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Internationale Politik
Indien: Wahl der neuen Präsidentin signalisiert Öffnung der BJP für neue Wählergruppen

President Draupadi Murumu
© picture alliance / NurPhoto | STR

Die regierende Bharatiya Janata Party (BJP) ist heute fast die natürliche Wahl für hinduistische Wählerinnen und Wähler aus höheren Kasten. Nachwahlbefragungen nach den Landtagswahlen in Uttar Pradesh im Frühjahr dieses Jahres haben ergeben, dass 89%(!) der Brahmanen, der Priester- und mithin höchsten Kaste im Hinduismus, der BJP ihre Stimme gaben. Bei den Parlamentswahlen 2019 waren 36,3% der gewählten BJP-Abgeordneten Angehörige höherer Kasten, deutlich mehr als die 23,1% der gewählten Kongress-Abgeordneten oder die 19,3% der sonstigen Parteien. Ein Vergleich mit dem Anteil der Angehörigen höherer Kasten an der Gesamtbevölkerung ist schwierig (bzw. unmöglich). Aus politischen Gründen wird im Zensus das Merkmal Kaste seit 1931 nicht mehr abgefragt. Je nach Definition und Schätzung liegt der Anteil zwischen 15% und 25%, Brahmanen machen weniger als 10% der Bevölkerung aus.

Die BJP hat damit eine sehr solide Machtbasis, ihr traditionelles Wählerpotential gilt gleichwohl als nahezu ausgeschöpft. Gleichzeitig wird sie als eine wenig inklusive Partei wahrgenommen. Für die Angehörigen von Stämmen und niederer Kasten sowie für Kastenlose ist (bzw. war) die BJP keine attraktive Partei. Das ändert sich langsam. So fällt die Partei heute beispielsweise regelmäßig auf als Fürsprecherin für Kastenquoten in Bildungseinrichtungen. Im gleichen Licht muss die Wahl Murmus gesehen werden, wie auch die Wahl ihres Vorgängers Ram Nath Kovind bei den Präsidentschaftswahlen 2017. Kovind ist Dalit, also ein Kastenloser.

Die Strategie ist für die BJP nicht ungefährlich. Kastenquoten bedrohen Jahrtausende alte Privilegien höherer Kasten, Dalits gelten einigen Brahmanen immer noch als unberührbar. Andererseits muss die BJP darauf achten, dass ihre Öffnung in Richtung niedriger Kasten und Stämme nicht als reine Symbolpolitik wahrgenommen wird. Wählerinnen und Wähler aus diesen Gruppen wollen schlussendlich auch, dass es ihnen irgendwann konkret materiell bessergeht. Zumindest im Augenblick scheint der Partei dieser Spagat jedoch sehr gut zu gelingen.

Komplexe Geschichte und der Abstieg der Kongresspartei

Die Jahre nach der Unabhängigkeit Indiens waren geprägt von der politischen Dominanz der Kongresspartei. Insbesondere Mahatma Gandhi hatte die Partei nicht nur als die Stimme der Freiheitskämpfenden, sondern auch als die Stimme der oft landlosen agrarischen Kasten positioniert. Die Angehörigen dieser niedrigen Kasten lebten vielfach am Rand der Gesellschaft, machen aber etwa die Hälfte der indischen Bevölkerung aus.

Die 1980 gegründete BJP, die unter anderem aus einer Abspaltung der Kongresspartei hervorging, war nicht nur ein Gegengewicht zur Kongresspartei. Mit ihrer Vision vom Hindu Rashtra (Land der Hindus) war sie auch ein Kristallisationspunkt für Wählerinnen und Wähler aus höheren Kasten und insbesondere von Brahmanen, den Priestern und Wächtern über die heiligen Texte, die sich desillusioniert von der Kongresspartei und ihrem ‚Gandhischen Sozialismus‘ abwendeten. In die Rolle schlüpfte die BJP gleichwohl nicht ganz freiwillig. Die geistigen Väter (in der Tat vielfach Männer, die ab den 1920er hinduistische – und oft rein männliche – Freiwilligenkorps gründeten) haben vielfach betont, dass im Hindu Rashtra Inderinnen und Inder aller Kasten einen Platz finden müssen, da sich nur so eine nationale hinduistisch-geprägte Identität herausbilden könne.

Vor dem Hintergrund demografischer und wahl-arithmetischer Realitäten ist die Erschließung eines größeren Wählerpotentials für die BJP absolut sinnvoll. Das indische Mehrheitswahlrecht verzerrt die tatsächlichen Verhältnisse der abgegebenen Stimmen bei Parlamentswahlen. Bei den Wahlen 2014 konnte die BJP 31,0 % der Stimmen auf sich vereinen (die Kongresspartei kam auf 19,3 % der Stimmen), 2019 waren es 37,4 % (Kongress 19,5 %). Der Sitzanteil der BJP im Parlament hingegen lag 2014 bereits bei 51,9 % (Kongress 8,1 %) und stieg 2019 abermals auf 55,8 % (Kongress 9,8 %). Deutlich wird, dass die Partei, die die meisten Stimmen auf sich vereinen kann, überproportional viele Sitze erhält. Kleine Schwankungen im Stimmanteil führen zudem zu teils großen Schwankungen in der Zahl der Sitze. Mit etwa einem Drittel Stimmanteil kann sich die BJP die Mehrheit der Parlamentssitze sichern. Fällt der Stimmanteil jedoch um wenige Prozentpunkte, ist die Mehrheit dahin. Die Kongresspartei kann ein Lied von diesem Effekt singen.