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Mexico
Corona in Mexiko: Uns kann das nicht viel anhaben

Erst spät hat der mexikanische Präsident Andres Manuel Lopez Obrador den Ernst der Lage in der Coronakrise erkannt und tut sich schwer mit dem Krisenmanagement.
Bus in Mexiko-Stadt
© picture alliance

Mexiko hat es derzeit mit drei Phänomenen gleichzeitig zu tun, die die Corona-Krise weltweit prägen: Erstens: die meisten populistischen Regierungschefs werden von der Krise auf dem falschen Fuß erwischt. Ihre Fähigkeit zur Beeinflussung und Manipulation des politischen Diskurses tut sich schwer in Zeiten, in denen die Epidemie den Diskurs beherrscht. Zweitens: Ihr personalisierter emotional geprägter Führungsstil ist hilflos angesichts einer Krise, in der institutionelle Kapazität, professionelles Agieren und Entscheiden auf der Basis von Daten und wissenschaftlichen Erkenntnissen gefragt sind. Drittens: In Ländern mit einer großen ärmeren Bevölkerung, die keine formalen Arbeitsverhältnisse hat und sich mit Gelegenheitsarbeit, unangemeldeten Arbeiten etwa im Haushaltsbereich oder Kleinhandel von Tag zu Tag über Wasser hält, ist ein totales Herunterfahren des öffentlichen Lebens und ein ausgleichendes wirtschaftliches und soziales Hilfsprogramm des Staates nicht so einfach möglich wie in reicheren Ländern mit hohen institutionellen und finanziellen Kapazitäten.

Der mexikanische Präsident Andres Manuel Lopez Obrador, allgemein kurz AMLO genannt, hat sich in den letzten Wochen nur mühsam und höchst widerwillig dazu bringen lassen, die Krise ernst zu nehmen. Am 4. März, als die WHO die Corona-Krise zur Pandemie hochstufte, reiste er weiter im Land herum, schüttelte Hände und herzte Unterstützer. Ein Video, das besonders viel Ärger auslöste, zeigte ihn, wie er ein kleines Kind umarmt und auf die Backe küsst. Entgegen den Warnungen aller Gesundheitsexperten, auch seiner eigenen, beharrte er drauf, dass sich die Mexikaner weiter umarmen sollten und die Hände schütteln sollten. Die mexikanische Kultur sei der beste Schutz, Mexiko hätte schon ganz andere Krisen überstanden, die größte Waffe sei die Ehrlichkeit, denn im Gegensatz zu früher habe Mexiko nun eine anständige Regierung anstatt all der korrupten neoliberalen Konservativen, die zuvor an der Macht waren. Er vertraue als Schutz außerdem auf Heiligenbilder. Bei seiner täglichen morgendlichen Pressekonferenz, von den Mexikanern auch „Morgenandacht“ genannt, wies er anfangs die angebotenen Desinfektionsmittel ostentativ zurück.

Nun ist ein Schutz durch Heiligenbilder angesichts der tiefverankerten Volksfrömmigkeit und der vielfältigen Schwächen des mexikanischen Gesundheitssystems für viele Mexikaner besser als nichts. Aber angesichts der Zögerlichkeit der Bundesregierung haben dann einzelne  Landesregierungen sowie die Privatwirtschaft selber die Initiative ergriffen. Schon vor über zwei Wochen begannen große internationale Firmen, ihre Mitarbeiter ins Homeoffice zu schicken, und das öffentliche Leben reduzierte sich spürbar. Ab dem 20.3. ergriff die Stadtregierung von Mexiko die Initiative, verbot größere Versammlungen und forderte die Menschen auf, soweit wie möglich zu Hause zu bleiben. Etliche Gouverneure von Bundesstaaten reagierten ebenfalls energischer und erließen ähnliche Maßnahmen. Besonders der Bundesstaat Jalisco reagierte zupackender und forderte die Bevölkerung streng auf, zu Hause zu bleiben. Gleichzeitig stellte Jalisco auch ein Hilfsprogramm von 1 Mrd Pesos (ca 40 Mio €) für Überbrückungskredite an Unternehmen bereit, um größere Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Die Zentralregierung zieht langsam nach und hat nun auch erste Hilfsprogramme aufgelegt, die sich insbesondere an Kleinstunternehmen richten. In Deutschland wird gerade gern über den Föderalismus geschimpft und mehr Zentralisierung gefordert. In Mexiko ist der Föderalismus derzeit eine Quelle der Dynamik.

Mittlerweile hat AMLO sich angesichts von ca. 1.000 bestätigten Fällen und einer exponentiell ansteigenden Kurve von Infektionen bewegt, er unterstützt jetzt Aufforderungen, zuhause zu bleiben und kündigt weitere Schritte an, um die Ansteckungsgefahren zu verringern. Insgesamt merkt man aber, wie schwer es ihm fällt, sich mit einer Krise auseinanderzusetzen, die ihn dazu zwingt, seine politische Kommunikation anzupassen und die große Bühne mit anderen zu teilen, in diesem Fall mit einem Staatsekretär im Gesundheitsministerium, Hugo Lopez-Gatell. Da zeigt AMLO deutliche Parallelen zu anderen populistischen Präsidenten wie Brasiliens Bolsonaro oder Donald Trump. Die Krise führt ja auch dazu, dass man den Leuten täglich schlechte Nachrichten mitteilen und Opfer abverlangen muss. Das widerspricht dem politischen Instinkt dieser Art von Politiker, die alle Probleme gern imaginierten Feinden zuschreiben und verkünden, mit ihnen würde aber alles besser. Jetzt wird aber gerade nichts besser.

Als zweite Schwäche kommt hinzu, dass AMLO wie andere Populisten wenig von autonomen professionellen Institutionen hält, da sie seinem personalisierten Politikstil zuwiderlaufen, sich selber in nahezu allem das letzte Wort und die freie Entscheidung vorzubehalten. Das mexikanische Gesundheitssystem war schon vor der Krise schlecht, insbesondere das öffentliche, auf das die Mehrheit der Mexikaner angewiesen ist. Im aktuellen Bundeshaushalt hatte AMLO aber die Mittel für das öffentliche Gesundheitswesen weiter gekürzt, um mehr Geld für seine direkten Transferzahlungen an Bedürftige zur Verfügung zu haben. Aufgrund dieser Kürzungen war das Gesundheitswesen bereits vor der Krise in den Schlagzeilen, weil überall Material und Personal fehlte. Für eine Pandemie ist es nun ganz und gar nicht vorbereitet. Das Land hat gerade mal ca. 5.000 Beatmungsgeräte und ca. 2.400 Betten auf Intensivstationen – in einem Land mit 126 Mio. Einwohnern. Wenn man davon ausgeht, dass 5% aller Infizierten künstliche Beatmung benötigen, dann dürfen sich nur maximal 8% der mexikanischen Bevölkerung infizieren. Das Gesundheitsministerium rechnet aber mit bis zu 70% von Infizierten. Das macht das Ausmaß der Bedrohung deutlich. Dazu kommen nach wie vor völlig unzureichende Testkapazitäten. Das Land schafft gerade mal ca. 110 Tests pro Tag und hat insgesamt bisher seit Beginn der Krise bis Anfang letzter Woche nur etwa 2.700 Tests durchgeführt. Das wahre Ausmaß der Krankheit ist daher völlig unbekannt. Man kann nur hoffen, dass das warme Wetter die Ausbreitung des Virus dämpft, wie das bei derartigen Viren normalerweise der Fall ist.

Man muss AMLO aber auch zugute halten, dass er, anders als etwa Präsident Duterte in den Philippinen oder Premierminister Modi in Indien, bisher nicht auf die Idee kam, mit rabiatem Autoritarismus auf die Krise zu reagieren und zu radikalen Zwangsmaßnahmen zu greifen. Nicht nur steht dem Mexikos eher freiheitliche Tradition im Weg. Hier hat AMLO offenbar auch die Lebensrealität der ärmeren Bevölkerung viel klarer im Blick. 55% der Bevölkerung arbeiten im informellen Sektor. Sie leben buchstäblich von der Hand in den Mund und sind auf tägliches Einkommen durch Kleinhandel und Dienstleistungen angewiesen. Soziale Distanzierung trifft diese Menschen besonders hart, weil ihr karges Einkommen wegbricht und sie keine Rücklagen haben. Daheimbleiben ist auch kein ideales Rezept für Menschen, die in extrem dicht besiedelten Wohnvierteln mit defizitären sanitären Einrichtungen leben. Eine rabiate, von Polizei und Militär durchgesetzte weitgehende Ausgangssperre, wie sie in etlichen Ländern derzeit praktiziert wird, würde Armut und Not vergrößern, einhergehend mit Explosionen an Kriminalität und Gewalt. Mexikos Sicherheitskräfte sind schon zu normalen Zeiten nicht Herr der Lage in weiten Teilen des Landes. Eine weitere Zunahme öffentlicher Unsicherheit kann sich das Land schlichtweg nicht leisten. Es hat auch nicht die finanziellen Mittel, ein Einbrechen der Wirtschaftsleistung durch staatliche Hilfen in dem Umfang zu kompensieren, wie das in Deutschland oder den USA möglich ist – abgesehen davon, dass die mexikanische Bürokratie auch kaum in der Lage wäre, das Geld an die Bedürftigen zielgerichtet zu verteilen. Bei aller Kritik am wenig hilfreichen öffentlichen Diskurs des Präsidenten AMLO – dass er vor rabiaten Maßnahmen zurückschreckt, sollte man als das respektieren, was es ist – eine Abwägung der Kosten verschiedener Strategien aus der Sicht der Schwächsten der Gesellschaft. Diese Abwägung muss in Mexiko anders aussehen als in Deutschland.

 

Siegfried Herzog ist Regionalbüroleiter für Lateinamerika.