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Justizreform
Das Ringen um die Zukunft der Existenz Israels

Israel
© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Oded Balilty

Die Proteste in Israel halten an. Die Verabschiedung eines der umstrittensten Gesetzgebungsprojekte der aktuellen israelischen Regierung hat das Land in Aufruhr versetzt. Unser Experte Julius von Freytag-Loringhoven, Pressesprecher der Stiftung und bis Juni 2023 Leiter der Jerusalemer Büros, versucht im Interview die aktuelle politische Lage einzuordnen.

freiheit.org: Sie verfolgen die Debatte um die Pläne der Justizreform der israelischen Regierung seit Anfang des Jahres. Hat sich die Regierung mit der Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsklausel gestern endgültig gegen ihre Gegner durchgesetzt?
Julius von Freytag-Loringhoven: Es ist viel zu früh, hier ein endgültiges Urteil zu treffen. Denn die geplante Justizreform beinhaltet eine noch weitreichendere Beschneidung der Justiz. Darüber hinaus will die Regierung die Ernennung der Richter, insbesondere des Höchsten Gerichts, unter ihre Kontrolle bringen. Dazu plant sie ein Gesetz, das es ihr erlaubt, jede Entscheidung des Höchsten Gerichts mit einfacher Parlamentsmehrheit zu überstimmen. Der Oppositionsführer Yair Lapid, dessen Partei Yesh Atid [„Es gibt eine Zukunft“] mit der deutschen FDP Mitglied der Liberalen Internationalen ist, warnt seit langem, dass dies Israel in seinen Grundfesten als liberale Demokratie erschüttert, weil dies einem Ende der Gewaltenteilung gleich komme. Und im ganzen Land demonstrieren seit Monaten Hunderttausende gegen die sogenannte Justizreform. Das wäre vom Anteil der Bevölkerung so, als wenn in Deutschland viele Millionen demonstrieren würden. Das ist in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht vorgekommen.

Die Proteste scheinen ja nicht abzuflauen und es gab auch gewaltsame Zusammenstöße zwischen Polizei und Protestierenden gestern Nacht. Was treibt die Regierung in ihrem Handeln an, dennoch mit der Reform fortzuschreiten? Und um was geht es der Opposition?
Es herrscht seit langem die Meinung im Kreise israelischer rechter und religiöser Parteien, dass die Justiz unrechtmäßigen Einfluss auf die Politik nähme. Das Höchste Gericht hat tatsächlich in Abwesenheit einer geschriebenen Verfassung und eines demokratisch legitimierten Verfassungskonvents seit den 90er Jahren einige Grundgesetze kodifiziert und ihnen in Summe einen Verfassungsrang zugesprochen. Dazu kann die Justiz über die sogenannten Rechtsberater in allen Ministerien direkt in das Regierungshandeln eingreifen. Deswegen sagen auch die meisten israelischen Verfassungsrechtler, dass hier eine Reform wichtig wäre. Was jedoch die Opposition - und nach Umfragen die Mehrheit der israelischen Bevölkerung -erschreckt, ist, wie extrem die Macht der Justiz zugunsten einer dann allmächtigen Regierung gebrochen werden soll. Das kompromisslose Handeln der Regierung treibt die Menschen auf die Straße, die echte Existenzangst um die Verfasstheit ihrer Heimat haben.

Diese Existenzangst, die sie beschreiben, speist die sich nur aus der geplanten Justizreform, oder steht da mehr dahinter?
Im Grunde kristallisiert sich in der geplanten Justizreform das Ringen um den Charakter des Staates. Die Mehrheit der Startup-Wirtschaft, der Wissenschaft, der Medien und zivilgesellschaftlichen Aktivisten, aber eben auch die Mehrheit der israelischen Bevölkerung ist säkular und demokratisch gesonnen. Gleichzeitig steigt der Anteil und Einfluss der Ultraorthodoxen und messianischen Nationalreligiösen. Deswegen haben die Menschen nicht nur Angst vor der Justizreform, sondern auch vor dem Ende ihres säkularen Israels. Sie haben Angst vor einer religiös begründeten illiberalen Minderheitendiktatur. Denn die knappe Regierungsmehrheit in der Knesset spiegelt nicht die Bevölkerungsmehrheit wider. Dass bereits schon Zehntausende deswegen ihren Reservedienst in der israelischen Armee verweigern wollen, schafft ein neues Sicherheitsrisiko im Land. Man kann nur hoffen, dass das und die Proteste die Regierung doch noch zu Kompromissen bringt. Denn die Stimmung wirkt teilweise schon bürgerkriegshaft.

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