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Nahostkonflikt
Internationaler Strafgerichtshof: Anträge auf Haftbefehle gegen Netanjahu und Galant

IStGH-Chefankläger Karim Khan beantragt Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant.

IStGH-Chefankläger Karim Khan beantragt Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant.

© picture alliance / newscom | International Criminal Court (IC

Wir haben unsere Experten, Dr. Michaela Lissowsky, Leiterin des Human Rights Hub in Genf und Kristof Kleemann, Leiter des Büros in Jerusalem, befragt. Sie ordnen die Anträge auf Haftbefehle gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und dessen Verteidigungsminister Joav Galant ein.

Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH), gegründet 1998, wird von 124 Staaten getragen. Deutschland ist einer der Hauptunterstützer des IStGH. Grundsätzliches vorab: Mit der Beantragung von Haftbefehlen ist weder ein Haftbefehl erlassen noch ein Urteil gesprochen. Die vom britischen Chefankläger Karim Khan erhobenen Vorwürfe gegen Netanyahu und Galant betreffen vor allem die angeblichen Kriegsverbrechen des Aushungerns von Zivilisten als Methode der Kriegsführung und zielgerichtete Angriffe gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen.

Warum kann der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) überhaupt dazu ermitteln, Israel hat das Römische Statut nie unterzeichnet?

Dr. Michaela Lissowsky: Die Palästinensischen Gebiete haben bereits 2015 eine Erklärung unter Artikel 12(3) des Römischen Statuts abgegeben und damit die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs akzeptiert. Palästina ist damit ein Staat im Sinne des Statuts des IStGH und dessen Jurisdiktion unterworfen. Dadurch kann der IStGH auch gegen israelische Staatsangehörige ermitteln. Alleine das wäre bereits ein ausreichender rechtlicher Grund. Hinzu kommt, dass fünf Vertragsstaaten des Römischen Statuts im November 2023 die Situation in Gaza gezielt an die Anklagebehörde überwiesen haben. Daraufhin erklärte der Chefankläger Kahn seine Zuständigkeit auch für den Auslöser des Krieges: den Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023, einhergehend mit massiven Verbrechen an israelischen Zivilisten. Der Chefankläger ermittelt zu diesem Zeitpunkt in alle Richtungen. Es geht aus meiner Sicht in der aufgeheizten Debatte immer wieder unter, wie dieser Krieg entstanden ist, wodurch er ausgelöst wurde: nämlich die massiven Gewaltakte, Geiselnahmen und grausamen sexualisierten Gewaltverbrechen an Frauen und Mädchen durch die Hamas. Es muss die Frage erlaubt sein, warum die Anträge auf Haftbefehle gegen die Hamas-Führer nicht schon vor Monaten erfolgt sind.

Wie wurde die Entscheidung von Chefankläger Karim Khan, einen Haftbefehl gegen Premierminister Netanjahu und Verteidigungsminister Galant zu beantragen, in Israel aufgenommen?

Kristof Kleemann: In Israel wurde man von der Entscheidung des Chefanklägers völlig überrascht und die Art und Weise der Ankündigung in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender CNN empfanden viele als unangemessen. Die Knesset verabschiedete am Dienstag prompt einen überfraktionellen Antrag mit 106 der 120 Stimmen, in dem deutlich gemacht wurde, dass sich Israel in einem gerechten Krieg gegen die Hamas befindet. Zwar übt die Opposition immer wieder Kritik an der Kriegsführung und vor allem an der Tatsache, dass die Regierung immer noch keinen Plan für die Zukunft des Gazastreifens erarbeitet hat. Bei diesem Thema steht das Land zusammen. Auch weil das Gefühl zunimmt, Israel stehe international am Pranger.

Was sind die wesentlichen Kritikpunkte an der Entscheidung des Chefanklägers, die in Israel vorgebracht werden?

Kristof Kleemann: Gerade die gefühlte Gleichstellung zwischen dem Verbrechen der Hamas und dem israelischen Vorgehen im Gazastreifen wird extrem kritisch gesehen. Auch die Geiselfamilien veröffentlichten dazu eine eindeutige Erklärung. Allerdings gibt es auch viele weitere Punkte der Kritik. Zum einen das Rechtsprinzip der Komplementarität. Nach diesem Prinzip handelt der IStGH nur in Fällen, in denen ein Staat nicht willens bzw. nicht in der Lage ist, selber zu handeln. Dass der Chefankläger dies nun nach nur 7 Monate als gesichert annimmt, wird von Experten in Israel zurückgewiesen. Derzeit läuft zum Beispiel eine Petition von Menschenrechtsorganisation in Israel beim Obersten Gerichtshof, um die Regierung dazu zu zwingen, Hilfslieferungen in den Gazastreifen zu verstärken. In diesem Verfahren könnte der Oberste Gerichtshof auch eine Nebenklage gegen die politischen Verantwortlichen anstrengen.

Zum anderen zweifeln einige Rechtsgelehrte die Zuständigkeit des IStGH in diesem Fall an. Schließlich war die Entscheidung, Palästina als „Staat“ im Sinne des Römischen Statuts anzusehen, umstritten. Auch die Bundesregierung war damals der Auffassung, dass Palästina „derzeit keine Staatlichkeit“ habe und der IStGH in den palästinensischen Gebieten somit keine Zuständigkeit habe. Selbstverständlich wird aber auch die grundsätzliche Annahme, Israel würde Hunger als gezieltes Kriegsmittel einsetzten, als falsch zurückgewiesen.

Handelt es sich denn tatsächlich um eine rechtliche Gleichsetzung von Hamas und der israelischen Führungsriege?

Dr. Michaela Lissowsky: Hier ist zwischen der öffentlichen Wahrnehmung und der rechtlichen Bewertung zu unterscheiden. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde in den letzten Tagen ja der Vorwurf der Gleichsetzung von verschiedenen Seiten, auch von deutschen Bundestagsabgeordneten, geäußert. Aus rechtlicher Sicht nimmt der IStGH mit der gleichzeitigen Ankündigung jedoch keine Gleichsetzung vor. Gleichzeitigkeit bedeutet nicht Gleichsetzung.

Chefankläger Khan hat sich zu dem Vorwurf mit dem Verweis auf die zivilen Opfer geäußert. Gleichgesetzt werden im internationalen Recht die zivilen Opfer, denn für Opfer bewaffneter Konflikte spielt der nationale, religiöse oder sonstige Hintergrund keine Rolle. Dem Vorwurf, in der öffentlichen Wahrnehmung einen anderen Eindruck erweckt zu haben, wird sich der IStGH aber stellen müssen.

Kristof Kleemann: Ja, genau das ist der Punkt. In der Öffentlichkeit wird das so wahrgenommen und die politische Signalwirkung dieser Entscheidung ist aus meiner Sicht problematisch. Und dass der Chefankläger das oben genannte Prinzip der Komplementarität einfach so weggewischt hat, kommt noch hinzu.

Gibt es Gefahren für das internationale Völkerrecht, die sich ergeben, sollte den Haftbefehlen stattgegeben werden?

Dr. Michaela Lissowsky: Nein. Ganz im Gegenteil, für Israel ist es eine Gelegenheit zu zeigen, dass es gemäß Artikel 17 Römisches Statut „willens und in der Lage ist“, selbst „ernsthaft“ Ermittlungen durchzuführen und etwaige Verstöße gegen das Humanitäre Völkerrecht zu untersuchen. Glaubhafte Ermittlungen in Israel selbst würden dem IStGH nämlich die Zuständigkeit entziehen. Kristof hat ja eben schon von dem Verfahren am Obersten Gerichtshof berichtet, das ist ein glaubhafter Ansatz für die funktionierende Gerichtsbarkeit Israels. Eine erste Gelegenheit zu demonstrieren, dass Israel ein Rechtsstaat ist, wird es vermutlich bald in einer Anhörung vor der Vorverfahrenskammer des IStGH geben. Darüber hinaus muss Israel alles unternehmen, um sich an das Humanitäre Völkerrecht in Gaza zu halten.

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Dr. Michaela Lissowsky ist Direktorin des Human Rights Hub der Friedrich-Naumann-Stiftung in Genf. Zuvor hat sie die Abteilung Globale Themen der Stiftung in Berlin geleitet und ist daher mit der internationalen Arbeit bestens vertraut. Sie hat am Opferfonds des Internationalen Strafgerichtshof geforscht und zum Menschenrecht auf Reparationen nach internationalen Straftaten promoviert. Als Gründungsdirektorin hat sie die Internationale Akademie Nürnberger Prinzipien aufgebaut und den Nuremberg Moot Court entwickelt, einen juristischen Wettbewerb für internationale Studenten und Studentinnen.

Kristof Kleemann leitet seit September 2023 das Jerusalemer Büro der Friedrich Naumann Stiftung für die Freiheit. Nach seinem Studium in Maastricht und Berlin arbeitete er im Bundeskanzleramt in der Abteilung für europäische Angelegenheiten. Von 2010-2019 war er in verschiedenen Positionen im Europäischen Parlament tätig, bevor er 2019 zur Stiftung wechselte. In den letzten Jahren leitete das Büro der Stiftung in Beirut und war dort für den Libanon und Syrien zuständig.