Europa
Vor den Parlamentswahlen: Frankreichs politische Landschaft im Wandel
Bereits in den letzten Zügen des Wahlkampfes hatte Emmanuel Macron eine „neue Methode“ als wiedergewählter und dennoch „neuer“ französischer Staatspräsident angekündigt. Mit Blick auf die politischen Entwicklungen der letzten Wochen seit seiner Wiederwahl am 24. April fallen dabei vor allem zwei Entscheidungen ins Gewicht, die Aufschluss über Kontinuität und Wandel der französischen politischen Landschaft und insbesondere der zentristischen Bewegungen in Frankreich geben: die Umbenennung der Partei La République en Marche in Renaissance sowie die Benennung der neuen französischen Regierung.
Hommage an Europa: En Marche wird Renaissance
„Wir initiieren heute eine Bewegung zur Neugründung von La République en Marche, um diese politische Bewegung, die der Präsident der Republik Emmanuel Macron vor etwas mehr als sechs Jahren ins Leben gerufen hat, in einer politischen Partei, die den Namen Renaissance tragen wird, weiter ausbauen zu können", erklärte Stanislas Guerini, ehemaliger Generalsekretär von En Marche, der mittlerweile zum Minister aufgestiegen ist, auf einer Pressekonferenz am 5. Mai in Paris.
Mit Guerinis Eintritt in die neue Ministerriege stellt sich schließlich auch die Führungsfrage bei En Marche bzw. der künftigen Renaissance-Bewegung, da Guerini nicht beide Hüte behalten kann und wohl auch keine besondere Lust mehr verspürt, die Bewegung zu führen, wie ein Sprecher der Bewegung verlauten ließ. Bis die Führungsfrage geklärt ist, also bis zu den Parlamentswahlen, die am 12. und 19. Juni stattfinden, steuern Marie Guévenoux, die Nummer 2 der Partei, und Richard Ferrand, Präsident der Nationalversammlung und des Exekutivbüros übergangsweise die Bewegung. Hinter den Kulissen wird schon fleißig nach einem Nachfolger gesucht, der fortan aber nicht mehr nur En Marche sondern Renaissance vorstehen wird. Bekannt sind bereits die ersten Umrisse der neuen Bewegung, die nicht ohne Zufall den gleichen Namen der zentristischen Delegation in der liberalen Renew Europe-Fraktion im Europaparlament trägt: Es wird der Zusammenschluss von En Marche mit kleineren Formationen sein - Agir, En Commun, Territoires de Progrès.
Unklar ist allerdings, wann der Gründungskongress von Renaissance stattfinden wird, wie seine Satzung aussehen wird und wer ihn leiten wird. Eine Persönlichkeit wird dabei immer wieder erwähnt: der amtierende Fraktionsvorsitzende von Renew Europe im Europaparlament, Stéphane Séjourné. Der enge Vertraute von Emmanuel Macron, ehemaliger politischer Berater im Elysée-Palast, gehörte während der beiden Präsidentschaftskampagnen, 2017 und 2022, zum engsten Beraterkreis Macrons. Macron hat ihn nun persönlich mit der Umstrukturierung von En Marche zu Renaissance beauftragt – eine Aufgabe, die er, als ehemaliger Kampagnenchef für die Europawahlen, sicherlich mit Bravour meistern wird. Sollte er jedoch wirklich wieder den Weg zurück nach Paris finden, würde dies nicht auf allzu große Begeisterung in Brüssel stoßen, schließlich wurde Séjourné erst im Januar 2022 neuer Fraktionsvorsitzender der immer noch jungen liberal-zentristischen Renew-Europe Fraktion. Der konsensorientierte Franzose entgegen anfänglicher Befürchtungen gut in der Rolle des Fraktionsführer eingefunden und dabei Brücken zwischen den verschiedenen Lagern innerhalb der Fraktion gebaut.
Neue liberale Partei in Europa? Rumore auf dem ALDE-Kongress
Parallel zum in Dublin stattfindenden ALDE-Kongress, der die liberalen Parteien Europas nach einer Corona-Zwangspause von 3 Jahren am 2.-4. Juni vereinte, verkündete En Marche, ein neues paneuropäisches zentristisches Bündnis gründen zu wollen.
Mit der Initiative würde Macrons Renaissance-Bündnis und andere Parteien mit der lang etablierten ALDE-Partei verbunden werden. Der Vorschlag wurde in einem Brief unterbreitet, der von Stéphane Séjourné sowie dem bulgarischen Premierminister Kiril Petkov und dem neuen slowenischen Premierminister Robert Golob unterzeichnet wurde. Der Brief war an Timmy Dooley und Ilhan Kyuchyuk, die Co-Vorsitzenden der ALDE, gerichtet. Interessanterweise lehnte der auf dem ALDE-Kongress Anwesende Séjourné aber ab, sich zu Einzelheiten des Vorschlags zu äußern. Er machte jedoch deutlich, dass Renaissance daran interessiert sei, mit ALDE eine größere politische Kraft zu werden. Der Überraschungscoup sorgte in jedem Fall für sehr gemischte Gefühle der Anwesenden auf dem Kongress, die in der Initiative (wieder einmal) eine französische Attacke sahen, ähnlich wie 2018, wie die Studie der Friedrich-Naumann-Stiftung detailliert aufzeigt. Andere sahen in dem Vorschlag einen notwendigen Schritt, um die internen Spaltungen zwischen Europäischer Demokratischer Partei (EDP), ALDE und den anderen Kräften, die noch keiner Parteienfamilie zugehörig sind, zu überwinden. Daher sind nun vertrauensbildende Gespräche und Verhandlungen nötig, damit die liberalen Kräfte für die Europawahlen 2024 gut aufgestellt sind.
Neue Regierung – neue Methode?
Einen ganzen Monat hat es gedauert bis Emmanuel Macron nach den Präsidentschaftswahlen erst seine neue Premierministerin Élisabeth Borne und dann die neue französische Regierung aufgestellt hat. Soviel Behutsamkeit sind die Franzosen, denen der französische Präsident versprochen hat, nicht einfach weiter wie bisher zu machen, sondern eine „neue“ fünfjährige Amtszeit als „neuer Präsident“ anzutreten, gar nicht gewöhnt. Dementsprechend erhielt Macron und seine politische Bewegung viel Kritik, er sei in einen Zustand der Lethargie verfallen, während andere politische Formationen, insbesondere das linke Lager fleißig an Strategieplänen schmiedeten. Aber wieviel Erneuerung steckt in der behutsam zusammengesetzten neuen Regierungsmannschaft? Festzustellen ist, dass viele Spitzenpolitiker im Amt verblieben sind, wie Innenminister Gérald Darmanin, Éric Dupond-Moretti als Justizminister und Bruno Le Maire als Wirtschaftsminister, während andere, angefangen bei der Premierministerin Élisabeth Borne, nur ihre Aufgabenbereiche wechseln. Dennoch ist positiv hervorzuheben, dass mit Borne eine Frau die Geschäfte der Exekutive leitet und auch ein paar neue interessante Gesichter dazu gekommen sind, insbesondere die neue Außenministerin Catherine Colonna, die vorher französische Botschafterin in London war oder Chrysoula Zacharopoulou, die für die Frankophonie und internationale Partnerschaften zuständig ist. Die griechische Europaabgeordnete, die vor ihrem Umzug nach Brüssel seit 2007 in Frankreich lebte, war bislang eher in europäischen Expertenkreisen bekannt, da sie der französischen Delegation der liberalen Renew-Europe Fraktion angehört. Zudem wird Clément Beaune, der zwischenzeitlich für andere Ministerposten gehandelt wurde, vom Staatssekretär für Europa zum beigeordneten Europaminister im Rang aufgewertet. Mit diesen zwei Personalien trägt die neue Mannschaft durchaus einen starken europapolitischen Stempel.
Andererseits ist fraglich, ob es sich lohnt, die neuen Namen sorgsam einzustudieren, da ein Teil der Regierungsmannschaft wieder ausgetauscht werden könnte: gleich fünfzehn der achtundzwanzig Regierungsmitglieder sind Kandidaten für die kommenden Parlamentswahlen! Im Falle einer Niederlage wären sie gezwungen, als Minister wieder zurücktreten, auch wenn ihnen insgesamt eher gute Chancen eingeräumt werden.
Prioritäten für die zweite Amtszeit: Kaufkraft, Rentenreform und Energiewende
Emmanuel Macron hat mehrere Prioritäten definiert, die er ab diesem Sommer oder im Laufe des kommenden Jahres in Angriff nehmen möchte. Dazu gehört vor allem das Thema der Kaufkraft, eines der Hauptthemen des Präsidentschaftswahlkampfs, insbesondere auch im Duell zwischen Marine le Pen und Emmanuel Macron. So versprach Macron schon Mitte April, ab diesem Sommer ein Gesetz zur Förderung der Kaufkraft zu verabschieden. Außerdem soll das Gesetz Unternehmen, die viel erwirtschaften, dazu verpflichten, eine Mitarbeiterprämie auf zwei Arten zu zahlen: entweder durch Gewinnbeteiligung oder durch die Zahlung einer Kaufkraftprämie. Diese Prämie - auch "Macron-Prämie" genannt - war 2019 als Reaktion auf die Forderungen der Gelbwesten eingeführt worden. Sie ermöglicht es den Arbeitgebern, ihren Arbeitnehmern, die weniger als das Dreifache des Mindestlohns verdienen, eine Prämie zu zahlen, die für den Arbeitnehmer steuerfrei und für den Arbeitgeber frei von Sozialabgaben ist. Bisher war sie auf 1.000 Euro begrenzt, Macron möchte sie nun auf bis zu 6.000 Euro anheben.
Ein anderes zentrales Vorhaben unter Federführung der neuen Premierministerin Borne, das nach den Parlamentswahlen angegangen werden soll, ist die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters von 62 auf 65 Jahre. Dieser in weiten Teilen der französischen Bevölkerung polarisierende Vorschlag soll aber in Abstimmung mit sämtlichen Sozialpartnern beschlossen werden. Die dazu notwendigen Konsultationen hätten einige Macronisten gerne schon direkt nach den Präsidentschaftswahlen und damit vor den Parlamentswahlen begonnen, ebenso wie die Installation des versprochenen parteiübergreifenden Ausschusses zur Reform der Institutionen. Doch Emmanuel Macron scheint lieber auf Zeit zu spielen.
Ein weiteres Dauerbrenner-Thema, das spätestens seit den Gelbwestenprotesten für einigen Sprengstoff in der französischen Gesellschaft sorgt, ist die Energiewende, die fortan zur Chefsache der neuen Regierung erklärt wurde. Die von Macron angestrebte "planification écologique“, die hoffentlich nicht einer ökologischen Planwirtschaft gleichen wird, ist fortan in den Händen eines Frauentrios. Zwei ehemalige Ministerinnen wurden befördert, um die beiden grünen Ressorts zu besetzen, die neu direkt an die Premierministerin Borne angegliedert werden, um es Frankreich zu ermöglichen, bis 2050 CO2-neutral zu werden.
Amélie de Montchalin soll die Energiewende auf territorialer Ebene umsetzen, wobei die Themen Wohnen, Verkehr und Abfallwirtschaft besonders wichtig werden. Ihr Ministerium vereint auch die Stadtplanung, den Naturschutz und die Biodiversität. Agnès Pannier-Runacher soll für die künftige Energiepolitik zuständig sein, das heißt auch in Frankreich zwar, dass die erneuerbaren Energien massiv ausgebaut werden müssen, aber eben auch weiter auf Kernkraft gesetzt wird. Fest steht, dass alle drei Frauen mit ihrem eher technokratischen Profil dem Ziel verpflichtet werden sollen, den ökologischen Übergang in allen Bereichen der Politik umzusetzen. Die Nichtregierungsorganisation Greenpeace kritisierte derweil, dass insbesondere die zwei Ministerinnen Montchalin und Pannier-Runacher keine "keine spezifische Erfahrung mit ihrem Thema“ aufwiesen. Hinzu kommt, dass Montchalin 2018 gegen das Verbot von Glyphosat gestimmt hat. Aber wie in vielen anderen Regelungsbereichen fällt hier die Begründung besonders ins Gewicht: es bedürfe einer europäischen Regelung zu dieser Thematik, Frankreich dürfe keine Alleingänge machen. Damit einher geht auch der Wille der französischen Regierung, sich intensiv in der europäischen Klima- und Umweltpolitik einzubringen. So sieht die „Farm-to-Fork“-Strategie der EU, die 2020 als Teil des EU Green Deals erschien, etwa eine Reduktion des Pestizideinsatzes und -risikos um 50% bis 2030 vor, wenngleich die Aktualisierung der neuen Pestizid-Strategie aufgrund der drohenden Ernährungskrise im Zuge des Ukrainekrieges vorerst verschoben wurde.
Französische Parlamentswahlen sind auch wichtig für Europa
Während Europa das einende Thema innerhalb der aktuellen Regierungsmehrheit der zentristischen Parteien und Bewegungen ist, die sich für die anstehenden Parlamentswahlen in einer Konföderation mit dem Namen „Ensemble" – „zusammen“ gruppiert haben, spaltet die Haltung zu Europa die „neue ökologische und soziale Allianz" – kurz Nupes – unter Anführer Jean-Luc Mélenchon. Vor dem Zusammenschluss zwischen der linksextremen La France Insoumise, den Kommunisten, den Grünen und der Sozialistischen Partei verglich Präsidentschaftskandidat Yannick Jadot Mélenchos Projekt für Europa mit dem von Marine Le Pen. Letzterer hatte sich seit seiner Niederlage im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen bereits als Premierminister empfohlen und wiederholt dieses Angebot bei jedem medialen Auftritt mantramäßig. Mit dem Zusammenschluss der verschiedenen Parteien ist die Europafrage aber keinesfalls gelöst, vielmehr wird offen zugeben, dass die Haltungen hierzu variieren, insbesondere zu der Frage, inwieweit gegen EU-Recht verstoßen werden sollte.
Der NUPES-Zusammenschluss konnte bereits erreichen, die rechtsextremen Stimmen Marine Le Pens und Éric Zemmours in den Hintergrund zu drängen. Die Präsidentenformation En Marche kommt dabei zunehmend ins Zittern: während sie vor ein paar Wochen noch sicher mit der absoluten Mehrheit gerechnet hatte, wird es nun wohl zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen En Marche und NUPES kommen. Die Ergebnisse der ersten Runde der Parlamentswahlen bei den Auslandsfranzosen, die am Sonntag, den 6. Juni, veröffentlicht wurden, werden ihre Schatten voraus. Während die En Marche mehrheitlich die Nase vorn hat, gelang dem Linksbündnis ein Durchbruch, indem es sich in ganzen zehn von elf Wahlkreisen für die zweite Runde qualifizierte – doppelt so viel wie 2017. Das weckt Misstrauen bis Besorgnis in den Reihen der Macronisten.
Wie bei den Präsidentschaftswahlen im April sind für die Parlamentswahlen drei Blöcke zu identifizieren: Macrons Präsidentenmehrheit liegt mit 28% knapp vor Jean-Luc Mélenchons Nupes (27%), gefolgt von Marine Le Pens "Rassemblement national" (21%), so die letzte Umfrage von Ipsos/Cevipof für Le Monde vom 23. Mai. Allerdings bleibt unklar, ob das Wahlbündnis Ensemble die absolute Mehrheit mit 289 Abgeordneten stellen wird.
Um eine mögliche Kohabitation zu vermeiden, also das Zusammenspiel eines französischen Präsidenten aus einer politischen Familie, der wegen fehlender Regierungsmehrheit in der Assemblée Nationale einen Premierminister oder Premierministerin der Opposition benennt, schickt „Ensemble“ gemeinsame Kandidaten mit François Bayrous MoDem und Édouard Philippes Horizons ins Rennen, mit dem Ziel, eine Mehrheit in der Nationalversammlung zu erreichen.
Es ist davon auszugehen, dass sich Nupes als starke Oppositionskraft in der französischen politischen Landschaft etablieren wird; wie nachhaltig dieser Zusammenschluss ausfällt, ist allerdings noch unklar. Mit Blick insbesondere auf einige der europapolitischen Vorstellungen der linken Gruppierung ist nur zu hoffen, dass eine Kohabitation verhindert werden kann.
Auch wenn Macrons Europakonzepte, die in der neuen Studie des Brüsseler Büros der Naumann-Stiftung aufgearbeitet werden, eher von Kontinuität als von weiterer Disruption geprägt sein werden, gibt es in den kommenden Monaten und Jahren genug zu tun und bereits ausreichend Ideen, wie die Europäische Union in ihrer demokratischen Verfasstheit und Handlungsfähigkeit weiterentwickelt werden kann. So sehen die 325 Ideen, die im Abschlussbericht zur Konferenz zur Zukunft Europas, einem einjährigen Bürgerdialog, am Europatag des 9. Mai zusammengetragen wurden, etwa die Schaffung von transnationalen Listen (die schon in Planung sind), einem möglichen Initiativrecht des Europäischen Parlaments, Subventionen für mehr biologische Landwirtschaft, die Absetzung des Wahlalters auf 16 Jahre, eine verbesserte digitale Bildung und die Einstimmigkeit in der Außen-und Sicherheitspolitik vor. Mehr als genug Stoff, den es nun in konkrete politische Maßnahmen und Initiativen zu gießen gilt, für die sich der französische Präsident zusammen mit Deutschland und seinen europäischen Partnern einsetzen wird und dabei auch nicht vor teils nötigen Vertragsänderungen zurückschreckt.
Jeanette Süß ist European Affairs Managerin im Regionalbüro „Europäischer Dialog“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Brüssel und leitet dort die Frankreich-Aktivitäten.