäre? Und was für eine Zukunft hat Borissow danach?
Fakt ist: Mit Boiko Borissow kann es für Bulgarien keinen glaubwürdigen Aufbruch in die Zukunft mehr geben. Aber ob es ohne ihn gelingt, ist nach dem voraussichtlichen Ergebnis eben auch sehr zweifelhaft: Wenn das Reformbündnis von Kiril Petkov und Hristo Ivanov sich auf eine Unterstützung von GERB ohne Borissov einlassen würde, dann wären weite Teile ihrer Wählerschaft vor den Kopf gestoßen. Die Lage ist sehr vertrackt, und die Reformer stehen zunächst vor der großen Aufgabe, ihr Bündnis zusammenzuhalten. Schon das wird nicht einfach, schätze ich. Was Borissov selbst angeht: Ihm geht es, glaube ich, vor allem darum, nicht im Gefängnis zu landen, im Land bleiben zu können und Ansehen und Auskommen behalten zu können. Wenn sich dazu ein Weg bahnen lässt, wäre für die Zukunft einiges gewonnen. Aber klar ist: Die Reformer haben einen weiten Weg vor sich, und die Hoffnung auf schnelle Erfolge sollte erst einmal begraben werden. Dafür gibt es jetzt die Chance auf einen nachhaltigen Aufbau von Parteistrukturen, um echte Verankerung in der Bevölkerung zu erreichen. Jetzt ist die Zeit, den Grundstein für spätere Erfolge zu legen.

Am Vorabend der Wahl haben mehrere deutsche Medien die Situation in Bulgarien sehr kritisch kommentiert, vor allem die strukturelle Korruption, die nicht transparente Regierungszeit von Borissow, aber auch die dauerhafte Unterstützung für ihn aus München, Berlin und Brüssel. Sind diese Kommentare berechtigt? Und was für eine Regierung in Sofia erwarten jetzt Berlin und Brüssel?
Es ist ein Problem, wenn Parteien, die zu Hause ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, im Ausland weiter hofiert werden, weil sie sich europäisch nützlich machen. Es gibt eine Lücke zwischen den Werten, die Europa im Mund führt, und der kurzfristigen Realpolitik, die am Ende betrieben wird. Diese Lücke sollte geschlossen werden, und es ist eine Aufgabe für Europa, weniger für Bulgarien. Denn für diese Fehlentwicklung können nicht die Wählerinnen und Wähler in Bulgarien verantwortlich gemacht werden.

Heute ist der Bundeskanzler Scholz in Rumänien, dort wird er sich auch mit der moldauischen Präsidentin treffen. Das geschieht natürlich vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Wird sich die Position Bulgariens zu diesem Krieg nach der Wahl ändern? Wie sehen Sie die Rolle Radevs in dieser Sache?
Die pro-europäische Präsidentin der Republik Moldau, Maia Sandu, sieht sich in ihrem Land massiver Unterwanderung durch Russland ausgesetzt. Pro-russische Oligarchen machen mobil gegen sie, organisieren bezahlte Massenproteste. Rumänien stützt die Moldau, doch im Rest der Europäischen Union wird zu oft weggeschaut. Deshalb ist es gut, dass Bundeskanzler Scholz die junge Präsidentin trifft, denn die Zeitenwende findet auch und besonders in der Moldau statt. Die strategische Bedeutung dieses kleinen Landes für die Zukunft Europas kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Und wenn Moldau schon strategische Bedeutung hat, dann ist Bulgarien als Mitglied der Europäischen Union noch viel entscheidender. Es geht darum zu verhindern, dass Bulgarien Richtung Russland abkippt und fest an der Seite Europas bleibt. Ich bin nicht sicher, ob das allen in Brüssel und den europäischen Hauptstädten schon klar ist. Der bulgarische Staatspräsident spielt hier eine ausgesprochen undurchsichtige Rolle, und seine immer wieder belegte pro-russische Grundhaltung, nachdem er als Europäer ins Amt gewählt wurde, sollte Anlass zu Sorge und Aufmerksamkeit sein. Europa ist gut beraten, Radev auf die Finger zu schauen. 

Stichwort Moldau: Das Land befindet sich in großer Gefahr, Russland führt dort einen hybriden Krieg, der bald blutig werden könnte, Transnistrien ist unter russischer Kontrolle, die Bevölkerung ist gespalten. Viele Beobachter sehen auch Bulgarien in einer vergleichbaren Lage. In einer US-TV-Serie hat Russland sogar in Sofia geputscht und die bulgarische Schwarzmeerflotte vernichtet. Bestehen solche Gefahren?
Es hat keinen Zweck, den Teufel an die Wand zu malen. Aber es ist sinnvoll, sich den Realitäten zu stellen. Die westeuropäischen Regierungen, besonders die Bundesregierung, sind seit dem 24. Februar 2022 immer noch damit beschäftigt, ihre Fehleinschätzungen intern zu verarbeiten, statt entschlossen Konsequenzen daraus zu ziehen und ihre außenpolitischen Grundannahmen an die Wirklichkeit anzupassen. Das bulgarische Wahlergebnis ist eine Chance zum entschlossenen Umdenken. Europa zu bewahren, heißt vieles zu ändern.  

Dieses Interview erschien erstmals in der Deutschen Welle am 03. April 2023.