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Frankreich
Trotz Protesten und Unruhen: Französische Rentenreform tritt in Kraft

Proteste Rentenreform
© picture alliance / abaca | Stevens Tomas/ABACA

Am 1. September tritt in Frankreich die umstrittene Rentenreform in Kraft, die am 10. Januar dieses Jahres von Premierministerin Elisabeth Borne vorgestellt wurde. Sie soll das französische Rentensystem gerechter machen und gleichzeitig gegen das wachsende Defizit in den Rentenkassen vorgehen. Auf den viel diskutieren Gesetzesvorschlag folgte eine Kritikwelle, sowohl aus der Bevölkerung als auch aus der politischen Opposition.

Am 16. März sollte das französische Parlament über den Vorschlag abstimmen. Während der Senat, das parlamentarische Oberhaus, am Vormittag für die Reform stimmte, konnte sich die Regierung nicht sicher sein, ob die Nationalversammlung, das parlamentarische Unterhaus, dem Vorschlag ebenfalls zustimmen würde. Daher berief sich die Regierung auf Artikel 49.3 der Verfassung. Dieser besagt, dass die Regierung auch ohne parlamentarische Abstimmung ein Gesetz durchsetzen kann, sofern sie die Zustimmung des Ministerrates hat. Ist dies der Fall, kündigt die Premierministerin oder der Premierminister an, dass die Regierung die Verantwortung für das betreffende Gesetz übernehme. Im Anschluss hat die Opposition 24 Stunden lang die Möglichkeit, Misstrauensanträge zu stellen.

Genau dies geschah im Fall der Rentenreform: Nachdem Premierministerin Borne am 16. März in der Nationalversammlung die Verantwortung für die Reform übernommen hatte, stellten die Libertés, Indépendants, Outre-mer et Territoires (LIOT), unterstützt von der linken Nouvelle union populaire écologique et sociale (NUPES), sowie die rechtspopulistische Rassemblement National jeweils Misstrauensanträge gegen die Regierung der Premierministerin. Beide Anträge erreichten allerdings nicht die erforderliche absolute Mehrheit der Abgeordneten und scheiterten am nächsten Tag.

Anschließende Bemühungen der Opposition, die Reform durch Referenda zu verhindern, scheiterten am französischen Verfassungsrat. Dieser entschied am 14. April, dass die Kernpunkte der Rentenreform verfassungskonform seien. Noch in der Nacht zum 15. April unterschrieb Präsident Macron das Gesetz zur Rentenreform, welches am 15. April schließlich im Journal Officiel veröffentlicht wurde.

Die Rentenreform gilt als eine der wichtigsten Sozialreformen Macrons. Bereits im Herbst 2019 hatte er während seiner ersten Amtszeit einen Vorschlag zur Reform des französischen Rentensystems präsentiert. Damals schlug die Regierung die Einführung eines Punktesystems vor, das Privilegien und Sonderrechte für bestimmte Berufsgruppen abschaffen und so das Rentensystem solidarischer und einheitlicher machen sollte. Auch auf diesen Vorschlag folgten wochenlange Proteste in der Bevölkerung. In den folgenden Kommunalwahlen im Frühjahr 2020 war die Wahlbeteiligung so niedrig wie lange nicht, und Macrons Partei Renaissance, damals noch unter dem Gründungsnamen La République en Marche, musste starke Stimmeinbußen hinnehmen. Auch aufgrund der Corona-Pandemie wurde der Vorschlag nicht weiterverfolgt.

Rente mit 64 statt 62, längere Einzahldauer, mehr Grundrente – die Säulen des neuen Rentensystems

Das Ziel der Rentenreform ist die Entlastung der französischen Sozialkassen. Dafür soll das bisher in 42 Rentenkassen fragmentierte System einheitlicher gestaltet werden. Als ersten Schritt werden daher ab dem 1. September einige, aber nicht alle, der 42 Rentenkassen abgeschafft.

Ein zentraler Punkt der Rentenreform – und einer der Hauptkritikpunkte – ist die sukzessive Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre. 64 Jahre ist bereits ein Kompromiss, ursprünglich plante die Regierung eine Erhöhung auf 65 Jahre. Gleichzeitig erhöht sich auch die Einzahldauer, also die Anzahl der Jahre, die gearbeitet werden müssen, um einen vollen Rentenanspruch zu haben, von 41,5 auf 43 Jahre bis 2027. Diese Erhöhung wurde bereits 2014 unter Präsident Hollande verabschiedet, allerdings sollte sich die Einzahldauer bis 2030 erhöhen. Dies wird nun schneller geschehen. Ausnahmen zu den beiden Erhöhungen gelten unter anderem für Langzeitbeschäftigte, die zwischen 16 und 18 Jahren ins Berufsleben eingestiegen sind, sowie Betroffene von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten und Arbeitnehmer in schweren Berufen. Mit 67 Jahren hat man automatisch Anspruch auf die volle Rente, unabhängig von der Einzahldauer.

Auch die Grundrente steigt, von bisher knapp 925€ auf 1.200€. Außerdem gilt nun ein Deckel von 120.000€ auf die Beitragszahlungen zur Rentenversicherung. Das neue Gesetz führt zusätzlich ein System von Abschlägen und Boni ein: so muss man für jedes Jahr, das man früher in Rente geht, einen Abschlag von fünf Prozent hinnehmen. Für jedes Jahr, das man länger arbeitet, erhält man einen Bonus von fünf Prozent. Zusätzlich gibt es einen Kinderbonus von zehn Prozent für alle, die mindestens drei Kinder aufgezogen haben.

Unruhen und Proteste im ganzen Land – doch die Reform findet auch Zustimmung

Direkt nach der Vorstellung der Rentenreform riefen Gewerkschaften und andere zivile Organisationen zu Streiks auf. Am 19. Januar 2023 fand ein erster Streiktag statt, bei der sich landesweit und branchenübergreifend Gegner der Reform zusammenschlossen. Fortan kamen an den in regelmäßigen Abständen organisierten Streiktagen mehr als eine Million Menschen zusammen und forderten, den Vorschlag zur Rentenreform zurückzunehmen. Da in Frankreich auch Beamte streiken dürfen, kam es zu erheblichen Einschränken im Zug- und Flugverkehr, sowie Personalausfällen in Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, Raffinerien und in der Abfallbeseitigung.

Die Rentenreform wird von der Bevölkerung als sozial ungerecht empfunden. Laut Umfragen lehnen etwa zwei Drittel der Franzosen die Reform ab. Besonders die Erhöhungen des Rentenalters und der Einzahldauer wurden stark kritisiert. Denn die Rente mit 60, die 1983 unter Präsident François Mitterrand eingeführt wurde, gilt als eine der Haupterrungenschaften des Sozialstaates.

Doch die Pläne Macrons erhalten auch Zustimmung: etwa ein Drittel der Franzosen sind für eine Reform ihres Rentensystems. Sie sehen die finanziellen Probleme des aktuellen Systems und befürworten eine Reform, um eine angemessene und gerechte Rente für alle zu sichern. Außerdem denken sie vor allem an die Zukunft und unterstützen die Reform, um langfristig die nachfolgenden Generationen zu entlasten. Dafür arbeiten die Befürworter der Reform gerne zwei Jahre länger. 

Auch nach der Verabschiedung der Reform am 16. März, trotz fehlender Zustimmung der Nationalversammlung, hielten die Proteste im ganzen Land an. Die bis dahin größtenteils friedlichen Streiks wurden immer unstrukturierter und es kam vermehrt zu gewaltsamen Ausschreitungen. So legten Demonstranten unter anderem Feuer im Rathaus von Lyon. Ein für Ende März geplanter Staatsbesuch von König Charles III. wurde verschoben.

Insgesamt schlossen sich nach der Verabschiedung des Gesetztes deutlich mehr junge Menschen, darunter Studenten und Berufseinsteiger, den von Gewerkschaften und der Opposition geführten Protesten an. Ihr Unmut galt vor allem der Methode der Regierung: die Entscheidung, die Nationalversammlung nicht abstimmen zu lassen, wird als undemokratisch gesehen. Sie kritisieren, dass die Bevölkerung so nur schwer Einfluss auf neue Gesetze nehmen kann.

Präsident Macron hatte eigentlich versprochen, das Parlament stärker zu involvieren und Frankreich demokratischer zu machen. Mit diesem Versprechen ist er angetreten. Daher empfinden viele in der Bevölkerung es als unfair, dass die Regierung eine so wichtige Entscheidung vorbei am Parlament fällt.  Allerdings wird Artikel 49.3 viel häufiger von Regierungen gebraucht als angenommen:  seit der Verabschiedung der französischen Verfassung im Jahr 1958 wurde er bereits 89 mal verwendet, von Regierungen aller Ideologien.

Die Reform ist ohne Frage eines der umstrittensten Projekte von Präsident Macron. Die weiteren Auswirkungen auf ihn und seine Partei Renaissance bleiben allerdings abzusehen. Obwohl diese in aktuellen Umfragen starke Einbußen hinnehmen muss, finden die nächsten Präsidentschaftswahlen erst 2027 statt.