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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

#JetztMutMachen
Das deutsche Corona-Gefälle

Covid-19 hat die Nation sehr unterschiedlich getroffen. Darauf muss der Föderalismus Rücksicht nehmen.
Paqué
© Thomas Imo/photothek.net

Bundeskanzlerin Merkel hat in dieser Woche die Regierungen der Bundesländer gescholten, mit unterschiedlichen Ideen zur Öffnung des öffentlichen Lebens in die politische Diskussion zu gehen. Sie liegt damit falsch. Mehr regionale Differenzierung ist in der zweiten Stufe des Kampfes gegen Corona dringend geboten. So die Meinung von Professor Paqué, Vorstandsvorsitzender unserer Stiftung.

Merkwürdig! Es liegt offen zu Tage, aber kaum jemand redet davon: Seit Beginn der Corona-Krise gibt es ein klar erkennbares Gefälle in der Corona-Betroffenheit: von Süden nach Nordosten. Und es hat sogar noch deutlich zugenommen. Aktuell sind von den Flächenländern Bayern, Baden-Württemberg und das Saarland mit Abstand am stärksten betroffen; am wenigsten sind es Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein. Die Unterschiede sind gewaltig: Mecklenburg-Vorpommern hat gut 40 Infektionsfälle je 100.000 Einwohner, Bayern dagegen 300, also pro Kopf mehr als das Siebenfache. Fast alle Bezirke in Deutschland, die mit mehr als 500 Fällen je 100.000 Einwohner als wahre Hotspots der Pandemie gelten können, liegen in Bayern und Baden-Württemberg – mit einer einzigen Ausnahme: dem nordrhein-westfälischen Heinsberg, einem Sonderfall des lokalen Karnevals.

Übermittelte COVID-19-Fälle in Deutschland nach Landkreis und Bundesland (n= 148.046, 23.04.2020, 0:00 Uhr). Die Fälle werden nach dem Landkreis ausgewiesen, aus dem sie übermittelt wurden. Dies entspricht in der Regel dem Wohnort, der nicht mit dem wahrscheinlichen Infektionsort übereinstimmen muss.
Übermittelte COVID-19-Fälle in Deutschland nach Landkreis und Bundesland (n= 148.046, 23.04.2020, 0:00 Uhr). Die Fälle werden nach dem Landkreis ausgewiesen, aus dem sie übermittelt wurden. Dies entspricht in der Regel dem Wohnort, der nicht mit dem wahrscheinlichen Infektionsort übereinstimmen muss. © Robert Koch-Institut

Warum dies so ist, lässt sich an der Ausbreitung in der Frühphase der Pandemie zumindest im Ansatz erkennen: Die Skifahrer-Hochburgen im Süden (und in Hamburg, das im Februar Skiferien hat) holten sich das Virus im Osten Österreichs (Tirol!), im Nordosten Italiens (Südtirol!) und in den Skigebieten der Schweiz. Aus diesen drei Ländern – und nicht direkt aus China – kamen gut 80 Prozent der sogenannten Expositionen im Ausland. Der Norden und der Osten Deutschlands haben eben viel weniger Skiläufer, außer in seinen (wohlhabenden) Großstädten, die dann auch wie besonders Hamburg prompt hohe Infektionsraten aufwiesen.

Aber das ist Geschichte, die später einmal Medizinhistoriker aufarbeiten können, vielleicht auch mit einem Seitenblick auf die Ministerpräsidenten Baden-Württembergs und Bayerns, die viel zu spät die Gefahr erkannten und bekämpften. Politisch viel wichtiger ist die Frage: Was geschieht in naher Zukunft, wenn der Weg vorsichtig zurück gefunden werden muss in ein geregeltes normales Leben? Dafür gibt es inzwischen viele Vorschläge der „Smart Safety“, die generell das Ansteckungsrisiko überall vermindern können: die generelle Maskenpflicht in geschlossenen öffentlichen Räumen – zunächst umstritten, inzwischen vorgeschrieben; eine geringere Dichte bei Tischen und Stühlen in Biergärten und Restaurants; die Umgestaltung von Arbeitsplätzen mit Mundschutz und Mindestabständen, genauso wie dann auch bei Demonstrationen, Gottesdiensten sowie Kino- und Theateraufführungen, die möglichst ins Freie verlegt werden könnten; Höchstzahlen von Kindern auf Spielplätzen sowie eine Fülle von situationsgerechten Maßnahmen der Hygiene überall im öffentlichen Leben, von Geschäften bis zu Bibliotheken; und schließlich natürlich die Nutzung der digitalen Möglichkeiten des Tracking and Tracing, soweit es mit dem persönlichen Datenschutz vereinbar ist.

Es sind natürlich alles Vorschläge, die auf den Leitideen einer sachgerechten Abwägung der Verhältnismäßigkeit beruhen: zwischen der Sicherheit für die Gesellschaft und dem Grundrecht auf freie Lebensgestaltung. Sie sind absolut sinnvoll ab dem Zeitpunkt, an dem einigermaßen klar ist, dass die erste große Pandemie-Welle durch die allgemeinen und scharfen Maßnahmen unter Kontrolle ist. Diesem Zeitpunkt nähern wir uns überall, aber regional sehr unterschiedlich, wie die Karte der Infektionsdichte in Deutschlands klar macht. Es ist doch ganz offensichtlich, dass der Norden (und vor allem der Nordosten) deutlich früher zu einer Öffnung übergehen kann als der Süden. Es ist deshalb natürlich auch richtig, dass das Münchner Oktoberfest 2020 abgesagt wurde. Aber müssen deshalb Gaststätten und Biergärten, Hotels und Pensionen sowie Strände und Sportanlagen an den Nord- und Ostseeküsten Mecklenburg-Vorpommerns und Schleswig-Holsteins gleichfalls komplett geschlossen bleiben, wenn dort die Corona-Bedrohung ein Bruchteil dessen ist, was im Großraum München und Südbayern gemessen wird? Ließe sich nicht selektiv, Region für Region, Objekt für Objekt, eine Sicherheitsstrategie finden, die Risiken in Grenzen hält – bis hin zum Corona-Testen von einreisenden Touristen? Wollen wir wirklich in Kauf nehmen, dass die Lebensqualität und der Erholungswert an Nord- und Ostsee genauso leiden müssen wie an Chiem- und Ammersee? Wollen wir wirklich den gewerblichen Mittelstand der lokalen Wirtschaft im Norden und Osten in Geiselhaft des Südens nehmen?

Übermittelte COVID-19-Fälle der letzten 7 Tage in Deutschland nach Landkreis und Bundesland (n=14.537), 23.04.2020, 0:00 Uhr). Die Fälle werden nach dem Landkreis ausgewiesen, aus dem sie übermittelt wurden. Dies entspricht in der Regel dem Wohnort, der nicht mit dem wahrscheinlichen Infektionsort übereinstimmen muss.
Übermittelte COVID-19-Fälle der letzten 7 Tage in Deutschland nach Landkreis und Bundesland (n=14.537), 23.04.2020, 0:00 Uhr). Die Fälle werden nach dem Landkreis ausgewiesen, aus dem sie übermittelt wurden. Dies entspricht in der Regel dem Wohnort, der nicht mit dem wahrscheinlichen Infektionsort übereinstimmen muss. © Robert Koch-Institut

Auffallend ist bei der Diskussion, dass die sonst so lautstarken Protagonisten des Föderalismus aus dem wohlhabenden Süden der Republik keineswegs vorangehen und für regional differenzierte Lösungen plädieren. Bei Fragen des Finanzausgleiches war dies traditionell ganz anders. Sie sollten sich – genauso wie die Kanzlerin - möglichst schnell daran erinnern, dass nicht nur die Wirtschaftskraft unterschiedlich verteilt ist, sondern nun auch das Corona-Risiko. Das ist nicht nur ein Gebot der Klugheit im Umgang mit der Pandemie, sondern auch der föderalistischen Fairness.