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EU-Osterweiterung
20 Jahre nach der “Big Bang”-EU-Osterweiterung: Erfolge, Rückschläge und Zukunftsperspektiven

Ein Arbeiter entfernt die Reste eines eisernen Grenzzauns aus der Zeit des Kalten Krieges an der deutsch-tschechischen Grenze in Bayerisch Eisenstein, Süddeutschland, Samstag, 1. Mai 2004, während eine Menschenmenge aus Deutschen und Tschechen um Mitternacht die Erweiterung der Europäischen Union feiert.

Ein Arbeiter entfernt die Reste eines eisernen Grenzzauns aus der Zeit des Kalten Krieges an der deutsch-tschechischen Grenze in Bayerisch Eisenstein, Süddeutschland, Samstag, 1. Mai 2004, während eine Menschenmenge aus Deutschen und Tschechen um Mitternacht die Erweiterung der Europäischen Union feiert.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | DIETHER ENDLICHER

Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der EU-Erweiterung haben wir den Regionaldirektor des Europäischen Dialogs der Friedrich-Naumann-Stiftung, Jules Maaten, und den Projektleiter für Mitteleuropa und die baltischen Staaten, Lars-André Richter, zu einem kurzen Interview eingeladen.

FNF: Im Mai 2024 feiert die EU den 20. Jahrestag der Osterweiterung: Am 1. Mai 2004 traten Zypern, die Tschechische Republik, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei und Slowenien der EU bei. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Errungenschaften im Hinblick auf die Förderung von Frieden, Stabilität und Zusammenarbeit zwischen den europäischen Nationen?

Jules Maaten: Das Hauptziel der "Big Bang"-Erweiterung war es, Freiheit, Frieden, soziale Marktwirtschaft und Demokratie in den Ländern zu sichern, die gerade erst Jahrzehnte des erdrückenden Kommunismus hinter sich gelassen hatten. Offensichtlich war die Erweiterung in diesem Sinne insgesamt ein großer Erfolg. Heute denken wir, dass es offensichtlich ist, dass diese Länder dem folgen würden, was lange Zeit in Westeuropa die Norm war. Aber zu der Zeit war das nicht so sicher. Der Verhandlungsprozess war ein wichtiges Instrument um Reformen in den Bewerberländern zu fördern. Heute können wir uns die Europäische Union ohne diese Länder nicht mehr vorstellen. Das heißt jedoch nicht, dass keine Probleme existieren oder es keine Lehren zu ziehen gibt. Zypern ist beispielsweise immer noch eine geteilte Insel. Rechtsstaatlichkeit und sogar die liberale Demokratie selbst sind in einigen Ländern, insbesondere in Ungarn unter Viktor Orbán, schwach, um es vorsichtig auszudrücken. Wir haben gesehen, dass die Regierungen der EU kaum bereit sind, ihre Kollegen zur Rechenschaft zu ziehen. Während die Europäische Kommission die Hüterin der EU-Verträge sein sollte, hat sie sich aber von Viktor Orbán erpressen lassen und hätte auch anderswo viel entschlossener gegen Korruption vorgehen können - übrigens nicht nur in den neuen Mitgliedstaaten. In diesem Sinne hat die Europäische Kommission die Bürger enttäuscht, die darauf zählten, dass die EU-Rechtsstaatlichkeit fördert. Das Europäische Parlament, mit den Liberalen an der Spitze, hat diese Probleme kontinuierlich aufgezeigt, aber ohne Erfolg.

FNF: Sieben der zehn Länder, die 2004 der EU beitraten, gehörten zum Ostblock. Durch den Beitritt zur EU begann eine neue Ära der Integration und Solidarität auf dem gesamten Kontinent. Wie hat die Erweiterung die Entwicklung dieser Länder sowie der EU in den letzten zwanzig Jahren beeinflusst?

Lars-André Richter: Ost-Block, das klingt immer noch wuchtig, nach einer eintönigen Landmasse ohne soziale oder kulturelle Schattierungen. Dabei hat die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg in Mittel- und Osteuropa etwas gleichzumachen versucht, was von seiner historischen Prägung her unterschiedlicher kaum hätte sein können. Auch die marxistisch-leninistische bzw. realsozialistische Zwangsjacke, in die Moskau Staaten wie Polen, Ungarn oder die Tschechoslowakei über vierzig Jahre gehalten hat, hat das nicht fundamental ändern können. Entsprechend unterschiedlich waren die Startbedingungen nach 1989 bzw. nach 2004, dem Jahr der EU-Osterweiterung. Sehr gut kann man das an den Beispielen Estland und Polen dokumentieren. Estland war Teil der Sowjetunion. Seine lutherische Prägung war nicht so stark wie die katholische in Polen. Das Land war klein, hatte in etwa so viele Einwohner wie München. Der Neuanfang war leicht, er glich einer Neuerfindung. Heute ist das Land ein Leuchtfeuer in Sachen Digitalisierung, nicht nur in der EU. Polen indes ist so groß wie Spanien. In seiner Brust schlagen zwei Herzen. Die Polarisierung ist mit Händen zu greifen: einerseits die Freiheitseuphorie im westlichen Landesteil und den urbanen Zentren, anderseits die traditionalistischen, nationalkonservativen und deutlich kirchenfixierteren Landstriche im Osten. Diese Spaltung konnte man auch bei den Sejm-Wahlen Ende 2023 wieder sehen. Immerhin: Die Zeit vor 1989 wird parteiübergreifend als Unterjochung empfunden, genau wie in Estland. Anders als Deutschland hat Russland nie einen selbstkritischen Blick auf seine Geschichte geworfen, eher im Gegenteil. Der Argwohn gegenüber Moskau hat sich deshalb in den zurückliegenden dreißig Jahren in vielen der ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten gehalten. Gegen jede Form der Russland-Romantik war man immun. Wie wir heute sehen: völlig zu Recht.

FNF: Europa steht vor Bedrohungen, sowohl von außen als auch von innen: Die geopolitische Situation in der Welt unterscheidet sich sehr von der vor zwanzig Jahren, und es gibt neue geopolitische Herausforderungen. Gleichzeitig erlebt die EU einen Aufstieg des Populismus in ihren Mitgliedstaaten, der ihre Kernwerte bedroht. Angesichts dieser Entwicklungen, wie wichtig ist es für die EU, ihre Erweiterung und Vertiefung der Integration fortzusetzen, um ihre Relevanz und ihren Einfluss auf der globalen Bühne aufrechtzuerhalten?

Lars-André Richter: Populismus ist zunächst ein globales Phänomen, bedauerlicherweise. Der Humus, auf dem er gedeiht, ist hinlänglich bekannt: Verlust- und Abstiegsängste, der Dauerstress infolge einer Verdichtung medial minuziös ausgeleuchteter politischer, wirtschaftlicher und ökologischer Krisen, der Überdruss im Angesicht komplizierter parlamentarischer und rechtsstaatlicher Entscheidungsfindungsprozesse. In vielen ehemaligen Ostblockstaaten – auch in Ostdeutschland – bedienen die Populisten jedweder weltanschaulicher Couleur ein weiteres Feindbild: Brüssel, die Hauptstadt einer vorgeblichen Sowjetunion 2.0. Die Rede von der EUdSSR ist natürlich verwerflich, aber sie verfängt. Man habe, so der Kern der Anti-EU-Propaganda, 1989 nicht für die Freiheit gekämpft, nur um sich eine halbe Generation später in das Säurebecken des supranationalistischen, politisch hyperkorrekten und verregelungswütigen Brüsseler Apparats stoßen zu lassen. Auch hier gegenzuhalten, heißt dicke Bretter bohren. Gegennarrative helfen dabei nur bedingt. Man muss positive politische Erfahrungsräume schaffen. Und zwar auf kommunaler Ebene. Die Lösung liegt ganz urliberal in der Stärkung des Subsidiaritätsprinzip. Das klingt abgedroschen und gleichzeitig furchtbar akademisch. Aber wer merkt, dass er vor Ort gebraucht wird und etwas verändern kann, der wird auch bereit sein zu akzeptieren, dass die Komplexität auf nationaler oder gar europäischer Ebene nicht etwa der Versuch einer durchtriebenen Elite ist, die Massen gefügig zu machen und auszubeuten, der wird eher bereit sein zu verstehen, dass es eine kontinentale Gemeinschaft wie die EU braucht, um gegenüber der autoritären, politisch, wirtschaftlich und militärisch immer selbstherrlicher auftretenden Weltmacht China noch ernstgenommen zu werden.

Jules Maaten: Für die EU ist es jetzt unerlässlich, ihre Rolle als Leuchtturm für liberale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, für eine innovative Wirtschaft und eine offene Gesellschaft zu stärken. Dies ist nicht nur eine Notwendigkeit, um eine weitere Erweiterung möglich zu machen, sondern auch entscheidend für ihr Überleben in einer zunehmend unsicheren Welt. Der Populismus hat einen Fuß in der Tür, hauptsächlich, weil die EU und ihre Mitgliedstaaten unsicher zu sein scheinen, wohin es gehen soll, und wie sie mit den aktuellen globalen Druck umgehen sollen. Aber das ist keine Raketenwissenschaft. Die europäische Lebensweise übt eine große Anziehungskraft aus, und das ist es, was wir stärken und fördern müssen. Niemand versucht Zuflucht in Russland oder China zu finden. Die Menschen kommen nach Europa. Es muss einen guten Grund dafür geben und der ist nicht nur wirtschaftlich.

FNF: Wie sehen Sie die Aussichten für eine weitere Erweiterung, insbesondere in Bezug auf (potenzielle) Kandidatenländer auf dem Westbalkan und in Osteuropa? Welche Schritte kann die EU unternehmen, um den Beitrittsprozess für diese Länder zu fördern und zu erleichtern, während die Integrität der EU-Werte und -Standards gewahrt wird?

Jules Maaten: In dieser Zeit des Wettbewerbs zwischen politischen Systemen ist es für die Europäische Union zweifellos gut, wenn sie ihre Beziehungen zu den Ländern an ihren Grenzen schnell stärkt und damit die Dimension ihrer stabilen demokratischen Rechtsordnung ausbaut. Natürlich ist das ideale Szenario, dass diese Länder als Mitgliedstaaten beitreten. Wir brauchen keinen weiteren „Big Bang“, aber wir müssen bald substanzielle Fortschritte machen, auch wenn das nicht einfach ist. In vielen Fällen wird ein schrittweiser Ansatz, bei dem Länder (Staaten) ihre Bindungen an die EU  in Bereichen, in denen sie bereits gute Fortschritte gemacht haben, allmählich ausbauen, der einfachste Weg sein. Und in anderen Fällen, in denen die Bewerber besondere Anstrengungen unternommen haben, kann der Prozess schneller verlaufen. Gleichzeitig ist es entscheidend, dass die EU ihre interne demokratische, regelbasierte Entscheidungsfindung und Kontrollmechanismen stärkt. Das eine geht nicht ohne das andere. Daher würde der Erweiterungsprozess parallel die EU dazu verpflichten, ihr eigenes Haus in Ordnung zu bringen. Am Ende würden wir alle gewinnen.