Israel
Russland und Iran als neue Achse gegen den Westen
Während viele Staats- und Regierungschefs der Welt den barbarischen Anschlag vom 7. Oktober deutlich verurteilten, hat Russland darauf demonstrativ verzichtet. Gleichzeitig verschärfte Moskau die eigene Rhetorik gegenüber Israel und sieht den Konflikt als willkommene Ablenkung vom eigenen Angriffskrieg auf die Ukraine. Im Interview erklärt Arkady- Mil-Man, Russland-Experte des israelischen Think-Tanks Institute for National Security Studies (INSS), die Auswirkungen des Angriffs auf die russisch-israelischen Beziehungen, die Rolle Russlands im Nahen Osten und warum der Westen seine Politik zum Iran neu denken muss.
Wie beschreiben Sie die neue Realität, die sich seit dem 7. Oktober in der Region entwickelt? Was hat sich verändert? Was muss sich ändern?
Der brutale Angriff auf Israel am 7. Oktober hat zu dramatischen Veränderungen im Land geführt. Israel erlebte einen rücksichtslosen Angriff extremistischer islamistischer Terroristen, der viele israelische Bürger durch seine Grausamkeit schockierte und das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung erschütterte. Jetzt muss man in Israel gründlich untersuchen, wie ein solcher Angriff überhaupt stattfinden konnte, und dann die Politik entsprechend anpassen.
Die gesamte Region wurde Zeuge der Folgen von radikalem Islamismus, und es muss zu Veränderungen in der Region kommen. Die Existenz terroristischer Gruppen im Nahen Osten ist nicht länger hinnehmbar. Diese Terrororganisationen stellen nicht nur eine Bedrohung für Israel, sondern für die gesamte freie Welt dar.
Wie wahrscheinlich ist es Ihrer Meinung nach, dass sich der aktuelle Gaza-Krieg zu einem größeren regionalen Konflikt entwickeln wird? Oder sogar zu einem globalen Konflikt?
Die aggressive Rhetorik aller extremistischen Stimmen im Nahen Osten ist äußerst gefährlich. Israel hofft jedoch, dass sich der aktuelle Konflikt nicht auf die gesamte Region ausweitet und schon gar nicht zu einem globalen Krieg führt. Auch die USA und die EU haben kein Interesse daran, den Konflikt auf weitere Gebiete ausweiten zu lassen. Daher haben die Vereinigten Staaten dem Iran und seinen Stellvertreterorganisationen, einschließlich der Hisbollah, sehr scharfe und klare Botschaften übermittelt, dass sie sich nicht einmischen und eine weitere Front eröffnen dürfen. Andernfalls werden die USA eingreifen. Derzeit scheint die Nachricht angekommen zu sein. Die Welt muss verstehen, dass wir uns in einer Konfrontation zwischen der freien Welt und radikalen islamistischen Kräften befinden und dass eine Lösung nicht einfach sein wird.
Israel hatte enge Beziehungen zu Russland. Wie haben sich die Beziehungen im Laufe der Jahre verändert und was sind die Hauptfaktoren dafür?
Historisch gesehen waren die diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und der Sowjetunion oft über längere Zeiträume unterbrochen. Erst in den letzten Jahren der Sowjetunion konnten sie sich wieder etwas erholen. In den ersten Jahren nach der Auflösung der UdSSR mussten Israel und Russland ihre Beziehungen neu aufbauen, mit sehr optimistischen Erwartungen auf beiden Seiten. Als Jewgeni Primakow jedoch 1996 das Amt des Außenministers und später 1998 das Amt des Premierministers übernahm, verlagerte sich der Schwerpunkt Russlands auf die Stärkung seiner Beziehungen zu arabischen Ländern und nicht zu Israel.
Mit Wladimir Putin kam es zu einem weiteren Wandel. Während Putins ersten Amtsjahren blühten die Beziehungen zwischen Israel und Russland regelrecht auf. Putins gute Beziehungen zu Ariel Scharon und später zu Benjamin Netanjahu stärkten die persönlichen Beziehungen der Staats- und Regierungschefs beider Länder. Im Jahr 2015 führte die russische Militärintervention in Syrien zu einer Koordinierung der Sicherheitskräfte zwischen Israel und Russland.
Während des Krieges in der Ukraine versuchte Israel, eine neutrale Haltung beizubehalten, um zwei grundlegende Interessen zu wahren. Erstens, um die weitere operationelle Freiheit im syrischen Luftraum sicherzustellen, um gegen iranischen Streitkräfte vorgehen zu können und deren Expansion in Syrien und Waffenlieferungen an die Hisbollah zu verhindern. Zweitens, um das Wohlergehen der jüdischen Gemeinschaft in Russland zu sichern. Nach den Kriegsverbrechen in Butscha und Irpin verurteilte Israel diese Aktionen, versuchte aber dennoch, eine neutrale Position zu bewahren, um seine Interessen zu wahren. Die derzeitige Regierung unter der Führung von Netanyahu hielt an der Linie der Neutralität fest, doch die Ereignisse vom 7. Oktober stellen einen Wendepunkt dar. Während viele Staats- und Regierungschefs der Welt den mörderischen Angriff vom 7. Oktober verurteilt haben, hat Russland eine antiisraelische Linie eingeschlagen und verzichtet auf eine Verurteilung der Hamas.
Können Sie das Verhältnis Russlands zur Hamas charakterisieren? Welches Interesse hat Russland an diesem Krieg und was können wir von Moskau erwarten?
Die Beziehungen zwischen Russland und der Hamas waren nicht immer so eng wie heute. In den 90er Jahren und bis zum Sieg der Hamas bei den Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat 2006 verurteilte Russland die terroristischen Aktivitäten der Organisation. Sie bezeichnete ihre Mitglieder als militante Islamisten, Fanatiker und Extremisten. Das Verhältnis änderte sich dramatisch nach der Wahl, als Putin erklärte, dass die Organisation in einem demokratischen und legitimen Verfahren gewählt worden sei. Seit 2006 treffen sich Beamte des russischen Außenministeriums regelmäßig mit Hamas-Vertretern.
Derzeit besteht Moskaus Hauptziel darin, die Aufmerksamkeit des Westens von der Ukraine abzulenken. Die zunehmende Beteiligung der USA an Ereignissen im Nahen Osten dient diesem Ziel. Gleichzeitig macht Russland die USA für den Ausbruch des aktuellen Konflikts verantwortlich und strebt danach, seine Position als einflussreicher Akteur auf der internationalen Bühne wiederherzustellen.
Für die Hamas sind die Beziehungen zu Russland auch von Bedeutung, da sie den Eindruck erwecken, dass die Organisation in einer der wichtigsten Hauptstädte der Welt willkommen ist. Im Prinzip hält Moskau an seiner Position fest, dass die Hamas – die von den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich, Deutschland und anderen Mitgliedern der Europäischen Union als Terrororganisation gelistet ist – eine legitime politische Organisation sei.
Kommentare hochrangiger Hamas-Vertreter geben Aufschluss darüber, wie eng die Organisation mit Russland verbunden ist. In einem Interview mit Russia Today, einem staatlichen Medium, kommentierte beispielsweise am 8. Oktober der hochrangige Hamas-Beamte Ali Baraka, dass die Hamas Moskau kurz nach Beginn des Angriffs über den Angriff informiert habe. Als während des Krieges eine Delegation hochrangiger Hamas-Funktionäre Moskau besuchte, sagte Mousa Abu Marzook [Anm. d. Red. Mousa Abu Marzook ist Mitglied des Politbüros der Hamas und gilt als die Nummer zwei der Terrororganisation]: „Wir betrachten Russland als unseren engsten Freund.“ Nach dem Besuch dankte die Hamas Putin und dem russischen Außenministerium für ihre Bemühungen, „der israelischen Gewalt gegen das palästinensische Volk“ ein Ende zu setzen.
Es gibt Hinweise darauf, dass im Besitz der Hamas russische Waffen gefunden wurden, darunter Panzerabwehrraketen und Boden-Luft-Raketen, die offenbar über den Iran in den Gaza Streifen transportiert wurden – während Russland ein Auge zudrückte. Darüber hinaus behauptete Baraka im selben Interview mit Russia Today, dass Russland der Hamas eine Lizenz zur Herstellung einer eigenen modifizierten Version des Sturmgewehrs AK-47 (Kalaschnikow) und Munition zugeteilt habe. Der bewaffnete Flügel der Hamas nutzt russische Server. Auch an der wirtschaftlichen Front ist es offensichtlich, dass die Hamas stark auf den russischen Kryptomarkt angewiesen ist und Dutzende Millionen Dollar in digitale Geldbörsen transferiert, um US-Sanktionen zu umgehen. Ukrainischen Berichten zufolge half die Wagner-Gruppe bei der Ausbildung von Hamas-Terroristen.
Ende Oktober erklärte Putin, dass „das Schicksal Russlands und der ganzen Welt, einschließlich der Zukunft des palästinensischen Volkes, an der ukrainischen Front entschieden wird“. Durch die Verbindung der beiden Konflikte stellt er Russland eindeutig auf die Seite der Hamas und Israel auf die Gegenseite neben den USA und dem Westen. Damit hat Putin die Aussage von US-Präsident Joe Biden bestätigt, dass Russland und die Hamas einen Krieg gegen die Demokratie führen.
Viele bezeichnen die Hamas als Stellvertreter Irans. Sollte dieser Krieg als Stellvertreterkrieg zwischen Israel und dem Iran gesehen werden? Oder als ein Stellvertreterkrieg gegen den Westen?
Zweifellos bestehen enge Beziehungen zwischen der Hamas und dem Iran, die finanzielle Unterstützung und Waffenlieferungen umfassen. Die Beziehungen Irans zu seinen Stellvertreterorganisationen sind unterschiedlicher Natur. Während die Abstimmung der Hisbollah mit dem Iran nahezu alle Bereiche umfasst und auch auf religiösen Aspekten beruht, weist die Verbindung Irans mit der Terrororganisation Hamas einen besonderen Charakter auf. Unserer Einschätzung nach war der aktuelle Angriff der Hamas auf Israel eine eigenständige Entscheidung, der Iran war sich dieser Absicht jedoch zweifellos bewusst und unterstützte sie. Hamas führt zusammen mit Russland, dem Iran und seinen anderen Stellvertreterorganisationen einen Krieg gegen die Demokratie, die freie Welt und ihre Werte. Alle extremistischen islamistischen Elemente, die in den Gebieten westlicher Länder präsent sind, stellen eine Bedrohung für deren demokratische Zukunft und Werte dar. Daher kann die mangelnde Reaktion der Behörden in westlichen Ländern auf die Aktionen dieser islamistischen Extremisten schwerwiegende Folgen für die Demokratie und die Existenz der freien Welt haben.
Wie würden Sie die iranisch-russischen Beziehungen charakterisieren? Bilden sie eine stabile Allianz oder überschneiden sich ihre Interessen nur kurzfristig?
Durch den Krieg in der Ukraine sind die Beziehungen Russlands zum Iran zu einem strategischen Bündnis geworden. Um dieses zu schützen, hat Moskau eine Politik verfolgt, die den Verbündeten Irans, einschließlich der Hamas, wohlwollend gegenübersteht. Die Russische Föderation ist jetzt Teil einer „Achse des Bösen“, zusammen mit dem Iran, Nordkorea, der Hisbollah, der Hamas, dem Islamischen Dschihad und Anderen. Solange Putin die Kontrolle über Russland behält und das Regime der Ayatollahs fortbesteht, werden sich die Beziehungen zwischen Russland und dem Iran wahrscheinlich vertiefen. Diese Zusammenarbeit stellt eine existenzielle Bedrohung für Israel dar und untergräbt die Stabilität des gesamten Nahen Ostens. Der Westen muss hierzu klar Stellung beziehen.
Gibt es weitere Länder, von denen wir erwarten können, dass sie dieser neuen iranisch-russischen Allianz beitreten werden? Was sind Ihrer Meinung nach die treibenden Kräfte hinter dieser Allianz?
Nordkorea ist bereits der Achse Iran-Russland beigetreten, und Syrien ist natürlich auch Teil dieser Koalition. Die Motivation, die diese Länder dazu bewegt, sich dieser Achse anzuschließen, beruht auf antiamerikanischen und antiwestlichen Gefühlen. Diese „Achse des Bösen“ versucht, Demokratien zu untergraben und westliche Staaten zu destabilisieren.
Erwarten Sie angesichts der zentralen Rolle Irans in einer neuen antiwestlichen Allianz, dass Europa und die USA ihre Iran-Politik ändern werden? Halten Sie eine Wiederbelebung des Atomabkommens für wahrscheinlich?
Die Politik der westlichen Länder muss darin bestehen, iranische Atomwaffen um jeden Preis zu verhindern, da sie eine Bedrohung für die Existenz der freien Welt darstellen. Daher wird den europäischen und amerikanischen Staaten keine andere Wahl bleiben, als der Realität ins Auge zu sehen und zu verstehen, dass sie ohne eine Änderung ihrer Politik ihre Existenz als demokratische und aufgeklärte Nationen gefährden.