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Bundesverfassungsgericht
Demokratie unter Druck: Die Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts

Viele Menschen gehen während einer Demonstration durch Freiburg und demonstrieren gegen rechts während sie Banner mit Aufschriften wie "Für Vielfalt & Solidarität gegen Rechtsextremismus", "# Demokratie vereint stärken und schützen!" oder "Menschenrechte statt rechte Menschen" tragen. Mit der Demonstration wollen die Teilnehmer ein Zeichen des Widerstands gegen rechtsextreme Umtriebe setzen.

Demonstranten halten Banner mit Aufschriften wie "Demokratie vereint stärken und schützen!" und "Für Vielfalt & Solidarität gegen Rechtsextremismus".

© picture alliance/dpa | Philipp von Ditfurth

„Die Epoche der liberalen Demokratie ist zu Ende.“ Das erklärte der ungarische Staatschef Viktor Orbán 2018 bei seiner Wahl zum Ministerpräsidenten vor dem Parlament. Seine Prognose stimmt für Ungarn mit der von ihm eingeführten sog. illiberalen Demokratie uneingeschränkt. Und weltweit stehen liberale Demokratien unter Druck. Demokratiefeindliche Parteien haben Auftrieb und in einigen Ländern auch Regierungsverantwortung.

Um ihre Macht langfristig zu sichern, schrecken sie vor umfassenden „Reformen“ nicht zurück – sei es in der Türkei unter Erdogan, in Israel mit Netanjahus Justizreform oder bis vor Kurzem in Polen unter der PiS-Partei. Überall haben die regierenden Parteien versucht, den unabhängigen Rechtsstaat auszuhöhlen und der Demokratie somit schweren Schaden zuzufügen.

Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts: Schutz der liberalen Demokratie in Deutschland

Die Bundesrepublik ist von solchen Entwicklungen bisher verschont geblieben. Doch müssen wir aus den Vorgängen, die sich selbst in unserer nächsten Nachbarschaft abspielen, Konsequenzen ziehen. Kein Politiker und kein Experte kann voraussehen, ob nicht auch hierzulande eines Tages erneut Antidemokraten politische Mehrheiten oder Regierungsverantwortung innehaben werden. Die aktuellen Umfragewerte sollten uns jedenfalls Mahnung genug sein. Auch in Deutschland ist die liberale Demokratie nicht frei von Bedrohungen. Umso wichtiger ist es, ihre Mechanismen und Institutionen bestmöglich gegen den Missbrauch durch Verfassungsfeinde zu schützen.

Eine besondere Rolle kommt dabei dem Bundesverfassungsgericht zu. Egal ob in Ungarn, Polen, den USA oder in Israel: Der Umbau der Verfassungsgerichte war stets eine Priorität in den Plänen antidemokratischer Regierungen. Denn Verfassungsgerichte sind eine mächtige und unabhängige Institution.

In Deutschland ist das Bundesverfassungsgericht der Hüter des Grundgesetzes. Es kann verfassungswidrige Gesetze auch des demokratisch legitimierten Gesetzgebers für nichtig erklären. Es sorgt für die Einhaltung der Grundrechte, deren Prüfung die Bürgerinnen und Bürger mittels Verfassungsbeschwerden bei eigener Betroffenheit selbst einfordern können. Und es entscheidet in Organverfahren über die Rechte von Verfassungsorganen wie z.B. der Fraktionen im Deutschen Bundestag und über Minderheitenrechte von Oppositionsfraktionen.

Außenaufnahme des Bundesverfassungsgericht.

Außenaufnahme des Bundesverfassungsgericht.

© picture alliance/dpa | Uli Deck

Bemerkenswerte Diskrepanz

Da sich Verfassungsgerichte mit politischen Entscheidungen auseinandersetzen und diesen – wenn sie nicht im Einklang mit der Verfassung sind – einen Riegel vorschieben, sind sie autoritären Machthabern ein Dorn im Auge. Schließlich möchten diese ihre radikalen Programme umsetzen, ihre Macht erhalten und sich dabei nicht von Richtern stören lassen. Und so versuchen zur Autokratie neigende Regierungen, Gerichte zu entmachten oder ihre Funktionsfähigkeit stark zu beeinträchtigen. Sie verkürzen die Amtszeiten amtierender Richterinnen und Richter, ernennen ihnen politisch genehme Richterinnen und Richter, weiten deren Amtszeiten aus, beschränken Kompetenzen oder legen Gerichte durch überbordende Verfahrensvorschriften de facto lahm.

Kann dies auch in Deutschland geschehen? Leider ja. Es herrscht eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der überragenden Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts für unser demokratisches System und seiner mangelnden Absicherung für stürmische Zeiten. Im Grundgesetz finden sich einige grundsätzliche Regelungen in den Artikeln 92 bis 94 zu seiner Existenz und Kompetenz sowie zum Verfahren zur Wahl von Richterinnen und Richtern durch den Bundestag und Bundesrat. Alle anderen Aspekte regelt das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG).

Das ist keineswegs trivial. Denn das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ist einfaches Bundesrecht und kann mittels einer einfachen Mehrheit im Bundestag geändert werden. Wenn eine rechtsextreme Partei eine Regierung bilden würde, hätte sie diese einfache Mehrheit im Bundestag wahrscheinlich recht schnell zusammen. Ein Blick ins BVerfGG zeigt, dass damit bereits viele Änderungen realisiert werden könnten.

So könnte die Anzahl der Senate erhöht und ein dritter Senat mit Sonderzuständigkeit für politisch brisante Entscheidungen eingerichtet werden. Auch die Amtszeit und Altersgrenze könnte zugunsten linientreuer Richterinnen und Richter geändert werden, ebenso wie das Wahlverfahren, das maßgeblich auf informellen Verhandlungen der demokratischen Parteien beruht und einer 2/3-Mehrheit des Bundestages bzw. des Bundesrates (beide Organe wählen jeweils die Hälfte der Richterinnen und Richter) bedarf.

Änderungen hätten signifikante Auswirkungen auf das Gericht als unabhängige Instanz sowie das gesamte politische System mit seinen „Checks and Balances“ (dt. Überprüfung und Ausgleich).

Vor diesem Hintergrund mehren sich die Stimmen, die vor einem solch düsteren Szenario warnen. Und sie warnen zurecht. Es wäre sinnvoll und vorausschauend, grundlegende Regeln, die die Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit des Gerichts sichern, in das Grundgesetz aufzunehmen. So sollte die bestehende Amtszeit der Richterinnen und Richter auf zwölf Jahre bzw. bis zum Erreichen der Altersgrenze von 68 Jahren verfassungsrechtlich verbrieft werden. Das stärkt ihre Unabhängigkeit. Außerdem sollte das Wahlverfahren ins Grundgesetz aufgenommen werden.

Diese Normen im Grundgesetz könnten dann nur mit einer 2/3-Mehrheit des Bundestages und des Bundesrates geändert werden. Gleichzeitig müssten Regelungen zur Überwindung einer möglichen Sperrminorität durch ein blockierendes Drittel der Abgeordneten gefunden werden. Das muss sogfältig überlegt werden.

Gefährliche Illusion

Natürlich lebt eine Demokratie nicht allein davon, dass es ein unabhängiges Verfassungsgericht gibt, sondern dass sich Menschen aktiv für sie einsetzen – in Vereinen, in Parteien, in Initiativen und indem sie wählen gehen. Die Weimarer Republik ist nicht an seiner schwachen Verfassung gescheitert, sondern am mangelnden Zuspruch in der Bevölkerung und daran, dass die Polarisierung den Verfassungsfeinden den Boden bereitet hat, die sich über alle Regelungen hinweggesetzt haben. Wer angesichts der bisherigen und drohenden Wahlerfolge radikaler Parteien in Deutschland keine Notwendigkeit für die Stärkung der Institution sieht, in die die Bürgerinnen und Bürger das größte Vertrauen haben, gibt sich einer gefährlichen Illusion hin.

Das Grundgesetz ist keine Baustelle, an der stets und ständig herumgeschraubt werden sollte. Aber Reformen, die gewährleisten, dass der Verfassung weiterhin zur Durchsetzung verholfen werden kann, haben eine andere Qualität. In Polen können wir derzeit beobachten, wie schwierig es ist, einen Rechtstaat zu reparieren, nachdem er von Verfassungsfeinden schwer beschädigt wurde.

Das Beispiel Polen zeigt jedoch auch, dass die Epoche der liberalen Demokratie keineswegs zu Ende ist – anders, als es Viktor Orbán behauptet. Damit sie hierzulande resilienter gegenüber Orbáns Geistesbrüdern wird, müssen die demokratischen Parteien taktische Erwägungen beiseitelassen, einen Konsens finden und das Bundesverfassungsgericht besser absichern. Es wäre ein großer Dienst an der Demokratie.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist Bundesjustizministerin a.D. und stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Dieser Artikel schien erstmals am 19. März 2024 bei T-Online.