Coronavirus
Freiheit nach Corona
Von Karl-Herrmann Flach stammt der Satz: „Die Freiheit stirbt scheibchenweise.“ Dass diese Diagnose zutrifft, lässt sich zum Jahreswechsel wieder beobachten, und zwar an der Reaktion von Intellektuellen auf das langsame Verschwinden der Bedrohung durch Corona, nachdem selbst extrem vorsichtige Virologen wie Christian Drosten Covid-19 neuerdings als „Endemie“ und nicht mehr „Pandemie“ einstufen.
So ergänzte jüngst Kim Björn Becker, angesehener Innen- und Gesundheitsexperte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, sein engagiertes Plädoyer für eine Beibehaltung von Maskenpflicht und anderen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in seinem Leitkommentar u. a. mit folgendem Satz: „Passenderweise helfen jene Maßnahmen, die der Verbreitung des Coronavirus Einhalt gebieten, auch gegen die Übertragung der Grippe.“
Dieser Satz klingt harmlos, und wäre er ein Einzelfall, könnte man über ihn hinweggehen. Aber man findet die dahinter stehende Argumentation derzeit in vielen öffentlichen Bewertungen der Infektionslage. Darin steckt aber ein gefährlicher Gedankengang, nämlich das Aushebeln eines fundamentalen Grundsatzes im freiheitlichen Rechtsstaat: des Prinzips der Verhältnismäßigkeit. Es besagt in einfacher, nicht-juristischer Sprache, dass individuelle Freiheitsrechte nur soweit und solange eingeschränkt werden dürfen, wie es der Schutz der Allgemeinheit erfordert.
Die Freiheit stirbt scheibchenweise.
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Kim Björn Becker stellt genau diesen Grundsatz infrage. Er beschränkt sich nämlich nicht auf sein Urteil über den Status der Pandemie oder Endemie, die zur Einführung der Freiheitseinschränkungen führte. Nein, er greift auf einen völlig neuen Tatbestand zurück – als eine Art zusätzliche Rechtfertigung der Maßnahmen: die akute Grippewelle. Dabei verändert er gewissermaßen die rechtliche Geschäftsgrundlage: Vor dem Beginn von Corona, also vor 2020, wäre in Deutschland kein vernünftiger Mensch auf den Gedanken gekommen, wegen einer Grippewelle die Maskenpflicht in Bussen, Bahnen und Flugzeugen einzuführen. Jetzt ist für Becker – und andere – offenbar die Argumentationshürde gesenkt, denn man schlägt ja gewissermaßen zwei Fliegen mit einer Klappe: das Restrisiko der Covid-19-Endemie und die neuen Risiken einer Grippewelle.
Geschickter geht es nicht, wenn man zum Ziel hat, auf schleichendem Weg die Scheidelinie zwischen berechtigten und überzogenen Beschränkungen der Freiheitsrechte fast unmerklich ein Stück zu Lasten der Freiheit zu verschieben. „In dubio pro libertate“, der alte römische Rechtsgrundsatz gilt hier offenbar nicht mehr. Im Gegenteil, es werden ad hoc weitere Argumente zusammengetragen, um die Beschränkung der Freiheit zu rechtfertigen, auch wenn diese im bisherigen Freiheitsverständnis für das Begründen einer Beschränkung nicht vorkamen.
Für Liberale wie den Verfasser dieser Zeilen und wohl auch den Bundesjustizminister Buschmann läuten da die Alarmglocken. Muss man nach Corona damit rechnen, dass generell mit gesundheitspolitisch motivierten Beschränkungen der Freiheitsrechte sehr viel lockerer umgegangen wird als in den Jahrzehnten vor 2020? Werden wir jetzt in jedem Herbst und Winter verpflichtet, in öffentlichen Verkehrsmitteln Maske zu tragen, weil die Inzidenz der Influenza steigt und zusätzliche Krankenhausbetten belegt werden? Sehen wir mal davon ab, dass dies sogar medizinisch fragwürdig sein könnte, weil die allzu starke Masken-Abwehr vor Viren den natürlichen Aufbau der Immunkräfte schwächt. Selbst dann bleibt die große gesellschaftspolitische Frage: Wollen wir diesen Weg der schleichenden Freiheitseinschränkung wirklich gehen?
Viele werden diesen Zweifeln entgegenhalten, dass es doch eigentlich um eine Kleinigkeit geht: Was ist schon das Tragen von Masken gegenüber vielen anderen Einschränkungen? Beliebt ist der Vergleich mit dem Rechtsfahren im Straßenverkehr, der Leinenpflicht für Hunde in Parks oder die Regulierung des Baurechts in Städten. All diesen Pflichten, Regeln und Zwängen ist aber gemein, dass sie an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden sind, und so muss es auch in der Gesundheitspolitik sein und bleiben.
Natürlich gibt es – leider – viele Beispiele von rechtlichen Beschränkungen, bei denen sich eine normative Kraft des Faktischen durchgesetzt hat, auch wenn der objektive Grund entfallen ist. Klassische Beispiele dafür liefert das Steuerrecht, u. a. die Einführung der Sektsteuer im Jahr 1902 zur Finanzierung der kaiserlichen Flotte und des Solidaritätszuschlags nach 1990 zur Finanzierung der Deutschen Einheit. Beide bestehen bis heute fort. Aber gerade diese Beispiele sind eine Mahnung, dass die Gefahr der Fortschreibung von Freiheitsbeschränkungen real ist. Karl-Herrmann Flach hatte recht: „Die Freiheit stirbt scheibchenweise.“ Und genau das dürfen wir nicht zulassen.