Frankreich
Alte Muster statt Testwahl
Mit Spannung wurden die französischen Regionalwahlen erwartet, galten sie doch weithin als Stimmungstest für die 2022 anstehenden Präsidentschaftswahlen. Die Ergebnisse des 1. Wahlgangs an diesem Sonntag in den insgesamt 13 französischen Regionen machen eine Interpretation als Testwahl für den Elysee jedoch äußerst schwierig. Vielmehr ist Stand heute festzustellen: Die für das französische Parteien-System charakteristische, aber in den letzten Jahren durch den Erfolg von LREM aufgeweichte Links-Rechts-Spaltung wurde bei diesen Wahlen wieder virulent. Und: Eine Rekord-Abstinenz in der Wahlbeteiligung wirft Schatten auf den Zustand der Demokratie in Frankreich.
Nur jeder dritte Bürger in Frankreich ging wählen: 80 Prozent der jungen Menschen wählten nicht
Vielleicht war es einfach nur das ausgesprochen schöne Wetter, dass die Franzosen und Französinnen an diesem Sonntag vom Gang zu den Wahlurnen abgehalten hat. Mit einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung von gerade einmal 33,1% zeugt die erste Runde der Regionalwahlen nicht gerade von einer hohen Einsatzbereitschaft der Bevölkerung. Zum Vergleich: bei den letzten Regionalwahlen 2015 fiel die Beteiligung bei knapp unter 50 Prozent noch wesentlich höher aus. Nur ein Referendum, das die siebenjährige Amtszeit des französischen Präsidentenamts auf fünf Jahre begrenzte, verzeichnete im Jahre 2000 eine geringere Wahlbeteiligung. Insofern sind die Schlüsse, die aus diesem ersten Wahlgang gezogen werden können, mit Vorsicht zu genießen. Neben dem banalen Faktor Wetter spricht jedoch vieles dafür, dass die niedrige Wahlbeteiligung Ausdruck eines Desinteresses oder zumindest einer fehlenden Identifikation mit den französischen Parteien und deren Politikangebot ist. Obgleich die französischen Regionen durchaus eine nicht zu unterschätzende Rolle für den Alltag der Franzosen und Französinnen spielen, scheinen sie in der individuellen Wahrnehmung der Wählerinnen und Wähler nach wie vor eher zweitrangig zu sein. Dabei sind die Regionen etwa für die Schul- und Verkehrspolitik, die berufliche Bildung, die Raumplanung, die Förderung des ländlichen Raums sowie die Verwaltung von europäischen Strukturfonds zuständig.
Entgegen dieser Themen war der Wahlkampf stark auf nationale Themen ausgerichtet, was vor allem vom Rassemblement National (RN) unter Marine le Pen forciert wurde. Ihre Kandidaten lenkten die Debatten immer wieder auf die innere Sicherheit, wofür die Regionen außer bei der Sicherheit auf Bahnhöfen oder in den Schulen aber gar nicht verantwortlich sind, sowie die Reduktion von Migration und den Zustand der französischen Polizei. Auch in den Medien wurde die Frage, inwieweit die Regionalwahlen als ein Thermometer für die im Jahr 2022 anstehenden Präsidentschaftswahlen dienen können, überproportional viel diskutiert statt die eigentlichen Kompetenzen der Regionen und das politische Angebot der Kandidaten und Kandidatinnen auf regionalpolitischer Ebene herauszustellen. Mit Blick auf das Ergebnis ist die besonders hohe Wahlenthaltungen bei den jungen Wählern und Wählerinnen erschreckend: bei den 18-24-Jährigen waren es 87 Prozent, die sich vollständig enthielten. Es sind damit vor allem ältere und besser gebildete Menschen der Mittelschicht, die am Wahlsonntag zur Urne schritten, so Umfragen von Ipsos/Sofa Steria.
Kontinuität statt Wandel: Amtsbonus und Links-Rechts-Spaltung bremsen Marine le Pens Rassemblement National
Wie lassen sich die Ergebnisse der Parteien nun im Einzelnen deuten? In Zeiten wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Instabilität, die durch die Corona-Krise noch verstärkt wurde, machten die meisten Wähler und Wählerinnen ihr Kreuz bei den ihnen bekannten Amtsinhabern aus dem bürgerlich-konservativen Lager der Républicains (die 28,5 Prozent im Landesdurchschnitt erreichten) sowie der Sozialisten. Auf nationaler Ebene waren insbesondere die Sozialisten zuletzt nahezu in der Bedeutungslosigkeit versunken. Dagegen wirken die 18 Prozent, die die Parti Socialiste im Landesdurchschnitt erreichte, fast schon triumphal. Die größte Überraschung dürfte jedoch das eher schwache Abschneiden des Rassemblement National (RN) gewesen sein, das mit 18,5 Prozent Landesdurchschnitt weit unter den berechneten Prognosen lag, die der rechtsextremen Partei von Marine Le Pen eine Führungsposition in sechs Regionen prophezeit hatten. Nun ist der RN lediglich in der Region Provences Alpes Côtes D’Azur mit 36,4 Prozent vor den Républicains unter Renaud Muselier (31,9 Prozent) gelandet, allerdings deutlich schlechter als vorhergesagt (um die 41 Prozent).
Damit blieb die Partei weit hinter Ihrem Erfolg bei den letzten Regionalwahlen, wo sie, einen Monat nach den Anschlägen vom 13. November 2015, landesweit 27,7 % der Stimmen erhalten hatte. Der RN ist durch die Wahlabstinenz besonders stark getroffen. Eine Analyse des Profils der Nichtwähler, die das Institut Ipsos-Sopra Steria bei 3.000 in den Wählerverzeichnissen eingetragenen Personen durchgeführt hat, macht dies deutlich: 73 Prozent der Wähler, die angeben, 2017 für Marine Le Pen gestimmt zu haben, sind am Sonntag nicht zur Wahl gegangen, gegenüber 44 Prozent ehemaliger François Fillon-Wähler und 60 Prozent Emmanuel Macron-Wähler. Die Unzufriedenen, die sich nicht durch neue Bewegungen wie En Marche oder "No-Label-Listen" wie bei den Kommunalwahlen vertreten fühlen, verweigerten dieses Mal den Wahlgang, statt RN oder die linksextreme La France Insoumise unter Jean-Luc Mélenchon zu wählen. Durch die Bemühungen des RN, einen Kurs auf Normalität und Moderation zu fahren, schlägt sich die Wut der Bürger nur noch in Wahlenthaltung nieder und nicht mehr in der Wahl von Marine Le Pen, heißt es auch aus LREM-Ministerkreisen.
Lokalpolitische Schlappe für La République en Marche setzt sich fort
Wie bereits bei den Kommunalwahlen und den Senatswahlen schaffte es die amtierende Präsidentenpartei La République en Marche mit landesweit 11,7 Prozent trotz Unterstützung der weiteren zentristischen Regierungsparteien Mouvement Démocrate (MoDem) und Agir nicht, sich lokalpolitisch weiter zu verankern.
Die drei Parteien hatten sich einen Ausgang um die 15 Prozent erhofft, scheiden nun aber gleich in drei Regionen in der ersten Runde aus: Hauts-de-France, Okzitanien und Auvergne-Rhône-Alpes, da sie dort weniger als 10% erhalten haben und damit die Sperrminorität für den zweiten Wahlgang nicht einhalten konnten. Dies ist umso bemerkenswerter, da Staatspräsident Macron beispielsweise in den Hauts-de-France ganze fünf Minister aufwarten ließ, einschließlich des Justizministers Éric Dupond-Moretti, Kandidat im Pas-de-Calais. Die besten Ergebnisse erzielte die Regierungsmehrheit mit MoDem-Kandidat und Minister für die Beziehungen zum Parlament, Marc Fesneau (15,5 Prozent) in Centre-Val-de Loire sowie der beigeordneten Ministerin für Ex-Kombattanten, Geneviève Darrieussecq (14,6 Prozent) in der Nouvelle-Aquitaine. Die Niederlage der Regierungsmehrheit insgesamt kommentierte Innenminister Gérard Darmanin mit dem Hinweis, dass der viel beschworene Stimmungstest für die Präsidentschaftswahlen schlicht nicht stattgefunden habe: „Die Franzosen sind nicht dumm. Wenn Sie für die Regionalwahlen wählen, wählen Sie einen Regionalpräsidenten. Wenn es um die Wahl des Präsidenten der Republik geht, werden sie einen Präsidenten der Republik wählen.“
So wird für den zweiten Wahlgang dann auch eine Strategie greifen, die auf nationaler Ebene alles andere als vorstellbar wäre: LREM wird, um einen Wahlsieg des rechtsextremen RN zu verhindern, vereinzelt nun regionenspezifische Wahlbündnisse mit den konservativen Républicains suchen, versicherten sowohl LRM-Generalsekretär Stanislas Guerini als auch Regierungssprecher Gabriel Attal. Das bedeutet konkret, dass einzelne Kandidaten und Kandidatinnen ihre Listen in den Regionen, wo der Wahlausgang für die Konservativen knapp ist, zurückziehen werden, um eine „republikanische Front“ zu bilden.
Die Tatsache, dass keiner der von Macron ins Rennen geschickten Minister und Ministerinnen ein Regionalamt bekleiden wird, wird höchstwahrscheinlich auch nicht zu einer Umbildung des Ministerkabinetts führen, wie noch in den letzten Wochen spekuliert wurde. Die Regionalwahlen dürften die Diskussionen um interne Neuausrichtungen – personell als auch inhaltlich – bei LREM und der Regierungsmehrheit jedoch in jedem Falle entfacht haben. Bis zum zweiten Wahlgang am 27. Juni wird eine der Strategien der Parteien darauf zielen, die Regionen im Bewusstsein der Franzosen und Französinnen klarer sichtbar zu machen, insbesondere bei den jungen Menschen. Mehr politische Bildung, weniger Personenkult um nationale Parteistars und die Rückkehr zu Beschäftigung mit den Themen, um die es regional eigentlich gehen sollte, z.B. die Privatisierung im Bahnverkehr, könnten wichtige Bausteine sein, um wieder mehr Wählerinnen und Wähler an die Wahlurnen zu bringen.
Jeanette Süß ist European Affairs Managerin im Regionalbüro „Europäischer Dialog“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel.