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Freiheitsgewinn erster Güte

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hofft auf das Ende der massenhaften Überwachung

Dieser Artikel erschien erstmals in der Printausgabe des Handelsblatt am 12.Dezember 2017. Autorin: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten.

"Zwar ist Jamaika passé. Für die Zukunft der Innen- und Rechtspolitik lassen sich aus den Sondierungen dennoch ganz hoffnungsvolle Schlüsse ziehen. Das liegt an einer sichtbar gewordenen Allianz von Freien Demokraten und Grünen, die Politik der inneren Sicherheit neu zu denken: weg von der anlasslosen, hin zur anlassbezogenen Sicherheitspolitik.

Der Verhandlungsverlauf um die Vorratsdatenspeicherung (VDS) offenbarte eine unerwartete Beweglichkeit der Union, die eine grundsätzliche Umkehr in der Sicherheitspolitik bedeuten könnte. Es setzte sich anscheinend an der Spitze der Union die Erkenntnis durch, dass die Bundesrepublik die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards – etwa in Polen und Ungarn – nicht glaubhaft anmahnen kann, wenn sie mit der VDS selbst auf einen neuerlichen Konflikt mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zusteuerte. Seit mehr als zehn Jahren tobt der Streit um die VDS: Eine Richtlinie der Europäischen Union, ein deutsches Gesetz und unzählige weitere Gesetze in EU-Mitgliedstaaten wurden wegen Grundrechtsverstößen bereits von Gerichten, unter anderem dem Bundesverfassungsgericht und dem EuGH, gekippt. Der Streit wird auch deswegen so unerbittlich geführt, weil die Speicherung von Telekommunikationsdaten auf Vorrat das Symbol für eine Sicherheitspolitik ist, die seit 9/11 auch in Deutschland Einzug gefunden hat.

Mehr Daten bedeuteten angeblich mehr Sicherheit. Nur wenn Regierungen und Sicherheitsbehörden möglichst alles wüssten, so der Ansatz, könnten sie effektive Terrorabwehr und lückenlose Strafverfolgung betreiben. Anstatt mit den richtigen Instrumenten zielgerichtet Straftaten zu verfolgen und Gefahren abzuwehren, lag der Fokus also auf einer Anhäufung von Daten – von uns allen, nicht nur von potenziell gefährlichen Personen.

Das Aus der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung, es könnte der Beginn eines Abschieds von diesem Sicherheitsdenken markieren. Das wäre ein Freiheitsgewinn erster Güte. Denn auch die (intelligente) Videoüberwachung, die Speicherung von Fluggastdaten, die Fernmeldeaufklärung
des Bundesnachrichtendienstes oder aber ein Einreiseregister, wie es die EU gerade plant – sie alle verkörpern jene überkommene Logik der Anlasslosigkeit, die sich wie ein Generalverdacht über die gesamte Bevölkerung legt.


Weil die Sondierungen scheiterten, ist der erzielte Kompromiss formal futsch. Das ist bitter. Ich beobachte mit Argwohn, wie nach Jamaika die emotionale Distanz zwischen Grünen und FDP zunimmt. Das sollte nicht verdrängen, dass beide in der Innen- und Rechtspolitik deutlich mehr eint, als sie trennt. Gemeinsame Sachpolitik sollte auch aus der Opposition heraus möglich sein."