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Die türkische Diaspora in Deutschland

Die türkische Diaspora in Deutschland ist aus der Massenmigration aus der Türkei hervorgegangen, ausgelöst von dem bilateralen Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei (1961).
© picture alliance / dpa | Maurizio GambariniEine zahlenmäßig starke, wirtschaftlich und politisch aktive, soziokulturell vielfältige transnationale Gemeinschaft pflegt zahlreiche Netzwerke zur Türkei, die für beide Länder von Nutzen sind. Trotz ihrer wirtschaftsliberalen Ausrichtung bleibt ihr Potenzial für den politischen Liberalismus bislang ungenutzt. Welche Identifikationsangebote können Türkischstämmigen gemacht werden, um ihr Interesse an liberalen Politikinhalten zu wecken und sie parteipolitisch zu mobilisieren?
Eine plurale Diaspora – alteingesessen und transnational
Uğur Şahin, Özlem Türeci, Mesut Özil, Nuri Şahin, Fatih Akın, Sibel Kekilli, Cem Özdemir und Aydan Özoguz – sie sind nur einige von vielen, die die Gesellschaft mitprägen, und zwar in allen Bereichen. Ob in der Medizin, im Fußball, der Kultur oder der Politik, viele Türkeistämmige sind erfolgreich und machen das Land groß. Sie sind bi-lingual aufgewachsen, bi-kulturell sozialisiert und transnational unterwegs, wollen sich kulturell nicht festlegen, genießen stattdessen ihre Doppelidentität.
Die türkische Diaspora in Deutschland ist aus der Massenmigration aus der Türkei hervorgegangen, ausgelöst von dem bilateralen Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei (1961). Das Migrationsgeschehen hat sich im Laufe der Zeit diversifiziert und umfasst eine Vielzahl von Migrationsströmen, darunter Arbeits-, Familien-, Bildungs-, Asyl-, Rückkehr- und transnationale Pendelmigration. Folglich spiegelt die türkische Diaspora – als Ergebnis dieser verschiedenen Migrationsprozesse – die Fragmentierung und die damit verbundenen Konflikte, politischen Spaltungen und Polarisierungen wider, die in der türkischen Gesellschaft vorherrschen.
Laut Mikrozensus 2022 haben 1,53 Millionen deutsche Staatsbürger türkische Wurzeln, 1,3 Millionen Einwohner in Deutschland sind Staatsbürger der Republik Türkei. Etwas weniger als die Hälfte der deutschen Staatsangehörigen besitzt auch die türkische Staatsangehörigkeit, d. h. sie sind Doppelstaatler. Nach dem deutschen Staatsangehörigkeitsgesetz von 2000 erhalten Kinder türkischer Familien bei der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit. Seit der letzten Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2024 ist Mehrstaatigkeit generell zulässig.
Die Turkey ist eine etablierte transnationale Gemeinschaft: Mehr als die Hälfte der Migranten in Deutschland mit türkischem Hintergrund (52,6 Prozent) sind in Deutschland geboren, während die übrigen 47,4 Prozent in der Türkei zur Welt kamen und nach Deutschland eingewandert sind. Der überwiegende Teil der türkischen Migranten, die in der Türkei geboren wurden, lebt bereits seit längerer Zeit in Deutschland.: 37,3 Prozent seit über 40 Jahren und 42,2 Prozent seit mehr als 20 Jahren. Lediglich 8,8 Prozent der Neuankömmlinge, die seit weniger als zehn Jahren in Deutschland leben, können noch als Neuankömmlinge bezeichnet werden.
Wirtschaftlich willkommen, politisch ein verlockendes Feindbild
Die „Gastarbeiter“ haben als kostengünstige und disziplinierte Arbeitskräfte zum Aufbau Deutschlands und zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie beigetragen. Heute sind sie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland und in fast allen Berufsfeldern präsent. In Großstädten und Ballungsgebieten gibt es zahlreiche Arztpraxen, Anwaltskanzleien, Restaurants und viele andere Unternehmen, die von Türkeistämmigen geführt werden. Nach Angaben des Bundesministeriums für Bildung und Forschung beschäftigen rund 75.000 Unternehmer mit türkischen Wurzeln – darunter deutsche ebenso wie türkische Staatsangehörige – etwa 375.000 Menschen in Deutschland und erzielen einen Jahresumsatz von rund 35 Milliarden Euro. Die Türkei profitiert ebenfalls – zunächst durch Rücküberweisungen, die einen erheblichen Teil des türkischen Devisenbedarfs deckten, durch Konsum während der Sommerurlaube und heute auch durch Investitionen. Daraus ergibt sich die Frage, inwieweit der Unternehmergeist und der Wunsch nach Selbständigkeit auf einer wirtschaftsliberalen Einstellung basieren. Wie stark wäre die Resonanz des politischen Liberalismus in der türkischen Diaspora in Deutschland?
Politisch ist die transnationale türkische Diaspora in Deutschland heterogen zusammengesetzt, Türkeistämmige sind in zahlreichen Vereinen, Verbänden und Parteien aktiv. Der überwiegende Teil der Türkeistämmigen ist gut integriert, ein Teil befindet sich sogar auf dem Weg der Assimilation und ein eher kleiner Teil kann als marginalisiert bezeichnet werden. Gruppenintern lassen sich vor allem Traditionskonservative und Religiöse von türkischen Nationalisten unterscheiden, die den aktuellen innenpolitischen Kurs der türkischen Regierung unterstützen. Auf der anderen Seite stehen Linke, Liberale sowie Teile der Kurden und Aleviten, die jeweils ihre eigenen Migrantenselbstorganisationen haben. Keine dieser Gruppen kann jedoch als homogen bezeichnet werden. Zwischen regierungskritischen und regierungsnahen Türkeistämmigen kommt es zeitweise zu Spannungen – etwa bei konfliktträchtigen Ereignissen oder während den Wahlkämpfen.
Der überwiegende Teil der Türkeistämmigen fühlt sich in Deutschland wohl, drückt ihre Verbundenheit mit dem Land aus und zeigt einen starken Willen zur Integration. Beklagt werden Diskriminierungs- und Benachteiligungserfahrungen sowie Islamfeindlichkeit in Deutschland. Sie fühlen sich von der Mehrheitsgesellschaft wenig anerkannt, unabhängig davon, wie gut sie sich in die Gesellschaft integriert haben, und als ›Bürger zweiter Klasse‹ behandelt. In Medien und Politik werden ihre transnationalen Orientierungen teilweise als Integrationshemmnis verhandelt, in Teilen der Politik wird ihnen sogar Integrationsunwilligkeit unterstellt. Aus einer ähnlichen Einschätzung heraus leitete Bundeskanzler Helmut Kohl 1982 seine Politik der Rückkehrförderung ein, um die Zahl der Türkeistämmigen auf eine integrierbare Menge zu halbieren.
Konservativ in der Kultur, pragmatisch in der Politik
Neben der Verbundenheit mit Deutschland finden sich unter den Türkeistämmigen auch Diasporanationalismus und rechter Ultranationalismus. Der Diasporanationalismus zeichnet sich durch eine Überidentifikation mit der Türkei und ihrer Regierung, eine Romantisierung und Idealisierung des Landes und eine Ablehnung jeglicher Kritik an der Türkei und ihrer Führung aus. Der rechte Ultranationalismus äußert sich in der Überhöhung der eigenen ethno-kulturellen Identität und der Intoleranz gegenüber kulturellen Minderheiten und Kritik an Staat und Nation. Türkeistämmige Ultranationalisten sind in Dachverbänden sowie in zahlreichen Kultur- und Fußballvereinen und Moscheegemeinden organisiert, über die sie – mit unterschiedlichen Aktivitäten – Menschen ansprechen können. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass ultranationalistische Einstellungen und Aktivitäten nicht repräsentativ für die gesamte türkische Diaspora sind.
Konservatismus und Nationalismus von Türkischstämmigen spiegeln sich auch in den Wahlergebnissen der türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wider. 2023 erhielt Erdoğans regierende Volksallianz 65,09 Prozent der Stimmen der Türkeistämmigen in Deutschland, die oppositionelle Nationale Allianz 22,08 Prozent und die Allianz für Arbeit und Freiheit 10,61 Prozent. Die Wahlergebnisse in Deutschland stehen im Gegensatz zu denen in der Türkei, wo die Volksallianz 49,47 Prozent der Stimmen erhielt, die oppositionelle Nationale Allianz 35,02 Prozent und die Allianz für Arbeit und Freiheit 10,55 Prozent.
Auch bei der Wahl zum Amt des Staatspräsidenten war der Stimmenanteil Erdoğans in Deutschland (65,47 Prozent im ersten Wahlgang, 67,22 Prozent im zweiten Wahlgang) höher als in der Türkei (49,52 Prozent bzw. 52,18 Prozent). Zusammen mit Szenen, in denen türkische Jugendliche den Wahlsieg Erdogans in mehreren deutschen Städten öffentlich feierten, sorgte dies in der Öffentlichkeit und Politik für Enttäuschung und Empörung. Er löste eine heftige Debatte über die Loyalität vor allem junger und konservativer Türkeistämmiger gegenüber dem Aufnahmeland und über mangelnde demokratische Werteorientierung aus. Es sei widersprüchlich, in einer Demokratie zu leben und im Ausland einen Autokraten zu wählen.
Die Präferenzen der Türkeistämmigen für deutsche Parteien stehen in starkem Gegensatz zu ihren Präferenzen für türkische Parteien. Laut einer Umfrage lag die SPD mit 69,8 Prozent Zustimmung deutlich vor den Grünen (13,4 Prozent), der Linken (9,6 Prozent) und der CDU mit nur 6,1 Prozent. Die FDP erreichte einen Zustimmungswert von nur 0,7 Prozent. Der Kontrast zwischen den Präferenzen für türkische und deutsche Parteien zeigt, dass Türkeistämmige pragmatisch sein können. Eine neuere Studie zeigt, dass grundsätzlich jede Partei bei Menschen mit Migrationshintergrund ein Wählerpotenzial hat. Die SPD wird von 72,3 Prozent der Türkeistämmigen als wählbar wahrgenommen, die FDP von 50,9 Prozent der Türkeistämmigen und rangiert damit hinter BSWP (55,5 Prozent), Die Linke (57,8 Prozent), jedoch vor der AfD (19,7 Prozent). Die erstaunlich geringe Zustimmung bei Parteipräferenzen für die FDP ist erklärungsbedürftig, da die liberal-demokratische Partei migrationspolitisch grundsätzlich liberal und integrationsfreundlich eingestellt ist.
Was tun?
Gegenwärtig verdichten sich die Hinweise auf eine Politikverdrossenheit der Türkeistämmigen in Bezug auf die Bundespolitik. Keine Partei kann die türkische Community für sich gewinnen. Es herrscht Ernüchterung und teilweise Frustration gegenüber den etablierten Parteien SPD und Grüne, die einst von den Türkeistämmigen favorisiert wurden. Verantwortlich dafür ist das Empfinden, nicht auf dem Radar dieser Parteien zu sein, aber auch der Umgang der Politik mit dem Nahostkonflikt, die Töne gegen Palästina haben die Türkeistämmigen oft verschreckt. Vieles ist in Bewegung in der Parteienlandschaft. Damit öffnet sich auch für andere Parteien wie die FDP, die bisher nicht stark im Fokus der Türkeistämmigen standen, ein Gelegenheitsfenster, die Türkeistämmigen anzusprechen und für sich zu gewinnen. Mit welchen Identifikationsangeboten und Politikinhalten dies gelingen kann, bedarf einer vertieften Analyse. Vorab ist festzuhalten, dass Türkeistämmige wirtschaftliche Probleme (Inflation) als wichtigstes politisches Problem ansehen und sich eher um materielle Lage, Wohnsituation, Altersversorgung und Kriminalität sorgen, und ihr Vertrauen in politische Parteien eher gering ist. Aufgrund der starken wirtschaftsliberalen Einstellungen unter den Türkischstämmigen ist auch eine starke Neigung zum politischen Liberalismus zu erwarten.
Yaşar Aydın, CATS an der SWP.