Homeschooling
„Ein Drittel zeigt psychische Auffälligkeiten“
Für Kinder und Jugendliche waren Homeschooling und Kontaktbeschränkungen besonders belastend. Die Koblenzer Pädagogikprofessorin Kathinka Beckmann über die Schule als Lebensort, die Bedeutung von Freunden und mangelnde Wertschätzung durch die Politik.
Annett Witte: Frau Professorin Beckmann, wie geht es den Kindern und Jugendlichen in Deutschland?
Kathinka Beckmann: Mein Forschungsteam und ich haben in intensiven Gesprächen, die wir für unsere Studien mit Kindern und Jugendlichen geführt haben, Sätze gehört wie „Ich weiß gar nicht mehr, wie man glücklich sein kann“, „Was bedeutet eigentlich noch normal?“, „Corona hat mir die Freunde geklaut“. Das war sehr traurig. Es geht den jungen Leuten eindeutig nicht gut.
Das Homeschooling hat zeitweise die Grenzen zwischen Schule und Familie verwischt. Was ist schlimm daran?
Homeschooling ist keine Schule: Denn Schule ist nicht nur ein Lernort, sondern ein prägender Lebensort. Das, was Schule schön macht, sind die Pausen. Da treffe ich Freundinnen und Freunde. Das fiel weg. Außerdem muss man sich klarmachen, dass Kinder und Jugendliche ein anderes Zeitempfinden haben als Erwachsene. Für sie sind 18 Monate Pandemie ewig.
Wie wichtig ist nach Ihrer Erfahrung denn der Kontakt zu Gleichaltrigen?
Gleichaltrige zu treffen gehört zu einem gesunden Aufwachsen, auch um später in ihrer Partner- und Familienrolle bestehen zu können. Kontakt zu haben heißt dabei nicht immer, dass man Freunde um sich hat, sondern auch, dass man sich mal abgrenzen muss, dass man jemanden doof findet und es auszuhalten lernt, dass man selber auch nicht immer nur beliebt ist. Das gab es mindestens sieben Monate für die meisten Kinder nicht – mit all den verpassten Klassenfahrten, ersten Küssen, großen Lieben und Dramen.
Homeschooling ist keine Schule: Denn Schule ist nicht nur ein Lernort, sondern ein prägender Lebensort.
Fürchten Sie, dass diese Generation diesen Mangel an Erfahrung ein Leben lang mit sich herumtragen wird?
Das ist schon möglich. Ein Drittel aller Kinder und Jugendlichen zeigt bereits psychische Auffälligkeiten. Aber es ist nicht nur der Mangel an schulischer Erfahrung. Ein Problem ist auch, was die jungen Leute zu Hause erleben, wenn sie nicht in der Schule sind.
Im vergangenen Jahr gab es rund 195 000 Kinderschutzmeldungen. Gegenüber dem Vorjahr war das ein Anstieg von mehr als
20 000.
Wie hätte die Gesellschaft oder die Politik denn mehr Wertschätzung zeigen können?
Indem man die Kinder und Jugendlichen wenigstens angehört hätte. Die meisten Jugendlichen finden, sie spielen in der Politik keinerlei Rolle. Das ist gefährlich für eine Demokratie.
Was muss man Kindern und Jugendlichen jetzt anbieten?
Sie haben jetzt einfach mal verdient, allmählich wieder ein bisschen in der Normalität anzukommen. Einige Kommunen haben die Kinder und Jugendlichen sehr schön entschädigt, zum Beispiel indem sie gratis das Schwimmbad besuchen können oder indem man Zoogutscheine an sie austeilte. Das ist besser, als jetzt noch Nachhilfepakete zu schnüren.
Das Interview führte Annett Witte.
Kathinka Beckmann ist seit 2007 Professorin an der Hochschule Koblenz im Fachbereich Sozialwissenschaften und leitet den Studienschwerpunkt „Kinderschutz & Diagnostik“.
Annett Witte war lange Persönliche Referentin von Bundestagsvizepräsident a.D. Dr. Hermann Otto Solms. Sie leitete bis September 2021 das Liberale Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und ist seit September 2021 Leiterin der Personalabteilung.