Krieg in Europa
Gipfel-Marathon in Brüssel: Den Paradigmenwechsel in Diplomatie, Sicherheit und Wirtschaft managen
Brüssel ist hohen Besuch gewöhnt. Doch in dieser Woche geben sich so viele Chefs und Chefinnen in der Hauptstadt der NATO und der Europäischen Union ein Stelldichein wie selten zuvor. In der zweiten Wochenhälfte wird zudem US-Präsident Biden persönlich nach Brüssel kommen. Auf der Tagesordnung stehen allerdings auch nichts weniger als die nächsten Schritte der Zeitenwende nach 2/24: Wie sind die Paradigmenwechsel in Diplomatie, Wirtschaft und Sicherheitspolitik strategisch auszugestalten und konkret zu managen? Antworten auf diese Frage werden die Staats- und Regierungschefs besprechen.
Zu Wochenbeginn kommen bereits die Außen- und Verteidigungsminister wie -ministerinnen zusammen, um die aktuelle Sicherheitslage zu thematisieren und die Treffen der Chefinnen und Chefs vorzubereiten. Sie tagen unter dem Eindruck einer stetigen Kriegsverschärfung Russlands gegenüber der Ukraine, einer russischen Führung und Armee, deren Aktionen sich immer deutlicher gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine richtet, um mit den Bildern des Terrors und des Leids den Druck auf den Westen zu erhöhen und dem russischen Kriegsziel der Unterwerfung der Ukraine näher zu kommen.
Dabei wird es in den Tagen von Brüssel zunächst darum gehen, wie und wann der Westen die Sanktionen gegen Putins Russland weiter verschärft. Das wäre seit Kriegsbeginn dann schon die fünfte Sanktionsrunde. Im Fokus ist dabei die Abkopplung der EU-Rohstoffabhängigkeit von Russland. Werden wir oder besser: wann werden wir ein Öl- und/oder Gas-Embargo gegenüber Russland erleben? Deutschland ist in dieser Frage aufgrund seiner starken Abhängigkeit, mit Blick auf warme Wohnstuben aber auch den Energie- und Rohstoffbedarf seiner Industrie, nach wie vor zurückhaltend. Der Druck seiner Bündnispartner allerdings steigt. Steigen tut allerdings auch der öffentliche Druck, dem die Chefs und Chefinnen von ihren Wählerschaften mit Blick auf die steigenden Energiepreise ausgesetzt sind. Das Thema wird ein Gipfel-Thema sein, schnell wirksame Lösungen werden allerdings eher von den Mitgliedstaaten der Union selbst kommen müssen.
Etwas mehr Spielraum auf der Zeitachse haben die europäischen Entscheider in der Verteidigungspolitik. Dafür mag dort das nachhaltige neue Weichenstellen allerdings auch schwieriger werden. Zwar sind hier nicht zuletzt durch die Entscheidung der Bundesregierung, ein 100-Milliarden-Euro-Paket zur Stärkung der Bundeswehr auf den Weg zu bringen, die Signale nicht nur Deutschlands klar auf eine machtvolle sicherheitspolitische Antwort gegenüber der Bedrohung durch Russland gesetzt. Aber wie die Neuausrichtung z.B. zwischen EU und NATO genau austariert wird, wird noch manches Gipfeltreffen in Anspruch nehmen. Umso besser, dass die Chefinnen und Chefs die Diskussion über den ohnehin anstehenden Agendapunkt zum sogenannten strategischen Kompass für eine vertiefte sicherheits- und verteidigungspolitischen Diskussion nutzen können. Hinter dem Begriff „Strategischer Kompass“ verbirgt sich die Blaupause für die Bedrohungswahrnehmung innerhalb der EU sowie der weiteren Entwicklung der Außen- und Sicherheitspolitik der Union.
Da in dieser Woche auch die NATO in Brüssel zusammen kommt, die im Sommer eine neue Strategie beschließen wird, lassen sich beide Treffen zur Abstimmung zwischen der EU und dem transatlantischen Bündnis nutzen. Aus den USA ist zu hören, dass die US-Administration ihr nationales Sicherheitskonzept gegenwärtig stark überarbeitet und um neue Russland-Kapitel ergänzt. Dabei wird US-Präsident Biden seinen Auftritt in Brüssel sicher nutzen, um den Europäern seine Bündnisstreue insbesondere mit Blick auf den nuklearen Schutz zu versichern. Aber mindestens so nachhaltig wird er fordern, dass der europäische Teil der NATO mehr Investitionen und politisches Kapital aufbringt: für die den Aufbau und die Mobilisierung besserer Infrastruktur und Waffensysteme sowie für mehr Soldatinnen und Soldaten, die dann auch im öffentlichen Raum sichtbar für die Abwehr von Bedrohungslagen üben. Europa und insbesondere Deutschland werden sich darauf einstellen müssen, hier künftig erhebliche zusätzliche Lasten, wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch, zu tragen.
Das alles wird nur gelingen, wenn die Wirtschaft des Westens innovativ und wachstumsorientiert bleibt. Die Neusortierung der globalen strategischen Lage mit ihren Rückwirkungen auf die Ökonomie begann schon lange vor dem Krieg in der Ukraine. Der Aufstieg Chinas, der Klimawandel, die Folgen von 9/11, die Schulden- wie auch die Flüchtlingskrise in Europa und schließlich die COVID-Pandemie haben Einflusssphären und Ressourcen neu verteilt, stärker beansprucht und tun dies noch: Europa ist mehr denn je strategisch herausgefordert. Spätestens durch den Krieg in der Ukraine, mitten in Europa, sollten das alle begriffen haben. Auf der Tagesordnung stehen nun unabweisbar Themen wie die Neuordnung von Lieferketten, der Aufbau strategischer Reserven, der Abbau von Abhängigkeiten bei Schlüsseltechnologien und die Umsetzung einer klugen Zuwanderungspolitik.
Europas Wirtschaft und seine Wirtschaftspolitik müssen robuster werden. Und dies immer in Verbindung mit dem begrifflichen Zwilling der Resilienz, der strategischen Autonomie Europas. Soll heißen: Widerstandsfähiger kann nur werden, wer den Gefahren und Herausforderungen der Zukunft auch allein, ohne Hilfe dritter begegnen kann. Die COVID-Krise erzeugte letztlich den milliardenschweren Aufbauplan Next-Generation EU-Funds. Für den Wahlkämpfer und Macher der französischen Ratspräsidentschaft, Emmanuel Macron möglicherweise die Blaupause, um Mittel für den europaweiten Ausbau der Verteidigung wie auch von Schlüsseltechnologien zu mobilisieren.
Aber Europa und gerade Deutschland werden ihre ökonomischen Stärken nur in einem Kontext der Offenheit gegenüber Märkten und Partnern behaupten können. Wenn jedoch diese Partner nur mehr im Westen zu finden sind, ist es Zeit für einen neuen Anlauf für TTIP und CETA, und auch im Pazifik sollten die Gleichgesinnten in wirtschaftliche wie militärische Bündnisse integriert werden. Die G7 haben also auf Jahre hinaus genug zu besprechen. Europa muss zudem hinter der eigenen Haustür, im Binnenmarkt, genug Themen zu lösen. Am Freitag debattiert die EURO-Gruppe über die Fortschritte der Banken- wie der Kapitalmarktunion. Das Gelingen beider Projekte ist für die Stärkung der Wirtschaft der EU dringend erforderlich.
Der Gipfelmarathon diese Woche in Brüssel wird nicht alle Fragen zur neuen Weltlage, geschweige denn zur neuen Weltordnung beantworten können. Aber er bringt diejenigen zusammen, die die größte Schnittmenge gemeinsamer Interessen für die Gestaltung einer Welt, in der Demokratie und Marktwirtschaft, Recht und Gesetz, Freiheit und Menschenrechte nicht Lippenbekenntnisse sind, sondern etwas zählen. Auf diese Allianzen und ihre weltweiten Partner kommt es jetzt mehr denn je an.