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Nahost-Konflikt
"Wenn Israel siegen will, muss es sich auf seine demokratischen, liberalen Ideale besinnen"

Ein Meinungsbeitrag von Oppositionsführer Yair Lapid
Oppositionsführer Yair Lapid

Oppositionsführer Yair Lapid.

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Abir Sultan

Vor weniger als drei Jahren, im März 2022, stand ich im Rahmen des Negev-Gipfels unweit von Ben-Gurions Grab auf dem Podium und schüttelte den Außenministern von Ägypten, Marokko, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und den USA die Hand. Wir unterzeichneten Vereinbarungen über die Gründung von regionalen Arbeitsgruppen und gemeinsame Joint Ventures. Israels Wirtschaft boomte, unsere militärische Macht war auf ihrem Höhepunkt. Es war ein Moment israelischer Stärke.

Vor gut einem Jahr, am 6. Oktober 2023, hielten Israels Feinde den Moment für einen Angriff auf das Land gekommen. Schwächer kann es kaum werden, sagten sie sich. Die Angriffe auf Israels Demokratie, die Justizreform, die Legitimierung des Kahanismus sowie Minister wie Itamar Ben-Gvir und Yariv Levin. Dazu ein Ministerpräsident, der sämtliche Warnungen missachtete.

Wieso haben Israels Feinde diesen Zeitpunkt für einen Angriff gewählt? Es war der Augenblick, an dem unser Staat weniger gesetzestreu und weniger liberal gewesen ist, an dem wir die in unserer Unabhängigkeitserklärung verankerten Werte weniger ernst genommen haben. Der Zeitpunkt des Massakers war nicht zufällig gewählt worden. Der schrecklichste und verheerendste Angriff in der Geschichte Israels erfolgte am demokratischen Tiefpunkt des Landes. Israels Abschreckungskraft hatte versagt.

Zu welchen Zeiten aber hat die israelische Abschreckung funktioniert? Wann haben unsere Feinde Israel als stark und mächtig – als ein Land gesehen, vor dem sie sich in Acht nehmen sollte? Noch vor knapp drei Jahren hielt die arabische Welt und der Westen Israel für unbesiegbar. Welches Israel hatten sie damals vor Augen?

Die Antwort ist klar. Sie sahen ein technologisch hoch entwickeltes Land. Sie hatten das Technion, Israels technologische Hochschule in Haifa und das Weizmann Institut für Wissenschaften in Rehovot vor Augen. Sie sahen das einzigartige, auf gemeinsamen Werten basierende Bündnis mit den Amerikanern, welches sich auch im Aufbau der militärischen Macht Israels niederschlug. Sie sahen die weltweit beste Luftwaffe und das erste Laser-Raketenabwehrsystem der Welt. Sie sahen eine von High-Tech geprägte Wirtschaft, die es Israel ermöglichte, seine Armee zu finanzieren und weiterzuentwickeln. Sie sahen eine starke, kreative und patriotische Mittelschicht, die jederzeit bereit war, dem Land als Reservisten zu dienen. Sie sahen ausländische Investitionen nach Israel strömen. Sie sahen das einzig wirklich funktionierende staatliche Modell auf der Welt: eine liberale Demokratie mit technologischer Überlegenheit.

Sie sahen auch ein Land, das nicht von Angst und Paranoia, sondern von Originalität, Mut und Optimismus geprägt war. Damals glaubten wir an uns selbst und aneinander. Infolgedessen glaubten auch sie an uns. Wir hielten Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit für die Quelle unserer inneren Stärke. Sie wiederum blickten auf uns und sahen, dass wir tatsächlich stark waren.

Die Quelle unserer Kraft

Unsere Feinde begreifen nur Stärke. Das ist ihre größte Schwäche. Wir dagegen begreifen uns als ein Land der Wissenschaft, Technologie, als ein Land mit internationalen Beziehungen und strategischem Denken. Wir haben eine Vision davon, wie das Land aussehen soll, in dem unsere Kinder in 50 Jahren einmal leben werden. Wir haben begriffen, dass Demokratien nicht nur besser, sondern auch stärker als radikale, messianische Theokratien sind. Deshalb bemühen wir uns, zu den kreativsten, liberalsten, wissbegierigsten und tolerantesten Länder der Welt zu gehören. Das ist die Quelle unserer Kraft. Eine andere gibt es nicht.

Der katastrophale Angriff auf Israel liegt nunmehr ein Jahr zurück, aber wir haben noch immer keine Lehren daraus gezogen. Das ist besorgniserregend. Noch immer sind Ben-Gvir, Bezalel Smotrich und die sie umgebende messianische Gruppe darauf bedacht, denselben Fehler zu wiederholen, der uns derart geschwächt hat, bis die Grundlage der israelischen Stärke erodierte. Ihrer Meinung nach müsse auch Israel die einzige Sprache sprechen, die im Nahen Osten verstanden werde. Sie reden davon, Atombomben auf Gaza abzuwerfen und Kinder verhungern zu lassen, da niemand in Gaza unschuldig sei.

Dieser Ansatz wird niemals funktionieren. Er schreckt weder die Hamas noch die Hisbollah ab. Er macht auch dem Iran keine Angst. Die einzigen, die vor dieser Rhetorik zurückschrecken, sind Israels Verbündete. Unsere Feinde dagegen lachen sich ins Fäustchen. Auch die BDS-Bewegung klatscht begeistert in die Hände, denn wir machen die Arbeit für sie. Iran, Terrororganisationen, Antisemiten auf TikTok und Universitätsgeländen könnten sich nichts Besseres wünschen. Ein Israel, das sich wie seine Feinde verhält, kommt ihnen mehr als gelegen.

Hassan Nasrallah wurde von technologisch hochentwickelter Munition getötet, die aus einem in den USA hergestellten Kampfflugzeug abgefeuert wurde, das von einem der Piloten geflogen wurde, die Likud Minister als „Anarchisten“ bezeichnen und die, wenn es nach ihnen ginge, „zur Hölle fahren“ sollen. Nun, sie sind zur Hölle geflogen, haben Nasrallah getötet und sind zurückgekehrt. Sie waren zur Stelle, als es darum ging, den einzigen Staat zu verteidigen, den das jüdische Volk besitzt. Das tun sie aus Liebe zum Land und aus der Überzeugung heraus, eine gute, gerechte Nation gegen religiöse Fanatiker zu verteidigen und nicht etwa im Namen des Fanatismus.

Diese Piloten kämpfen nicht für Israels Regierung, sondern für das Land. Aber diese Differenzierung wird nicht mehr lange greifen - weder international noch innerhalb der israelischen Gesellschaft. Eine Regierung, die Polizei, Gerichte, den Respekt vor Gesetzen und Menschenrechten außer Acht lässt, wird auch technologischen Vorsprung, internationale Unterstützung, Unternehmertum und Investitionen vernachlässigen – allesamt das Fundament der Stärke Israels.

Israels Stärke und Überlegenheit

In einem messianischen Israel, das „die Sprache des Nahen Ostens spricht“, wird es keine High-Tech-Industrie geben. Ein solches Israel wird keine F-35 von den Amerikanern erhalten, ein solches Israel wird nicht siegen. In solch einem Israel wird es nur Blutvergießen und Verluste geben. Bis nichts mehr übrig bleibt. Demokratie ist keine Schwäche. Demokratie ist eine Quelle der Kraft. Die Entscheidung zugunsten der Demokratie – die einzige im Nahen Osten – resultierte nicht etwa aus einer Unkenntnis unserer Region. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade weil wir verstanden haben, wo wir leben, haben wir uns für die Demokratie entschieden. Wir haben uns umgesehen und begriffen, dass radikale Kräfte, die auf die Vernichtung Israels abzielen, nur bezwungen werden können, wenn Israel das genaue Gegenteil von ihnen ist.

Hamas, Hisbollah, Iran, Syrien und Jemen sind deutlich besser als Israel darin, ignorant, rückständig und fanatisch zu sein. Für sie sind Religionskriege und Rachefeldzüge eine Selbstverständlichkeit. Wir sind deutlich besser darin, fortschrittlich, entwickelt und technologisch führend zu sein. Wir verstehen es, Allianzen mit den stärksten Ländern der Welt zu bilden. Wir wissen, wie man einen starken Staat und eine starke Gesellschaft aufbaut, die auf Werten wie Freiheit, Bürgerrechte und Chancengleichheit fußen. In so einer Verfassung kann Israel siegen, ohne dass seine Feinde auch nur eine Chance hätten.

Der Staat Israel wurde nach dem Holocaust geboren. Der Zionismus ist der größte Sieg der Hoffnung über die Verzweiflung. Wir sind nicht im Blutvergießen ertrunken. Wir haben unser Leben nicht mit Rache verschwendet. Vielmehr haben wir etwas Erstaunliches geschaffen, einen Staat errichtet und weiterentwickelt. Wir haben nicht bloß ums Überleben, sondern auch für die Werte gekämpft, die wir hochhalten. Das sollten wir auch weiterhin tun. Ein erster Schritt wäre eine neue Regierung, was die Rückkehr zu unseren Wurzeln, zu Zionismus, zu Liberalismus, zu Patriotismus und Demokratie ermöglichen würde. Das ist unsere Weltanschauung. Das sind unsere Werte. Nur so können wir siegen.

Dieser Artikel erschien erstmals am 8. Oktober 2024 in "The Jerusalem Post".