Warschauer Ghettoaufstand vor 80 Jahren
„Ein Zeichen setzen für die Menschenwürde“
Kurz nach Gründung der Bundesrepublik erinnerte der gerade zum Bundespräsidenten gewählte Theodor Heuss an die „dunklen Jahre“: „Es hat keinen Sinn, um die Dinge herumzureden. Das teuflische Unrecht, das sich an dem jüdischen Volk vollzogen hat, muss zur Sprache gebracht werden.“ Heuss prägte damals, 1949, den Begriff der Kollektivscham, dem sich kein Deutscher, ob persönlich schuldig oder nicht, entziehen könne. Der Holocaust – und mit ihm das Warschauer Ghetto und der Aufstand der jüdischen Menschen gegen die Deportationen – lag damals nur wenige Jahre zurück. Doch hielt Heuss es bereits für notwendig, der Forderung nach einem „Schlussstrich“ zu widersprechen. Mit seiner Rede setzte er ein Zeichen gegen das allzu schnelle Vergessen in der Nachkriegszeit.
Wie steht es heute um die Erinnerung an Unrecht und Gewalt, wie ernsthaft ist der Einsatz für Menschenwürde, Recht und Freiheit? Der Blick zurück auf den mutigen Widerstand der Warschauer Juden vor achtzig Jahren stimmt nachdenklich: Keiner der mit dem Aufstand verbundenen Namen – Rachela Auerbach und Marek Edelmann, Mordechai Anielewicz oder Jitzhak Zuckerman und viele weitere – findet sich hierzulande auf Straßen oder Plätzen. Und der im April 1943 erfolgte Warschauer Ghetto-Aufstand selbst wird nicht selten mit dem Warschauer Aufstand vom August 1944, einer Erhebung der polnischen Untergrundarmee, verwechselt, was selbst Bundespräsident Roman Herzog bei seinem Besuch in Polen 1994 passierte.
Warschau: größte jüdische Gemeinde Europas
Bis zum deutschen Überfall auf Polen 1939 und der Einnahme der Hauptstadt befand sich in Warschau die größte jüdische Gemeinde Europas – Teil einer pulsierenden Metropole. Mit der Errichtung des Ghettos durch die deutschen Besatzer im Herbst 1940 wurden 400.000 Menschen – mehr als ein Drittel der Einwohner – auf ein kleines Gebiet der Stadt zusammengedrängt. Eine drei Meter hohe, 18 Kilometer lange, stacheldrahtbewehrte und bewachte Mauer umgab den von den Besatzern so genannten „Jüdischen Wohnbezirk“, das Ghetto. Auf einen Quadratkilometer kamen 150.000 Personen. Die ursprünglich im Bezirk ansässigen nicht-jüdischen Polen mussten in die anderen Warschauer Stadtviertel umziehen, zumeist in eine der „frei“ gewordenen Wohnungen. Juden wiederum, die außerhalb des Ghettos ohne Passierschein angetroffen wurden, drohte die Todesstrafe.
Das Warschauer Ghetto war eines von über 1.000, die in den besetzten Gebieten, davon 600 in Polen, eingerichtet worden waren – als Sammelorte jüdischer Menschen bis zu ihrer Deportation in die Vernichtungslager. So auch in Warschau, wo die ersten Transporte nach Treblinka im Juli 1942 erfolgten. Die Lebensbedingungen im Ghetto waren unmenschlich, nicht nur aufgrund der drangvollen Enge in den Wohnungen, Häusern, den Straßen. Zu wenig Nahrungsmittel und miserable sanitäre Bedingungen führten zu Krankheiten, vor allem Flecktyphus und Tuberkulose. Die Versuche jüdischer Hilfsorganisationen, vor allem der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe, aber auch des vom Besatzungsregime zwangsweise eingesetzten „Judenrats“ linderten die Not der Menschen zwar, etwa durch Gründung von Suppenküchen, Krankenstationen, Waisen- und Altenheimen. Doch starben aufgrund der katastrophalen Verhältnisse bereits vor Beginn der Transporte fast 100.000 Menschen, viele Ältere, besonders aber auch Kinder, die zumeist verhungerten. Zugleich sollte das Ghetto billige Arbeitskräfte bereitstellen, von denen die Wehrmacht ebenso wie zahlreiche deutsche Unternehmen profitierten.
Widerstandsgruppe „Oneg Schabbat“
Unter diesen Bedingungen organisierten die Menschen im Ghetto ihr Leben unter ständiger Bedrohung, der Willkür der Bewacher ausgesetzt. Über das Alltagsleben und die jüdischen Aktionen wissen wir, ebenso wie über die brutale Praxis des Besatzungsregimes, aus Aufzeichnungen der im Ghetto Eingesperrten. Unter dem Tarnnamen „Oneg Schabbat“ – „Freude am Sabbat“ – hatte eine Widerstandsgruppe um den Historiker Emanuel Ringelblum ein geheimes Untergrundarchiv organisiert. Sie trug verschiedenste Zeugnisse, Tagebücher, Briefe u.a. über das Leben im Ghetto und die Zeit der Verfolgung zusammen – heute eine der zentralen Quellen zur Situation der polnischen Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft.
Am 22. Juli 1942 begann die – vom Besatzungsregime als „Umsiedlung“ bezeichnete – Deportation der Warschauer Juden ins Vernichtungslager Treblinka. Jeden Tag wurden Tausende Menschen verschleppt. Auf welche Weise dies geschah, hat der Publizist Marcel Reich-Ranicki, Überlebender des Ghettos, im Deutschen Bundestag 2012 eindrücklich geschildert: „Die SS verlangte vom Vorsitzendes des Judenrates Adam Czerniaków, dass die Zahl der zum ‚Umschlagplatz‘ zu bringenden Juden für den nächsten Tag auf 10.000 erhöht werde. Es handelte sich hierbei keineswegs um willkürlich genannte Ziffern. Vielmehr hingen sie allem Anschein nach von der Anzahl der jeweils zur Verfügung stehenden Viehwaggons ab; sie sollten unbedingt ganz gefüllt werden. In den frühen Nachmittagsstunden sah man, dass die Ghetto-Miliz nicht imstande war, die von der SS für diesen Tag geforderte Zahl von Juden zusammenzubringen. Daher drangen ins Ghetto schwerbewaffnete Kampfgruppen in SS-Uniformen – Deutsche, Letten, Litauer und Ukrainer. Sie eröffneten sogleich das Feuer aus Maschinengewehren und trieben ausnahmslos alle Bewohner der in der Nähe des ‚Umschlagplatzes‘ gelegenen Mietskasernen zusammen.“
Beginn des Aufstands
Als die SS im Frühjahr 1943 die letzten Deportationen in Angriff nahm, gab es im inzwischen verkleinerten Ghetto noch etwa 60.000 Menschen. Schon Monate zuvor hatten sich jüdische Organisationen zur Gegenwehr entschlossen und ihre zersplitterten Untergrundgruppen unter der Führung von Mordechai Anielewicz, Marek Edelmann und weiteren Widerstandskämpfern koordiniert. Sie bauten Bunker, legten Gänge an und erhielten vom polnischen Widerstand, wenn auch in geringem Umfang, Waffen.
Am 19. April 1943 – es war der Beginn der Pessachwoche, der Feier zur Befreiung des Volkes Israel aus Sklaverei und des Auszugs aus Ägypten – rückten SS-Verbände ins Ghetto ein, wurden aber durch die jüdische Gegenwehr zurückgedrängt. Der Aufstand hatte begonnen. Vier Wochen leisteten jüdische Frauen und Männer erbitterten Widerstand in praktisch auswegloser Situation – aber dennoch erfolgreich, weil es ihnen gelang, ein bleibendes Zeichen gegen Willkür und Gewalt, gegen die Ohnmacht zu setzen. 13.000 Juden starben, 7.000 wurden nach Treblinka deportiert, die übrigen 36.000 Menschen in andere Lager wie Majdanek. Einigen gelang aber die Flucht, wie Rachela Auerbach, einer Mitarbeiterin im Untergrundarchiv. Ihre Aufzeichnungen, die heute veröffentlicht sind, geben bewegenden Eindruck von den unmenschlichen Bedingungen im Ghetto. Sie zeigen zugleich, wie viel vom mörderischen Geschehen in den Konzentrationslagern und andernorts bekannt war. Und auch die Verbrechen im Warschauer Ghetto sind genauestens dokumentiert, denn die Täter führten Buch: Der zuständige SS-Brigadeführer berichtete an den Reichsführer SS Heinrich Himmler in alle Ausführlichkeit über die Deportation der Menschen, die Sprengung der Häuser und Zerstörung der Synagoge.
Beim diesjährigen 80. Erinnerungstag kamen die Präsidenten Israels, Polens und erstmals auch der Bundesrepublik am Warschauer „Denkmal der Helden des Ghettos“ zusammen. Der Holocaust-Überlebende Marian Turski mahnte in seiner Ansprache, „nicht gleichgültig gegenüber dem Bösen“ zu sein. Und mit Blick auf aktuelle Entwicklungen bekräftigte der 96-Jährige: „Ich klage alle an, die Hass schüren.“