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Serbien
Wer Gewalt sät

Zwei Bluttaten erschüttern Serbien und bringen hunderttausende Menschen gegen die allgegenwärtige Gewalt auf die Straße. Erstmals scheint das Regime von Präsident Aleksandar Vučić verwundbar.
Menschen versammeln sich am 3. Mai 2023 in der Nähe des Ortes einer Schießerei in einer Schule in Belgrad, Serbien.

Menschen versammeln sich am 3. Mai 2023 in der Nähe des Ortes einer Schießerei in einer Schule in Belgrad, Serbien. Die serbische Regierung hat drei Tage der Trauer ausgerufen, nachdem ein bewaffneter Jugendlicher am Mittwochmorgen in einer Grundschule in Belgrad neun Menschen getötet und sieben verletzt hat.

Als am 3. und 4. Mai  bei zwei Amokläufen insgesamt 18 zumeist junge Menschen ihr Leben verloren, stand Serbien unter Schock. Ermutigt durch die Bluttat eines 13jährigen, der tags zuvor neun Schülerinnen und Schüler sowie einen pensionierten Wachmann in Belgrad ermordet hatte, tötete ein 21jähriger nur einen Tag später weitere acht junge Menschen in zwei Dörfern südlich der Hauptstadt. Einen derartigen Gewaltausbruch hatte es seit den Kriegen in den 1990er Jahren nicht mehr gegeben; Menschen rangen mit ihrer Wut und Trauer, das gesamte Land rang um Fassung.

Während die Menschen in Serbien aufrichtig Anteil am Schicksal der Getöteten nahmen, verfiel die Presse wie üblich dem Sensationsjournalismus: umgehend wurden in den Medien nicht nur Name und Foto des 13jährigen Täters veröffentlicht, sondern auch seine „Abschussliste“ mit Klarnamen der Mitschülerinnen und Mitschüler. Präsident Aleksandar Vučić missachtete mehrere Gesetze zum Schutz der Privatsphäre, als er Details aus der Krankengeschichte des Jungen preisgab, nur um wenig später über die Wiedereinführung der Todesstrafe zu sinnieren. Für die Regierung war der Fall klar: auf der ersten Pressekonferenz nach dem Schulmassaker gab Bildungsminister Branko Ružić „westlichen Werten“ die Schuld. Er erklärte, die serbische Gesellschaft müsse sich entscheiden, inwieweit sie westliche Verhaltensweisen akzeptieren wolle.

In der Vergangenheit war Vučićs Serbische Fortschrittspartei (SNS) gut damit gefahren, von tatsächlichen Problemen abzulenken, indem sie die nationalistische Klaviatur bespielte. Diesmal jedoch wandelte sich die Anteilnahme in gesellschaftlichen Protest: Unter dem Motto „Serbien gegen Gewalt“ fanden sich drei Tage nach den Bluttaten mehrere zehntausend Menschen zu Schweigemärschen für die achtzehn Opfer in Belgrad und Novi Sad, der zweitgrößten Stadt Serbiens, ein. Schnell wurde klar, dass es um mehr ging als um zwei Massaker: um die allgegenwärtige Gewalt in der serbischen Gesellschaft und ihre Akzeptanz durch Regierung und die ihr gewogenen Medien.

Ein Graffiti in Belgrad, das den Kriegsverbrecher Ratko Mladić als Helden verherrlicht.

Ein Graffiti in Belgrad, das den Kriegsverbrecher Ratko Mladić als Helden verherrlicht.

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Gewalt und Aggression sind omnipräsent

Tagtäglich erwecken serbische Medien den Anschein, als sei Gewalt ein akzeptables Mittel zur Durchsetzung von Interessen. Ein dutzend Boulevardblätter schwadronieren unablässig über reale oder fiktive Gewalt und Bedrohung – so stellte eine Studie vor einigen Jahren fest, dass allein die beiden größten Boulevardzeitungen des Landes innerhalb eines Jahres nicht weniger als 265 Mal einen Krieg mit Kosovo ankündigten. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine erklären und verklären pro-russische TV-Sender täglich in stundenlangen Livesendungen den Angriffskrieg als legitimes Mittel Russlands zur Selbstverteidigung. Die Medien, und mit ihnen die serbische Gesellschaft, sind fasziniert von Gewalttätern: so erhielt ein wegen mehrfachen Mordes verurteilter Mafiaboss nach seiner Freilassung jüngst eine eigene TV-Talkshow. Und fast täglich verunglimpft der Präsident live und zur besten Sendezeit kritische Journalisten und Oppositionelle, die für ihn Staatsfeinde und Volksverräter sind.

Mehr und mehr Menschen in Serbien wird klar, dass es gerade um nichts Geringeres als die Verrohung der serbischen Gesellschaft geht. Unterhält man sich mit Menschen auf der Straße, schreiben nicht wenige von ihnen die Brutalisierung des öffentlichen Diskurses der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) um ihren Vorsitzenden Vučić zu. So verspüren Bürgerinnen und Bürger eine Ohnmacht gegenüber einem Staat, in dem man oftmals allein durch Geld oder Beziehungen zu seinem Recht kommt. Im „Global Organized Crime Index“ rangiert Serbien bezüglich organisierter Kriminalität auf Platz zwei in Europa und wird allein von Russland übertroffen. Korruption ist allgegenwärtig, sei es im großen Stil im Bauwesen oder alltäglich beim Arztbesuch. Wer Verbindungen zum Regime hat, ist geschützt. Und bedient sich. Vom Handwerker bis zum Mafiaboss.

Die gesellschaftliche Verrohung zeigt sich auch im Alltag: seit Anfang des Jahres wurden in Serbien bereits achtzehn Frauen und Mädchen von ihren Partnern ermordet. Seit Jahren duldet die Regierung hunderte von Graffitis im öffentlichen Raum, in denen der Kriegsverbrecher und Urheber des Völkermords von Srebrenica Ratko Mladić als „serbischer Held“ verherrlicht wird. Die autokratisch-populistische SNS pflegt enge Verbindungen zu nationalistischen Schlägertrupps, die dafür sorgen, dass Bürgerinnen und Bürger Gewalt und Einschüchterung hinzunehmen haben. Das Gewaltmonopol, es liegt schon lange nicht mehr beim Staat, sondern bei der ihn vereinnahmenden Partei.

Während sich Regierungsvertreter über die Demonstrierenden lustig machen und sie als Hyänen und „Serbien-Hasser“ beschimpfen, versuchen die marktbeherrschenden regierungstreuen Medien die friedlichen Proteste kleinzureden. Als sich am darauffolgenden Wochenende erneut zehntausende Menschen zu einer Massendemonstration in Belgrad einfinden und wichtige Brücken blockieren, schreibt das Boulevardblatt „Informer“ von „einigen hundert Chaoten“, die unbescholtene Bürgerinnen und Bürger belästigt hätten. TV-Sender zeigen Luftaufnahmen von versprengten Kleingruppen, die offenkundig Stunden zuvor aufgenommen wurden. Als die Größe der Proteste auch dank sozialer Medien nicht mehr zu leugnen ist, macht Premierministerin Ana Brnabić in bester autokratischer Manier „ausländische Mächte, die Serbien zerstören wollten“, für die Proteste verantwortlich.

Auch EU- und NATO-feindliche Botschaften sieht man überall im Stadtbild.

Auch EU- und NATO-feindliche Botschaften sieht man überall im Stadtbild.

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Showdown am Wochenende

Am vergangenen Freitag kommen in Belgrad seriösen Schätzungen zufolge bis zu 300.000 Menschen zur bisher größten Demonstration zusammen, um ein Ende von Gewalt und Hassrede in Medien und Politik zu fordern. Derart große Zusammenkünfte hat Serbien zuletzt vor dreißig Jahren beim Sturz Slobodan Miloševićs gesehen. Und in diese Zeit scheint die Auseinandersetzung zurückzufallen: so hat Präsident Vučić für kommenden Freitag eine „große nationale Versammlung“ zur Unterstützung der SNS-Regierung mit über einer Million Teilnehmenden angekündigt. Es wird kolportiert, die Partei habe landesweit über 2.200 Busse angemietet, um Parteigänger und Angestellte des öffentlichen Dienstes nach Belgrad zu bewegen. Jeder scheint jemanden zu kennen, der von seinem regierungsnahen Arbeitgeber genötigt wird, an den regimetreuen Protesten teilzunehmen. Regierungskritische Organisationen wie der FNF-Partner CRTA sammeln bereits eingehende Beschwerden.

Auf den regierungskritischen Kundgebungen sieht man hingegen kaum Parteisymbole. „Die Proteste sind politisch, aber sie sind nicht parteipolitisch“, sagt Pavle Grbović, Vorsitzender der liberalen Partei „Bewegung Freier Bürger“ (PSG). „Sie sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Gefühls, nicht von parteipolitischen Meinungen. Die Menschen sind wegen des grassierenden Unrechts auf die Straße gegangen, und gegen eine ihre legitimen Interessen verhöhnende Regierung.“

Die Menschen, die für ein freies und weltoffenes Serbien auf die Straße gehen, sind entschlossen, ihren Protest weiterzuführen, egal wie viele Landsleute das Regime am Freitag auffährt. Für Samstag ist die nächste Demonstration von „Serbien gegen Gewalt“ geplant. Erstmals seit vielen Jahren scheint Aleksandar Vučić, der populistisch regierende Präsident, das Gespür für die Stimmung auf der Straße verloren zu haben. Als ehemaliger Informationsminister von Slobodan Milošević erlebte er im Jahr 2000 hautnah mit, wie Serbinnen und Serben seinen damaligen Chef mit Massendemonstrationen aus dem Amt jagten. Damals gingen die Menschen wegen wirtschaftlicher Sorgen auf die Straße, heute aufgrund der fragwürdigen Meinungsmache ihrer Regierung, die offenbar keine moralische Grenze kennt. Aleksandar Vučić ist angeschlagen. Doch angeschlagene Autokraten sind unberechenbar.

Markus Kaiser ist Projektleiter für den Westbalkan für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Belgrad.