Industriepolitik
Augen auf bei der Industriepolitik
Dieser Essay ist aus der Liberal 2/23, die Anfang April erscheint.
Eigentlich bräuchte es in diesen Zeiten den größtmöglichen Schulterschluss unter den transatlantischen Partnern. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Systemwettbewerb mit autoritären Regimen erfordern eine starke transatlantische Allianz. Doch in den vergangenen Monaten hat sich die Sorge um einen drohenden Handelskrieg zwischen der EU und den Vereinigten Staaten in den Hauptstädten Europas breitgemacht. Grund ist der Inflation Reduction Act (IRA), ein umfassendes Gesetzespaket, das der US-Kongress im August 2022 beschlossen hat: Der IRA stellt in den kommenden Jahren rund 369 Milliarden US-Dollar Subventionen für klimafreundliche Produkte und Technologien in Aussicht. In Europa wird befürchtet, dass die Förderung zu Wettbewerbsnachteilen führt, weil sie auf nordamerikanische Produktion beschränkt ist.
Revival der Industriepolitik
Nicht nur aufgrund des IRA kehrt die Industriepolitik auf beiden Seiten des Atlantiks in den Mittelpunkt wirtschaftspolitischer Debatten zurück. Dabei versuchen die Verantwortlichen in Washington und Brüssel mithilfe staatlicher Interventionen Produktion und Investitionen in zentrale Industriesektoren auf die Bekämpfung des Klimaschutzes und auf den geopolitischen Systemwettbewerb auszurichten. In Amerika ist die staatliche Förderung von Innovation in bedeutenden Sektoren nicht neu. Dabei unterscheidet sich der amerikanische marktbasierte Ansatz allerdings deutlich von dem in staatskapitalistischen Staaten wie China, in denen gezielt Unternehmen gefördert werden.
In den USA werden Mittel für Forschung und Entwicklung für eine breite Anzahl an Unternehmen und Forschungsinstitutionen bereitgestellt, die dann weitere private Investitionen in die Technologien und Bereiche nach sich ziehen sollen, die aus Sicht des Marktes am vielversprechendsten sind. Neu und vorerst nur auf staatliche Ausschreibungen beschränkt ist allerdings die Subventionierung entlang einer heimischen Wertschöpfungskette. Der IRA bindet die Förderung klimafreundlicher Technologien wie zum Beispiel Elektroautos teilweise an eine möglichst inländische Produktion. Damit soll verhindert werden, dass etwa die Wind- und Solarindustrie in China von der amerikanischen Förderung profitiert.
Während die Sorge vor einer wachsenden Abhängigkeit von staatskapitalistischen Autokratien berechtigt ist, können die Nebeneffekte einer solch protektionistisch ausgerichteten Industriepolitik verheerend sein. Denn nicht nur Produkte aus China unterliegen den Beschränkungen, auch Unternehmen, die in Europa innovative und klimafreundliche Technologien produzieren, könnten von der Förderung ausgeschlossen werden. Der Jones Act, ein US-Gesetz aus dem Jahr 1920, das vorschreibt, dass nur Schiffe aus amerikanischer Produktion Güter zwischen US-Häfen transportieren dürfen, dient hier als mahnendes Beispiel. Eine solche, auf Autarkie abzielende Förderung geht zulasten von Effizienz. Letztendlich leiden die Verfügbarkeit und die Qualität von Schiffen, weil Marktgröße, verfügbare Ressourcen und damit Wettbewerb beschränkt werden.
Binnenmarkt zukunftsfit machen
Auch in Europa wird Industriepolitik betrieben, um die ökologische Transformation voranzutreiben. Programme wie Next Generation EU oder Repower EU stellen Milliardenbeträge für Investitionen in klimafreundliche Technologien und den Ausbau der Infrastruktur zur Verfügung. Insofern erscheint die Kritik aus Europa an dem amerikanischen Klimaschutzprogramm bei genauerer Betrachtung zumindest in Teilen scheinheilig. Bislang verzichtet die EU allerdings auf protektionistische Elemente in der Förderung. Und sie ist gut beraten, dabei zu bleiben. Stattdessen muss die EU auf ihren wichtigsten Innovationstreiber setzen: den Binnenmarkt. Durch seine Marktgröße, seine Vielfalt und eine funktionierende Wettbewerbsordnung bietet er ideale Bedingungen, um mit den richtigen Investitionen auch für die Zukunft globale Standards zu setzen und klimafreundliche Innovationen voranzutreiben.
Umso fataler wäre es, wenn die EU jetzt mit Ausnahmen und der Aussetzung von Regeln nicht nur einen Subventionswettlauf begänne, sondern auch den Wettbewerb gefährdete. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten leiden europäische Märkte weniger unter der Marktkonzentration, die einige Branchen lähmt, wie der Ökonom Thomas Philippon in seinem Buch „The Great Reversal“ konstatiert.
Aber auch der Binnenmarkt ist noch nicht perfekt. Um mehr Investitionen auszulösen, vor allem aber neue Technologien marktreif zu machen, braucht es endlich die Verwirklichung der Kapitalmarktunion. Damit Europa im Wettbewerb um Talente nicht von China und den USA abgehängt wird, muss die Mobilität innerhalb Europas und die von Fachkräften aus anderen Staaten nach Europa verbessert werden. In Deutschland scheint es bei einem modernen Einwanderungsrecht endlich Bewegung zu geben. In Zeiten des Fachkräftemangels werden die Attraktivität und der klar wie einfach geregelte Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt zu den wichtigsten Standortbedingungen gehören. Im Energiebereich bedarf es mehr Engagements der EU, um die Vision eines europäischen Stromnetzes (der „europäischen Kupferplatte“) zu verwirklichen. Ein komplett vernetzter Energiebinnenmarkt kann einen erheblichen Beitrag zur Grundlastfähigkeit erneuerbarer Energien und damit zum Klimaschutz leisten.
Gleichzeitig bedarf es auch weiterhin einer marktorientierten Förderung von Forschung und Entwicklung, mit der die EU mehr Investitionen in klimafreundliche Technologien lenkt. Dafür muss aber auch Technologieoffenheit ein zentrales Prinzip der europäischen Klimainvestitionspolitik werden. Nicht Verbote und Subventionen schaffen Wettbewerbsfähigkeit und Technologieführerschaft, sondern kluge Köpfe und ein gutes Investitionsklima. Genauso wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit und den Klimaschutz wird aber eine bessere Abstimmung zwischen Brüssel und Washington.
Engere transatlantische Koordinierung
Wenn das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP nicht vor knapp zehn Jahren an irrationalen Bedenken gegenüber Chlor-Hähnchen gescheitert wäre, würde die Aufregung um den IRA vermutlich deutlich geringer ausfallen. Die Förderung aus dem IRA beinhaltet nämlich eine Ausnahme für die Produktion aus Ländern, mit denen die USA bereits ein Freihandelsabkommen haben. Ein Senator, der für den IRA gestimmt hat, gab später zu, er sei davon ausgegangen, dass die EU und die USA längst ein solches Abkommen hätten. Höchste Zeit also, endlich in den transatlantischen Handelsbeziehungen voranzukommen.
Doch nicht nur das spricht für einen neuen Anlauf eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und den USA. Insgesamt leidet die Schlagkraft der größten demokratischen Wirtschaftsräume an einer besseren Abstimmung. Der EUUS Trade and Technology Council ist genau dafür geschaffen worden und hat schon sichtbar zur Verbesserung der Handelsbeziehungen geführt. Die Biden-Regierung hat bereits auf die europäischen Bedenken zum IRA reagiert und eine US-EU Task Force im Weißen Haus eingerichtet, die dafür sorgen soll, dass europäische Unternehmen nicht bei Förderprogrammen diskriminiert werden. Die transatlantischen Partner sollten auf politische Abstimmung und unternehmerischen Wettbewerb setzen. Protektionismus hat da keinen Platz.
Sven Hilgers ist Referent für Globalisierung, Freihandel und Marktwirtschaft bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Berlin.