Energie
Russlands Ressourcenproblem: Die Revolution frisst ihre Kinder
Gas geben – Geld nehmen. Überspitzt konnte man so die russischen Exporte nach Europa beschreiben. Ohne Zweifel eine Vereinfachung, die die Realität nicht ganz widerspiegelt. Denn neben Erdgas exportiert Russland auch Kohle und Erdölderivate – insgesamt ging in der Vergangenheit mehr als die Hälfte der Außenhandelseinnahmen auf fossile Energien und mineralische Rohstoffe zurück. Denn auch seltene Erden wie Palladium gehören zum Handelsportfolio Russlands.
Das größte Land der Erde ist reich an Bodenschätzen, und der Handel mit diesen Ressourcen hat in der Vergangenheit einen Geldsegen gebracht – zumindest für die Eliten. Diese sind nicht erst seit dem Zerfall der Sowjetunion bestens mit den politischen Entscheidungsträgern im Kreml vernetzt. Die Ergebnisse dieser Verflechtung sind offensichtlich: Durch Günstlingswirtschaft und Desinformation wurde der Rechtsstaat ausgehöhlt – sofern er je existierte. Gleichzeitig ist der Schwerpunkt der russischen Wirtschaftspolitik und der Außenhandelsaktivitäten der Handel mit Ressourcen geblieben. Andere Wirtschaftsbereiche wurden in der Vergangenheit vernachlässigt. Erst in jüngster Zeit wird versucht, auch den IT- und Landwirtschaftssektor international zu positionieren – mit einigem Erfolg. Doch erschweren korrupte Strukturen und mangelnde Rechtssicherheit Gründungen und Investitionen. Zudem ist die russische Infrastruktur marode und die Industrie zum großen Teil noch auf dem technischen Stand der Sowjetzeit. Moderne Produktionswerke gibt es, wenn überhaupt, höchstens als Importe aus dem Westen. Somit bietet sich wenig Raum für Synergien zwischen zukunftsorientierten Unternehmen, und eine Modernisierung der Wirtschaft bleibt aus. Vielleicht ist das auch gewollt, denn der Fokus auf den Handel mit Bodenschätzen zementiert den Status quo.
Profiteure des etablierten Systems
Das ist ganz im Interesse der russischen Oligarchen und deren Dunstkreis. Denn sie sind die Profiteure des etablierten Systems. Um sicherzugehen, dass Emporkömmlinge und Kritik am Regime im Keim ersticken, schrecken die Eliten vor keinem Mittel zurück. Mit skrupelloser und perfider Gewalt werden unliebsame Bürgerinnen und Bürger und Organisationen unterdrückt – insbesondere von staatlichen Institutionen. Wenn es für notwendig erachtet wird, schrecken die Entscheidungsträger auch vor Mord nicht zurück. Somit entsteht ein Klima der Angst und kritische Stimmen verstummen. Gleichzeitig verbreitet ein ausgefeilter Medien- und Propagandaapparat das Narrativ vom Feind im Westen – weshalb Regimetreue zur Staatsraison wird: Ein stabiles Gleichgewicht aus Faktenmanipulation und Einschüchterung stellt sich ein.
Doch die Geschichte hat gezeigt, dass ein alleiniger Fokus auf Bodenschätze kein nachhaltiges Wirtschaftswachstum bescheren kann – von gesellschaftlicher Entwicklung ganz zu schweigen. Dafür gibt es eine Bandbreite von Gründen. Zu den wichtigsten gehört zweifelsohne, dass die Rohstoffexporte den Realwert der Landeswährung steigen lassen. Das hat zur Folge, dass die Industrieproduktion eines Landes vergleichsweise teurer wird als in den Partnerländern. Somit verliert das verarbeitende Gewerbe des Landes im wirtschaftlichen Wettbewerb an Boden – eine Deindustrialisierung ist die Folge. Gleichermaßen haben ressourcenreiche Nationen häufig ein geringeres Bildungsniveau als andere Nationen mit einem vergleichbaren Wirtschaftserfolg. Denn der Ressourcenabbau erfordert zumeist keine ausgeprägte formale Bildung der Arbeitskräfte. Diese mangelnde Bildung wiederum behindert den Aufbau komplexerer Industrien und des weiterverarbeitenden Gewerbes – somit wird die langfristige Entwicklung der Volkswirtschaft und der Gesellschaft ausgebremst. Das wiederum ermöglicht, dass sich Diktaturen und ausbeuterische Oligarchien besonders leicht manifestieren können. Folgerichtig haben die Wirtschaftswissenschaften dieses Phänomen Ressourcenfluch getauft. Und was zunächst befremdlich klingt, ist empirisch robust und historisch belegbar. Besonders, wenn schwache staatliche Institutionen ausbeuterische Praktiken nicht unterbinden, sondern gar unterstützen.
Russland hat seine Energieexporte nach Europa weitestgehend eingestellt
Russland kann in vielerlei Hinsicht als Paradebeispiel für den Ressourcenfluch herangezogen werden. Doch die Zeiten, in denen russische Rohstoffexporte eine Bonanza in die Kassen der Wirtschaftsmagnaten gespielt haben, kommen einem jähen Ende entgegen. Nachdem die Rekordpreise auf den Energiemärkten den russischen Gasmogulen in den ersten Kriegsmonaten Spitzengewinne beschert hatten, bricht der Markt nun völlig ein. Der Grund: Russland hat seine Energieexporte nach Europa weitestgehend eingestellt. Daher geht die aktuell zu beobachtende Situation auf den europäischen Energiemärkten auf das perfide Spiel des Ressourcenriesen Russlands zurück. Mit der so erzeugten Energieknappheit versucht der Kreml, die europäischen Länder genauso ins Joch zu zwingen wie sein eigenes Volk. Zugegeben: Aus europäischer Perspektive ist dieses Manöver brandgefährlich – nicht umsonst hetzen die politischen Akteure der extremen Flügel und wiegeln ihre Gefolgschaft auf. Fest steht auch, der Weg wird kein leichter sein. Und dennoch: Mit europäischer Solidarität, wissenschaftsgeleiteter Technologieoffenheit, wirtschaftlichen Stützprogrammen und werteorientierter Standhaftigkeit wird die Europäische Gemeinschaft gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.
Der Exportstopp heißt freilich nicht, dass Russland in Gänze auf seinen Energieträgern sitzen bleibt – in China und Indien sowie auch auf dem afrikanischen Kontinent finden sich dankbare Abnehmer. Allerdings werden die Handelskonditionen aus russischer Perspektive deutlich schlechter sein. Denn die neuen Kunden sind sich durchaus bewusst, dass das russische Angebot vom Westen geschmäht wird. Folglich können sie niedrigere Preise aushandeln und schmälern so die Renditen der Oligarchen nachhaltig. Gleichzeitig ist die Transport- und Leitungsinfrastruktur zu diesen neuen Partnern noch vergleichsweise unausgegoren und bedarf vieler Investitionen. Nebenbei dürften die wirtschaftlichen Sanktionen des Westens zunehmend ihre Rolle entfalten. Da insbesondere der russische Maschinenbau, aber auch andere Wirtschaftssektoren wesentlich von westlichen Technologieimporten abhängig war, ist eine voranschreitende Deindustrialisierung des Landes zu erwarten.
Die Gemengelage insgesamt dürfte daher langfristig das etablierte gesellschaftliche Gleichgewicht destabilisieren. Das russische Unrechtsregime könnte also in einer nicht allzu fernen Zukunft dem Ressourcenfluch zum Opfer fallen. Dafür häufen sich zunehmend die Anzeichen: Beispielsweise sterben aktuell viele Personen im Umfeld russischer Oligarchen und vormaligen Günstlingen des Politikapparates unter sonderbaren Umständen. Zudem sucht die russische Gesellschaft nach Sündenböcken für die miserablen Ergebnisse im unrechtmäßigen Ukrainefeldzug und findet diese im politischen Leitungsstab – die Autorität des Kremls schwindet.
Das bislang von Geld und Vetternwirtschaft zusammengehaltene politische Banditensystem Russlands zeigt zunehmend Risse. Das schwächt auch die außenpolitische Rolle des Kremls zunehmend – vormals treue Vasallen wenden sich ab. Noch ist der Fall des russischen Regimes längs nicht besiegelt, und doch fordert der Ressourcenfluch langsam seinen Tribut. Fest steht: Zumindest wirtschaftlich bleibt „Russland eine als Land verkleidet Tankstelle“, um mit den Worten des US-Senators John McCain zu enden.
Maximilian Luz Reinhardt ist am Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Referent für Wirtschaft und Nachhaltigkeit.