AKP- Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung
Seit 2008, dem Jahr der ersten Ausgabe des Bulletins, hat die AKP mit ihrer Politik den Weg der Reformen und der Annäherung an die Europäische Union verlassen. Spätestens seit 2009 kann von einem Rückgang der Demokratisierung und der Menschenrechte, vor allem der Meinungsfreiheit, gesprochen werden.
Im Bunde mit der vor allem in ihrer Amtszeit erstarkten islamischen Gülen-Bewegung hat die AKP in einer inoffiziellen Koalition eine Ära der islamisch-konservativen Kräfte eingeläutet. Gemeinsam hatten AKP und Gülen-Bewegung in allen bürokratischen Strukturen ihre Gesinnungsgenossen positioniert. Dank regierungsnaher Medien konnte die öffentliche Meinung bewusst gesteuert werden. Die Gülen-Bewegung, die sich zunächst im Bildungswesen, später in allen Feldern staatlicher Autorität, wie Polizeiwesen, Militär und Justizapparat, organisierte, konnte sich mit einigen spektakulären Schauprozessen der alten Elite des Landes entledigen. Mit dem Ergenekon-Prozess von 2007 verloren dutzende kemalistische Generäle sowie hunderte Offiziere ihre Posten und wurden inhaftiert. Nahezu das gesamte Führungspersonal des türkischen Militärs wurde ausgetauscht und die politische Rolle der Streitkräfte beendet.
Unterdessen kreierte die AKP allmählich ihr eigenes Wirtschaftsumfeld. Staatliche Großaufträge wurden nur noch an Firmen und Geschäftsleute vergeben, die regierungsnah waren und sich um die Partei “verdient” gemacht hatten. Mit dem Ausbau des Sozialstaates, vor allem für die Schwächsten der Gesellschaft, wie Behinderte, Alte und alleinerziehende Mütter, wurde Positives geleistet, aber auch ökonomische Abhängigkeit vom Staat kreiert. So ist es der AKP seit 2002 gelungen, aus jeder Wahl als Sieger hervorzugehen: Sie sicherte diesen Erfolg aufgrund der Unterstützung durch eine breite Schicht von islamischen Gemeinden, konservativen Wählern, einer neuen Wirtschaftselite, die ihren ökonomischen Aufstieg weitgehend der Partei verdankt, und durch die existentiell von Staat bzw. Partei abhängigen Sozialhilfeempfänger.
Um die Unterstützung der islamischen Kreise dauerhaft abzusichern, wurde eine staatliche gelenkte Islamisierung gestartet. Nach Lösung des Symbolproblems Kopftuch im Jahre 2009 konnte die AKP andere Maßnahmen ergreifen, die Stück für Stück das laizistische Wesen der Türkei untergraben haben. Heute sitzen z. B. 21 Frauen mit Kopftuch im türkischen Parlament. Mit Hilfe entsprechender Currricula wurde das gesamte Bildungswesen von den Kindergärten bis zu den Hochschulen gemäß konservativen Werten umgeformt. Als Beleg sei die Einführung der Koranlehre als obligatorisches Schulfach genannt. Die Religionsbehörde Diyanet greift durch ihre Fatwas immer öfter in das tägliche Leben der Menschen ein. Der Alkoholkonsum ist in weiten Teilen des Landes behördlichen Restriktionen unterworfen.
Die AKP hat auch die Universitäten des Landes unter die Lupe genommen. An vielen Hochschulen bestimmen regierungsnahe Rektoren das Geschehen auf dem Campus; Kritik an der Regierungspolitik ist nahezu unmöglich. Als Illustration: Dutzende Akademiker, die eine Friedenspetition zur Kurdenfrage unterzeichnet hatten, haben mittlerweile ihren Job verloren und werden unter dem Vorwurf der „Terrorpropaganda“ angeklagt.
Nur wenige Tage nach dem Putschversuch von 15. Juli 2016, hinter dem – wie allgemein angenommen – gülenistische Militärs standen, ist der Ausnahmezustand eingeführt worden. Seitdem wird das Land von präsidentiellen Dekreten unter Umgehung des Parlaments regiert. Die Dekrete bestimmen mittlerweile weite Teile des öffentlichen Lebens und sind vor dem Verfassungsgericht nicht anfechtbar.
Mit dem Verfassungsreferendum vom April 2017 begann zudem die Einführung eines präsidentielles Systems in der Türkei. So wurde Erdoğan, der im August 2014 zum Präsidenten gewählt worden war, nach knapp 2,5 Jahren wieder Vorsitzender seiner Partei. Die Kontrolle der Legislative, Exekutive und der Judikative liegt damit quasi in den Händen von Erdoğan. Sein Einfluss auf die Justiz ist enorm. Nachdem das Verfassungsgericht die Freilassung von zwei renommierten Journalisten angeordnet hatte, widersetzte sich ein niederes Gericht diesem Urteil und entsprach so den Intentionen des Präsidenten.
Heute ist die Türkei das Land mit den meisten inhaftierten Journalisten. Viele Zeitungen unterziehen sich einer weitgehenden Selbstzensur um das Risiko der Schließung zu umgehen. Dutzende Medienanstalten wurden mit Dekreten geschlossen, das Eigentum entschädigungslos enteignet und dem Staat übertragen. Kurdische und kritische TV- und Radio-Kanäle sowie Webseiten wurden geschlossen. Die bekannte US-NGO Freedom House klassifiziert die Türkei daher inzwischen nicht mehr als "partly free", sondern als "not free".