Veranstaltung
6. Lord Dahrendorf Lecture: "Freiheit und Solidarität – Ein Konflikt in einer disruptiven Gesellschaft?"
Alles soziale Leben ist Konflikt, weil es Wandel ist. (…) Im Konflikt liegt daher der schöpferische Kern aller Gesellschaft und die Chance der Freiheit – doch zugleich die Herausforderung zur rationalen Bewältigung und
Kontrolle der gesellschaftlichen Dinge.
Food for Thought
Diese These von Ralf Dahrendorf aus seiner berühmten Konflikttheorie zeigt den Kern seiner Botschaft für die liberale Gesellschaft: Für die Chance nach Freiheit spielt der Konflikt eine zentrale Rolle. Sozialer Konflikt wird verstanden als die Spannung zwischen der von der Gesellschaft errichteten Regeln und festen Institutionen sowie dem Freiheitsstreben nach Veränderung und Freisinn. Aus dieser Spannung entstehen Konflikte, aber auch die Möglichkeit, sich dadurch in Richtung Freiheit zu bewegen. Dahrendorf knüpft damit an Max Weber an, der bereits den Wettbewerb zwischen Interessen und Ideen analysierte und dessen Auswirkungen auf unser Handeln. Ideen sind demnach zumeist die ‚Weichensteller´ für Interessen und das Handeln des Menschen.
Meinungsfreiheit und Pressefreiheit
Lord Ralf Dahrendorf, ehemaliger Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit von 1982 bis 1987, prägte durch zahlreiche Publikationen eine neue Richtung der Soziologie. Im Fokus seiner Analyse steht, dass wissenschaftliche Theorie nicht vollständig sein kann, wenn soziale Wirklichkeit dabei ignoriert wird. Wandel und Fortschritt einer demokratischen Gesellschaft kann nach Dahrendorf nur entstehen, wenn soziale Konflikte und Umbrüche akzeptiert und reflektiert in Entscheidungsfindungen integriert werden. Meinungsfreiheit und Pressefreiheit sind also fundamental im Ideenkonzept von Dahrendorf. Im Gegensatz dazu herrschen in einer Diktatur aus diesem Grund zwanghafte Unterdrückung und manische Kontrolle von Meinung und Interessen, da jede wahrhaftige entgegenstehende Position in einer unerwünschten Revolution enden könnte. Wenn eine demokratische Gesellschaft Wandel durch Konflikte erlebt, da insbesondere die gemeinsame Konfliktregelung Fortschritt verspricht, dürfen Institutionen aber nicht Konflikte auflösen. Gleichzeitig müssen Konflikte in ihrem Gewaltpotential heruntergeregelt werden, um ihr positives Potenzial für eine Gesellschaft zu entwickeln. Nur: Welche Konflikte sind produktiver Art und welche nicht?
Die Pandemie zeigt, wie schnell Polarisierung zu tiefgreifenden Problemen in der Gesellschaft führen kann. Ein Teil der Bevölkerung hat sich gegen Impfungen gegen COVID-19 ausgesprochen.
Der andere Teil begegnet dieser Haltung oft mit Missmut, obwohl die Motive für ein bestimmtes Handeln sogar dieselben sein können, denn die meisten wollen doch nur ihre Familie oder Bekannten schützen. Die einen sagen, dass das nur mit einer Impfung gelingt, eine starke Minderheit lehnt bis heute diese Position ab. Die aus den Ideen resultierenden Handlungen schüren dann den Konflikt und die Auseinandersetzungen an der Öffentlichkeit. Es bleibt die Frage: Ist dieser Konflikt sowohl produktiver als auch negativer Art? Er ist produktiv, wenn es darum geht, die Gesellschaft daran zu erinnern, kritisch Dinge zu hinterfragen oder für ein breites Spektrum an Meinungen sensibilisiert zu werden.
Glauben ist nicht wissen
Allerdings ist der Konflikt auch unproduktiver Natur, wenn andere Bürger durch individuelle Handlungen potenziellen in ihrer Gesundheit Schaden nehmen können oder Freiheiten eingeschränkt werden, weil nicht genügend Menschen geimpft sind. Mangelnde Kommunikation bzw. nicht effektive Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Parteien, dabei auch Politikerinnen und Wissenschaftlerinnen miteingeschlossen, können zu einer Intensivierung des Konflikts führen. Laut Dahrendorf führen nur Selbstreflexion, Selbstkritik und Austausch über die eigenen Basiswerte in einem Konflikt zu einer positiven Entwicklung. Ein Problem könnte hier liegen, dass Emotionen als Konflikterzeuger nicht als einflussreich anerkannt werden, obwohl sie in jedem Konflikt als Wurzel und damit auch als wichtiger Part zur Lösung dienen. Die persönliche Haltung zu bestimmten Fakten und Positionen prägt schließlich auch politische Antworten.
„Emotionen motivieren, Erklärungen zu finden“, schreibt Sabine Döring, Professorin am Lehrstuhl für Philosophie in Tübingen, über die Rolle von Emotionen in der Politik.
Sie analysiert, dass in einer emotionalen Positionierung allerdings so genannte „alternative Fakten“ entstehen können, die wenig bis nichts mit der Realität zu tun haben. Folglich ist es sehr schwierig in einem Konflikt zu einer Lösung zu kommen, wenn es keinen objektiven Wahrheitsbezug zu geben scheint. Außerdem kann es dazu führen, dass der Konfliktpartner den Respekt gegenüber dieser Position verliert, wenn er meint, vermeintliche Wahrheiten entdeckt zu haben (und die Wirklichkeit dabei leugnet). Emotionen verändern
unsere Wahrnehmung, aber tritt die Emotion in den Vordergrund, sind absolute Wahrheitsansprüche nicht fern. Aber absolute Positionierungen entfachen Konflikte, die schwer auflösbar sind.
Glauben ist nicht wissen, wie man so schön sagt. Daher sollte eine Positionierung fundiert sein. Allerdings ist es hier schwierig zu sagen, wann eine Position objektiv irrational ist und wann eine Position geprägt ist von Emotionen und Glaube, was dem Wahrheitsbezug keinen Nachteil bringt. Auf einem Glauben zu beharren, dass beispielweise die Impfung tötet, was erwiesenermaßen nicht stimmt, ist unproduktiver Art. Dadurch entstehen Konflikte, die bereits gelöst sind. Nicht eine Lösung zu akzeptieren, kann auch zu Leid führen. Lässt sich der unproduktive Konflikt wirklich vermeiden, indem die eigene Wertbasis klar artikuliert wird und die des anderen toleriert wird?