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Gesellschaft
Interview: Warum wählen junge Leute die AfD?

Die Shell Jugendstudie 2019 zeigt: Die Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland ist empfänglich für populistische Parolen
Klaus Hurrelmann

Prof Dr. Klaus Hurrelmann

© Hertie School of Governance

Klaus Hurrelmann ist einer der bekanntesten Bildungsforscher Deutschlands. Seit 2009 ist er Inhaber des Lehrstuhls für „Public Health and Education“ an der Hertie School of Governance. Im Interview spricht er über den Erfolg der AfD unter jungen Menschen bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen – und ob wir bei künftigen Wahlen in westdeutschen Bundesländern mit ähnlichen Ergebnissen rechnen müssen.

Wahlergebnis Sachsen

Wahlverhalten der 18-24-Jährigen bei den Landtagswahlen in Sachsen

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

 

Herr Hurrelmann, bisher wurden Wahlerfolge der AfD häufig auf die Angst und den Zorn alter, weißer Männer zurückgeführt. Die Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen ergaben ein anderes Bild: Überraschend viele junge Menschen haben für die AfD gestimmt. Worauf ist dieses Abstimmungsverhalten zurückzuführen?

Ein Großteil der jungen Leute hat zum ersten Mal gewählt und sich entsprechend ungebunden gefühlt. Sie sind thematisch interessiert und beurteilen die Angebote der Parteien anhand ihrer individuellen Bedürfnisse. Wir nehmen dabei zur Kenntnis, dass die Parteien, die unter den unterschiedlichen Gruppen junger Leute erfolgreich waren, nicht mehr allein auf der linken oder rechten Seite des Koordinatenkreuzes liegen.  

So stehen heute die Grünen, die ökologisch orientiert sind, die Weltoffenheit, Toleranz, Vielfalt und Diversität ins programmatische Zentrum stellen, der AfD gegenüber, die wiederum Nationalismus, autoritäre Sicherheit und Homogenität verspricht. Offensichtlich fühlen sich die größten Gruppen unter den jungen Leuten von diesen Polen angezogen. Die traditionellen Volksparteien haben das Nachsehen.

Wie ist es dazu gekommen?

Die AfD hat im Wahlkampf Themen angesprochen, die für junge Leute von besonderer Bedeutung sind, beispielsweise wirtschaftliche und soziale Ängste. Recherchen zeigen, dass es mehrheitlich junge Männer sind, die sich ob ihrer beruflichen und sozialen Perspektive unsicher fühlen. Hier liegt also ein inhaltlicher Schwerpunkt der jungen Wähler, die sich bei den Wahlen entsprechend geäußert haben. Nüchtern betrachtet hat die AfD also Themen angesprochen, die einen großen Teil der jungen Leute ganz besonders interessieren: Die Unsicherheit des Arbeitsplatzes und der Lebenssituation und somit auch das Lebensgefühl vieler junger Menschen.

Ist der starke Zuspruch für rechtspopulistische Positionen ein spezifisch ostdeutsches Problem, oder werden wir auch bei Wahlen in westdeutschen Bundesländern künftig starke Wahlergebnisse der AfD unter jungen Menschen erwarten müssen?

Darauf müssen wir uns einrichten. Das beschriebene Wahlverhalten ist kein spezifisch ostdeutsches Phänomen. Im Westen existieren ähnliche Ausgangskonstellationen: Angst vor dem wirtschaftlichen und sozialen Abstieg. Sorge, die Nachbarschaft könne sich verändern und man fühle sich dort nicht mehr wohl. Das sind auch unter jungen Wählern in westdeutschen Bundesländern wichtige Themen. 

Es gibt allerdings eine Besonderheit in den neuen Bundesländern: In Studien stellen wir regelmäßig fest, dass die durchschnittliche ostdeutsche Bevölkerung unzufriedener mit der real existierenden gesellschaftlichen Situation ist. Das Gefühl, im wiedervereinigten Deutschland nie richtig angekommen zu sein, dass man kolonialisiert wurde und sich nicht frei entfalten konnte, ist weiterhin vorhanden. Und entgegen aller Vermutungen, die auch ich hatte, ist dieses Gefühl in der Familientradition vieler ehemaliger DDR-Bürger stark verankert. Durch das Elternhaus und die starke familiäre Bindung, kann sich im Osten also eine noch größere politische Dynamik entfalten, als es in westlichen Bundesländern der Fall ist. 

Wahlverhalten der 16-24-Jährigen bei den Landtagswahlen in Brandenburg

Wahlverhalten der 16-24-Jährigen bei den Landtagswahlen in Brandenburg

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Die Wahlergebnisse in Brandenburg und Sachsen haben gezeigt, dass die Regierungsparteien CDU und SPD vor allem von älteren Menschen gewählt werden. Junge Wählerinnen und Wähler wenden sich der AfD und den Grünen zu. Sind sie die Volksparteien der Zukunft? Können die anderen Parteien junge Wählergruppen noch erreichen und wenn ja, wie? 

Ja, das können sie. Die Grünen und die AfD haben derzeit einen entscheidenden Vorteil: Sie sprechen Themen an, die für junge Leute eine große Bedeutung haben. Daran müssen sich andere Parteien orientieren und urdemokratisch ermitteln, welche thematischen Präferenzen und Interessen ihre potenziellen Wählerinnen und Wähler haben.

Junge Wähler möchten wissen, was sie wählen; sie möchten ein klares Programm sehen. Die Grünen werden als Partei für Umwelt- und Klimaschutz wahrgenommen, die AfD als Partei für wirtschaftliche, öffentliche und soziale Sicherheit. Das sind die beiden meist diskutierten Themen der aktuellen gesellschaftlichen Debatte. Die Positionen der anderen Parteien bleiben unklar. Sie müssen thematische Schwerpunkte suchen, mit denen Sie die jungen Leute ebenfalls erreichen können. Einen weiteren Vorteil, den Grüne und AfD auf ihrer Seite haben, ist ihr Anschluss an Bewegungen, der einer Partei einen besonderen Dreh geben kann. 

Wie zeigt sich das?

Sie werden nicht mehr nur als eine bürokratische Großorganisation wahrgenommen, in der Funktionäre arbeiten, sondern von einer Basisbewegung gestützt. Der Partei bringt dieser Anschluss eine ungeheure Aktivität, die sich an der gestiegenen Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen ablesen lässt. Den beiden großen traditionellen Parteien, CDU und SPD, die den Anspruch haben, Volksparteien zu sein, fehlt eine solche Basisbewegung. Aber auch darüber müssen die Parteispitzen nachdenken: Gibt es nicht Möglichkeiten, eine Bewegungskomponente – beispielsweise zum Thema „soziale Ungerechtigkeit“ – zu aktivieren?

Solche Aktivitäten sind es, die Parteien sichtbar machen und ihnen ein Gesicht geben – immer in Korrespondenz mit den aus der Forschung und Befragung der Zielgruppen zu ermittelnden Wünschen und Präferenzen der Menschen unter 30. So können Parteien deutlich machen, dass sie sich auch für junge Generationen interessieren, sie ansprechen und in Zukunft auf sie angewiesen sein werden.

Schließlich spielen auch die Kommunikationskanäle eine zentrale Rolle: Die AfD hat eine der modernsten Kommunikationsstrukturen überhaupt. Sehr digital, sehr schnell. Davon müssen die anderen Parteien lernen, statt nur darüber zu meckern, dass ihnen Stimmen verloren gehen. Die traditionellen Parteien äußern – zu Recht – ständig Bedenken über das nationalsozialistische Gedankengut in der AfD. Die jungen Leute äußern diese Bedenken jedoch nicht. 

Und das ist ein großes Problem: Das von Ihnen angesprochene nationalsozialistische Gedankengut wird in der AfD teils offen vertreten. Auch die Verbindung zu rechtsextremen Netzwerken sind bekannt. Wenn junge Menschen diese Tatsachen nicht in den Vordergrund ihrer Wahlentscheidung stellen oder vielleicht nicht ernst genug nehmen, hat dann unser Bildungssystem hinsichtlich politischer, demokratischer Bildungsarbeit nicht vollends versagt?

Tatsächlich scheint dieser nationalsozialistisch-autoritäre Zug der AfD viele junge Leute nicht abzuschrecken. Im Gegenteil: Sie nehmen es bewusst in Kauf und halten es nicht für besonders problematisch. Ja, da klingeln auch bei mir als politischem und pädagogischem Beobachter alle Alarmglocken. Wenn die Tragweite solcher Positionen jungen Leuten nicht klar ist und das Gefühl dafür fehlt, dass demokratisch erarbeitete Strukturen in Gefahr geraten können, haben wir ein großes Problem. Hier stehen wir vor einer immensen Herausforderung für die öffentliche, aber auch für die schulische Informationsarbeit. Demokratie vorleben, trainieren und umsetzen: in allen diesen Bereichen müssen wir aktiver werden.