Veranstaltung
Gustav Stresemann: Ein Jahrhundertvermächtnis
Anlässlich des 100. Jahrestages der Kanzlerschaft Gustav Stresemanns richtete die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit zusammen mit dem Gustav-Stresemann-Institut e.V.eine Festveranstaltung am 29. August 2023 aus. Karl-Heinz Paqué, Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung, gedenkt in seinem Grußwort an den ersten Kanzler aus den Reihen der Liberalen.
Deutschland pflegt das Gedenken an den großen Außenminister der Weimarer Republik Gustav Stresemann. Vom Ende seiner Kanzlerschaft im November 1923 bis zu seinem Tod am 3. Oktober 1929 leistete Stresemann bahnbrechende Friedensarbeit: der Dawes-Plan 1924, der Vertrag von Locarno 1925 und der Völkerbundbeitritt 1926 – dies alles waren gigantische Fortschritte insbesondere für die alles entscheidende Versöhnung mit Frankreich, persönlich gekrönt durch den Erhalt des Friedensnobelpreises 1926, zusammen mit dem Franzosen Aristide Briand und dem Briten Austen Chamberlain.
Erfolgreicher Reichskanzler der Stabilität
Vielfach in Vergessenheit gerät dabei das, was vorher war, die dramatische kurze Kanzlerschaft Stresemanns vom 13. August bis zum 23. November 1923. Gerade mal rund 100 Tage mit zwei Kabinetten, Stresemann I und Stresemann II. Ich bin Volkswirt, und ich messe gerne die Arbeitsproduktivität als Wertschöpfung pro Zeiteinheit. Tut man dies politisch bei Stresemann, dann war er der produktivste Kanzler, den Deutschland je hatte. Niemals sind in so wenigen Wochen so viele richtige Entscheidungen von fundamentaler Bedeutung getroffen worden. Sie fallen in drei zentrale Kategorien:
- Stresemann beendete am 26. September 1923 den Ruhrkampf. Er legte damit die Grundlage für die Stabilisierung der Währung und den Stopp der Hyperinflation Mitte November 1923 durch das Kabinett Stresemann II.
- Stresemann konsolidierte den Staatshaushalt, die zentrale notwendige Bedingung für die Rückkehr zur Preisstabilität. Das gelang vollständig – genauso wie die ihr folgende Rückkehr an die internationalen Kapitalmärkte.
- Stresemann bewahrte die Einheit des deutschen Reiches, ebenso wie Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat – trotz Aufständen von links in Sachsen und von rechts in Bayern sowie Separationsbestrebungen im Rheinland.
Bei dieser Bilanz ist evident: Ohne den erfolgreichen Kanzler Stresemann hätte es den grandiosen Außenminister Stresemann anschließend nicht gegeben. Und evident ist auch: Der Kanzler Stresemann war nicht allein verantwortlich für den Erfolg der Kanzlerschaft. Er hatte kompetente Mitstreiter, allen voran seinen letzten parteilosen, aber Stresemanns DVP nahestehenden Finanzminister Hans Luther, der die sogenannte Rentenmark konzipierte. Aber das gute Team hatte eben einen genialen Leiter – in schwierigster Zeit von Ruhrkampf und Hyperinflation. Das war Stresemann. Erst sein politisches Genie sicherte den Erfolg der sogenannten „Großen Koalition“ von SPD über DDP und Zentrum bis zur DVP, Stresemanns Deutscher Volkspartei.
Das wussten die Menschen. Und die Satiriker wussten es auch, wie die berühmte und bewegende Karikatur von Gustav Stresemann im Simplicissimus in der Ausgabe von 14. Mai 1923 zeigt, drei Monate vor Beginn seiner Kanzlerschaft. Stresemann als Retter, so ist sie überschrieben, und darunter steht aus dem Munde des deutschen Michels: „Er schaut nach rechts, er schaut nach links – er wird mich retten.“
Die Erwartungen an ihn waren groß. Und er erfüllte sie. Man ist geneigt hinzuzufügen: Er erfüllte sie, aber mit einem hohen Preis für seine gefährdete Gesundheit, den er während seiner Zeit bis zu seinem Tod bereitwillig zahlte – ohne Rücksicht auf sich selbst. Er war nicht weniger als ein Märtyrer für Deutschland und seine Demokratie.
Brillanter Jongleur der Mitte
Die großen Erwartungen an ihn waren kein Zufall. Sein politisches Leben war im Grunde von Anfang an ein ewiges Jonglieren in der damaligen politischen Mitte. Er startete 1901 bei Friedrich Naumanns Nationalsozialem Verein, einem ersten Versuch der „breiten Mitte“ rund um den Liberalismus mit Offenheit gegenüber der Sozialdemokratie als Teil einer „Volksgemeinschaft“ – ein Begriff, den Stresemann später sehr gerne verwendete. Nach dem Scheitern und der Auflösung von Naumanns Verein schloss er sich der Nationalliberalen Partei an und zog 1907 als jüngster Abgeordneter in den Reichstag ein – ein glänzender Redner, der in der Innenpolitik zum linken, in der Außenpolitik zum rechten Flügel der Nationalliberalen zählte – mit starker Stimme für imperiale und koloniale Interessen Deutschlands und im Ersten Weltkrieg ein dezidierter Annexionist.
Ein Höhepunkt des Jonglierens kam dann im November und Dezember 1918, als die Zukunft der politischen Organisation des Liberalismus geklärt wurde. Es kam zum Fortbestand der Spaltung, was im Nachhinein oft Stresemann angekreidet wurde, weil er nicht bereit war, das Erbe des Nationalliberalismus zur Stärkung der politischen Mitte mit dem Linksliberalismus zu verschmelzen. Daran ist sicherlich Wahres, auch wenn gegenseitige Animositäten (auch von Links gegen den „Annexionisten“ Stresemann) eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben mögen. Jedenfalls ist bis heute unklar, ob eine vereinte, aber nach innen tief gespaltene liberale Partei überhaupt in der Summe bessere Wahlergebnisse hätte erzielen können als die Deutsche Volkspartei (DVP) und die Deutsche Demokratische Partei (DDP) zusammen. Der „Meisterjongleur“ Stresemann hat wohl daran gezweifelt und für die Beibehaltung zweier homogenerer Kräfte plädiert. Tatsächlich spricht die Tatsache, dass ab 1920 die DVP stets bessere Wahlergebnisse erzielte als die DDP dafür, dass Stresemanns Entscheidung, das genuin nationalliberale Erbe zu pflegen, so falsch nicht war. Es entsprach natürlich auch dem eigenen Anspruch auf Führung, die er dann ja auch virtuos ausübte – weit besser als seine Kollegen von der DDP.
Mit der DVP stand Stresemann dann tatsächlich ungefähr in der Mitte des politischen Spektrums der Weimarer Republik, wenn auch mit leichtem Rechtsdrall. Dies erwies sich für einen genialen Jongleur mit dem strategischen Ziel der Großen Koalition als eine fast ideale, wenn auch höchst ungemütliche Position. Er musste – und konnte – die starken konservativen Industrievertreter in seiner Partei, vor allem Stinnes und Vögler – immer wieder einbinden bzw. überstimmen lassen. Das gelang ihm dank seines Redetalents, aber auch dank seines tiefen Verständnisses für die Wirtschaft und ihre Vertreter.
Liberaler Kenner der Wirtschaft
Nach seinem Studium der Volkswirtschaftslehre mit der oft verspotteten Dissertation zum Berliner Flaschenbierhandel, dem er ja familiär entstammte, folgte eine überaus erfolgreiche Laufbahn als Verbandsvertreter, zunächst beim Verband deutscher Schokoladenfabrikanten in Dresden, dann beim Bund der Industriellen, BDI. Dort half er, den Verband sächsischer Industrieller zu gründen, der unter seiner Leitung gewaltig expandierte und zu einer starken Lobbystimme des verarbeitenden Gewerbes wurde. Offenbar ein moderner Organisator und Netzwerker par excellence. Ein Mann der mittelständischen Wirtschaft, das blieb er immer, mit tiefem Verständnis für deren Belange.
Und mit tiefem Verständnis für die weltwirtschaftlichen Herausforderungen: Als Stresemann 1912 die USA bereiste, faszinierten ihn weniger die Menschen und das weite Land als die neuen rationellen Produktionsmethoden der dortigen Industrie. Er sah weit mehr als viele seiner Kollegen voraus, dass die USA bald zur alles dominierenden Wirtschaftsmacht aufsteigen würden, was ihn übrigens – kluger Netzwerker, der er war – dazu veranlasste, mit dem Hamburger Reeder Albert Ballin 1914 den deutsch-amerikanischen Wirtschaftsverband zu gründen, mit Stresemann als offenbar gut honorierten Geschäftsführer.
Politisch wichtiger aber blieb die Rolle Amerikas für Stresemanns spätere Strategie der Stabilisierung: Stets behielt er die ungeheure Bedeutung des amerikanischen Kapitalmarkts im Auge, der dann durch den Dawes-Plan 1924 für Deutschland erst den wirtschaftlichen Wiederaufstieg erlaubte. Die Versöhnung mit Frankreich war der Schlüssel zum Frieden, aber der amerikanische Kapitalzufluss war die Quelle des deutschen Wiederaufstiegs als Wirtschaftsmacht. Eine überaus moderne Position, fast ein „Wetterleuchten“ aus der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders nach 1948.
Vernunftrepublikaner
Soweit die Gründe, warum bereits während der Regierung Cuno zur Zeit der Hyperinflation 1922 Gustav Stresemann zu einer Art Kanzler in Wartestellung wurde. Nach seiner Ernennung soll einer seiner Erzfeinde, General von Seeckt, resignierend gesagt haben: „Stresemann lag in der Luft.“ Es stellt sich dann allerdings die Frage: Warum erst so spät, fast fünf Jahre nach Kriegsende und elender politischer Schieflagen und längst galoppierender Inflation? Die Antwort ist relativ einfach: Diesem politischen Naturtalent misstrauten fast alle, links und rechts: auf der politischen Linken galt er als Annexionist, auf der politischen Rechten als allzu großer Befürworter der Sozialdemokraten. Und in der Mitte bei den Liberalen gab Theodor Heuss später offen kund, er habe Gustav Stresemann nicht leiden können.
Es brauchte wohl zwei Entwicklungen, die schließlich doch zu Stresemann führten. Das eine war, so zynisch es klingen mag, das Ausmaß der Katastrophe, politisch durch die Ruhrbesetzung, wirtschaftlich durch die Hyperinflation. Tatsächlich konnte man sich durch eine Vielzahl von Ad-hoc-Maßnahmen lange Zeit über die Runden retten, zumal einzelne einflussreiche Gruppen in der Gesellschaft Vorteile aus dem Währungsverfall zogen, indem sie sich zu Lasten der Mittelschicht und deren bescheidenen Vermögen entschuldeten. Es ist deshalb auch müßig zu spekulieren, ob die Währungsreform früher hätte kommen sollen oder müssen. Ihre völlige Unvermeidlichkeit wurde erst im Laufe der Hyperinflation deutlich. Mit ihr stellte sich dann aber auch die Frage nach einer starken politischen Führung, und die hieß Stresemann.
Zum anderen trug Stresemann selbst – Schritt für Schritt – zur Vertrauensbildung bei. Genau dieser Prozess zeigt, mit welch großer moderner Professionalität er Politik betrieb – als Parteivorsitzender der DVP und darüber hinaus. Seine Aktivität reichte von intensiver Pressebetreuung über den Besuch gesellschaftlicher Clubs in Berlin sowie private Einladungen an hochrangige Politiker aller Couleurs in seiner Privatwohnung in der Tauentzienstraße, die sich zu einem Treffpunkt für den politischen Austausch entwickelte – auch dank seiner gewandten Frau Käte, die viele Besucher durch ihr weltläufiges „offenes Haus“ beeindruckte. Was später im Auswärtigen Amt in der Wilhelmstraße an denkwürdigen Empfängen folgte, war im Grunde die Fortsetzung einer schon lange gepflegten „politischen Gastlichkeit“, deren sich später namhafte Beobachter wie der britische Botschafter Lord d’Abernon gerne erinnerten.
Inhaltlicher Kern dieser Entwicklung war natürlich, dass Gustav Stresemann seine Haltung als „Vernunftrepublikaner“ zunehmend glaubwürdig vertrat. Also als ein Politiker, der zu seiner Werteprägung im untergegangenen Kaiserreich stand (und damit nach rechts überzeugte), aber gleichzeitig klarmachte, dass nun sein voller Einsatz der Stabilisierung der Republik galt (und damit die Linke beruhigte). Dieser Prozess lief nie ganz ohne Irritationen und Widersprüche ab, und es blieb wohl allseitig ein Rest von Misstrauen. Aber immerhin führte er so weit, dass selbst Reichspräsident Friedrich Ebert, der als Sozialdemokrat Stresemann lange misstraute, nach dessen Vertrauensfrage, die auch an SPD-Stimmen scheiterte, im November 1923 in sein Tagebuch schrieb: „Was euch veranlasst, den Kanzler zu stürzen, ist in sechs Wochen vergessen, aber die Folgen eurer Dummheit werdet ihr noch zehn Jahre spüren.“
Wir wissen: Zehn Jahre später war Hitler an der Macht.